11. Oktober 2024
Der derzeitige Krieg in Gaza ist ein neuer Tiefpunkt nach jahrzehntelanger Okkupation und Apartheid sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland. Im Interview spricht die israelische Journalistin Amira Hass über das Leben palästinensischer Menschen vor der aktuellen Eskalation.
Palästinenserinnen und Palästinenser gehen an Absperrungen vorbei am Qalandiya-Checkpoint zwischen Jerusalem und Ramallah im Westjordanland, 17. Januar 2019.
Der Alltag der palästinensischen Bevölkerung im Nahen Osten ist seit Langem von Besatzung, Apartheid und systemischer Gewalt geprägt. Tiefpunkt dessen ist die aktuelle Zerstörung Gazas. Schon vor der Eskalation nach den Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober 2023 war die Lebensrealität unter israelischer Besatzung ein schmerzhaftes Kapitel für die Palästinenserinnen und Palästinenser. In diesem Interview, das vor einem Jahr, kurz vor der Eskalation in Gaza geführt wurde, gibt die israelische Journalistin Amira Hass einen umfassenden Einblick in die Unterdrückungsstrukturen und brutalen Bedingungen, unter denen palästinensische Menschen in Israel, dem Westjordanland und Gaza seit Jahrzehnten leben.
Von Überfällen des israelischen Militärs und der Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur bis hin zum undurchschaubaren und korrupten System aus Arbeitserlaubnissen, Grenzschließungen und Straßensperren beschreibt Hass die israelische Kontrolle über die alltäglichsten Aspekte des Lebens. Sie zeigt, wie palästinensischen Menschen dazu gezwungen sind, sich in einem System zurechtzufinden, das letztlich darauf ausgelegt ist, sie zu entmenschlichen und zu enteignen.
Wie würdest Du den Alltag für palästinensische Menschen im besetzten Westjordanland beschreiben?
Nun, wie beschreibt man einen »normalen Tag« unter Besatzung und Siedlerkolonialismus, der sich tagtäglich verschärft? Wir sprechen hier nach wie vor von militärischer Besatzung; und die militärischen Anordnungen und die militärische Präsenz stehen im Dienste einer fortwährenden Landnahme und Enteignung.
Die individuelle Erfahrung kann von Ort zu Ort unterschiedlich sein, von einer Dorf- oder Hirten-Community in der »Zone C« über einen Ort im »B-Gebiet« bis hin zur Stadt. Nehmen wir Masafer Yatta, ein Gebiet, das in den 1980er Jahren zur »militärischen Übungszone« erklärt wurde. Seit Ende der 1990er Jahre – also auch in Zeiten der Osloer Abkommen – sind die Behörden vor Ort aktiv damit beschäftigt, die einheimische Bevölkerung direkt oder indirekt zu vertreiben.
Dies passiert praktisch jeden Tag. Wenig verwunderlich gibt es daher Widerstand: Die Menschen wollen unbedingt dort bleiben, wo sie, ihre Eltern und ihre Großeltern geboren wurden. Man wacht auf und geht schlafen mit der Gefahr, von Siedlern angegriffen zu werden oder dass die Armee das Zelt oder die Hütte oder das einfache Wassersystem zerstört, das die örtlichen Selbstverwaltungen – wir können hier von einer Art unbewaffnetem Volkswiderstand sprechen – installiert haben, und damit das israelische Verbot missachten, demnach Palästinenser dort nicht an die öffentlichen Netze angeschlossen werden sollen. Man lebt stets in Angst und mit dem Wissen, dass an jedem Tag etwas passieren könnte, das das eigene Leben erneut zerstört. Und wenn das passiert, dann steht man auf und fängt wieder von vorne an. Es ist ein stetiger, täglicher Kampf. Es gibt keine Ruhe.
»Niemand kann sich dieser Realität entziehen. Es herrscht permanente Unsicherheit.«
In den meisten Dörfern lassen sich drei israelische Praktiken beobachten, die den physischen und mentalen Freiraum der Palästinenser einschränken: Erstens die Gewalt von Siedlern gegen Dorfbewohner und Hirten, die seit Mitte der 90er Jahre stetig zunimmt und heute mit offener offizieller Billigung ausgeübt wird. Zweitens Hausdurchsuchungen des Militärs – sehr oft, um Menschen zu verhaften und einzuschüchtern, die es wagen, sich den eindringenden Siedlern zu widersetzen. Drittens die Bürokratie, mit der Bewirtschaftung oder Rückgewinnung des eigenen Landes erschwert und verhindert oder dieses Land offiziell enteignet wird. Um das vormals eigene Land jenseits der errichteten Mauern oder in der Nähe von [jüdischen] Siedlungen zu erreichen, ist eine israelische Genehmigung erforderlich. Eine solche Genehmigung ist auch erforderlich, um ein Wasserreservoir zu errichten, eine Hütte zu bauen oder auch nur Steine zu entfernen. Allerdings werden solche Genehmigungen viel häufiger verweigert als erteilt.
Nochmal zurück zu Punkt zwei: Razzien – mit all ihrem Tamtam, den dröhnenden Jeeps, Schüssen in die Luft und Blendgranaten, die die gesamte Nachbarschaft aufwecken – können jede Nacht stattfinden. Dies gilt vor allem für kleinere Dörfer und Flüchtlingslager, aber auch für städtische Wohngebiete. Nicht alle enden in direkten Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, aber viele. Mir hat einmal ein Ex-Soldat, der sich inzwischen der Organisation Breaking the Silence angeschlossen hat, erzählt, dass die Soldatinnen und Soldaten solche Hausdurchsuchungen mögen: Sie versprechen Adrenalin, Action, Spannung. Die Razzien, die in der Regel mit Hunden und Dutzenden maskierten Soldaten durchgeführt werden, können in einer Verhaftung enden. Ihr Zweck kann aber auch einfach Training für die Soldaten sein oder den Zweck haben, die Menschen einzuschüchtern oder für etwas abzustrafen.
Im Falle einer Verhaftung – sagen wir, ein Kind wird verdächtigt, Steine geworfen zu haben, oder ein Jugendlicher hat »hetzerische« Äußerungen auf Facebook oder Tiktok hinterlassen – wirkt sich dies auf die gesamte Familie in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten aus. Zuerst weiß man nicht, wo der Sohn ist. Dann geht man zum Militärgericht, wo er zunächst einem Militärrichter vorgeführt wird. Dann kommt er in Untersuchungshaft, dann in eine weitere, dann in eine weitere und schließlich zur Verlesung der Anklageschrift. In der Zwischenzeit hat die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) oder eine Menschenrechtsorganisation einen Anwalt organisiert, oder man wendet sich selbst an einen. Egal, wen man beauftragt: der oder die Anwältin wird vermutlich auf einen Vergleich pochen, um das Verfahren schnell beizulegen – denn ein »richtiges« Verfahren mit Beweisen und Zeugenaussagen würde wahrscheinlich dazu führen, dass Dein Sohn viel länger im Gefängnis bleibt, als es die eigentliche Strafe vorsieht. »Schwerwiegendere« Verdächtigungen können jahrelanges Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft, Sorgen und Sehnsucht, zahllose Treffen mit Anwälten, monatliche Gefängnisbesuche oder den Tod der Eltern während der Inhaftierung ihrer Kinder bedeuten.
Das Leben spielt sich ständig in und mit den israelischen Machtinstitutionen ab. Man lernt ihre Vertreter auf überaus intime Weise kennen: Das ist nicht abstrakt; man ist immer in der Nähe von Soldaten oder einem Agenten des [israelischen Inlandsgeheimdienstes] Schin Bet. Und: Razzien haben eine wellenartige Wirkung, die Menschen über die individuell betroffene Familie hinaus berührt. Es scheint immer etwas zu drohen, vom Schlafengehen über das Schlafen bis hin zum Aufwachen, auf der Arbeit oder in der Schule. Diese mächtigen und offensichtlich feindlich gesinnten Institutionen sind immer präsent.
Die Städte bieten eine Art »eingeschränkten Urlaub« von der Besatzung, würde ich sagen. In einer Entfernung von zwei Kilometern von einer Siedlung, vielleicht vier Kilometern von der Mauer und 1200 Metern von einem Militärlager oder einem Kontrollpunkt kann man tatsächlich den Alltagsaufgaben nachgehen und sich dabei für ein paar Stunden vormachen, man sei frei: Da arbeitest Du in der schicken Anwaltskanzlei oder einem Hochhausbüro, sitzt in einem Café, plauderst und lachst, planst vielleicht ein Fest, eine Hochzeit, schlenderst entspannt von der Schule nach Hause oder kommst vom Markt zurück. Das gibt es so nicht nur in Ramallah, sondern in allen Städten und größeren Ortschaften, sogar in Hebron – zumindest in dem Teil, der jenseits der Kontrollpunktkette und abgeriegelten Straßen liegt, die die Stadt von der alten historischen Altstadt trennen. Hier gibt es wirklich die Möglichkeit, seine Gedanken für ein paar Stunden von dieser übergriffigen Fremdherrschaft abzulenken.
»Die Leute hier haben aus gutem Grund und aus Erfahrung immer Angst, dass sich die Lage verschlechtert. Ebenso gibt es viel Trotz: Die Menschen wollen ihr Leben weiterführen und sich nicht nur als Opfer der Unterdrückung sehen.«
Aber wenn man solche Enklaven verlässt, passiert man einen Kontrollpunkt, trifft auf Soldaten, geht an Überwachungskameras vorbei. Manchmal muss man einen Umweg nehmen, weil der direkte Weg zum Heimatdorf durch eine Militärsperre abgeriegelt ist. Dann gibt es die besagten nächtlichen Razzien und Verhaftungen und natürlich die Nachrichten... Jeder hört und sieht Nachrichtensendungen: Man weiß, was in Dschenin und Masafer Yatta passiert, wie viele Olivenbäume schon wieder abgebrannt und Abrissbefehle erteilt wurden.
Niemand kann sich dieser Realität entziehen. Es herrscht permanente Unsicherheit. Und es herrscht ständige Wut, ohne echtes Ventil. Beziehungsweise: Wenn man ein Ventil wählt, verbessert das nichts. Man lebt die ganze Zeit mit einem Gefühl enormer Ungerechtigkeit.
Diese Ungerechtigkeit mag alltäglich sein, aber die Menschen gewöhnen sich nie daran. Die Wut brodelt in einem, ohne dass es einen Ausweg gibt. Diejenigen, die ihre Wut zeigen, indem sie einen Israeli töten (oder versuchen, einen zu töten), oder die von größeren bewaffneten Operationen gegen Soldaten oder auch Zivilisten träumen, drücken zwar diese allgemein gespürte Wut aus. Solche Ausbrüche werden aber weder den Siedlerkolonialismus an sich beenden, noch seine Ausbreitung aufhalten.
Man kann der Besetzung nicht entfliehen?
Ganz genau! Sie wirkt in jedem kleinsten Detail. Ein Beispiel: Ein Freund von mir ist Touristen-Guide. Es gibt immer wieder Probleme und Verzögerungen, wenn ausländische Gäste ihn bezahlen wollen, beispielsweise über US-Banken auf sein Konto bei einer palästinensischen Bank. Denn alle internationalen Banken haben Angst vor dem Verdacht der »Terrorfinanzierung«. Deswegen nutzt er stattdessen mein Konto bei einer israelischen Bank. Wenn er etwas per Post aus dem Ausland erhalten möchte, gibt er ebenfalls meine Postfachadresse in Jerusalem an, da gewöhnliche Post in die palästinensischen Gebiete unter der Aufsicht israelischer Beamter befördert werden muss: Das wird sowohl von den israelischen Beamten als auch von den Postangestellten der PA stiefmütterlich behandelt, sodass man durchaus mal ein Jahr auf sein Paket oder seinen Brief warten kann. Nicht jeder kann sich private Zustelldienste leisten.
Ein weiteres Beispiel: Als die PA [im Jahr 2020] die zivile und sicherheitspolitische Koordination mit Israel einfror, wurden Führerscheine, die in diesen Monaten abliefen, nur noch von der PA erneuert. Derartige Änderungen müssen aber eigentlich in israelischen Computern und Datenbanken registriert werden, um außerhalb der A+B-Enklaven gültig zu sein. Wenn ein israelischer Polizist nun also Deinen Führerschein auf einer der Hauptverbindungen im Westjordanland – sprich im C-Gebiet, das unter vollständiger israelischer militärischer und ziviler Autorität steht – kontrolliert, würde er vermutlich eine Geldstrafe verhängen und Dir verbieten, das Auto weiterzufahren. Ich weiß nicht, wie oft das tatsächlich passiert ist, aber ein hochrangiger Beamter der Palästinensischen Autonomiebehörde hat mir von diesem Problem berichtet und war offenbar sehr verärgert darüber.
Ich habe immer Angst, meine Gesprächspartnerinnen, Leser oder Zuhörerinnen mit zu vielen Details und Anekdoten zu langweilen, aber ich weiß nicht, wie ich diese abnormale Lebensrealität der Menschen besser beschreiben soll. Nehmen wir zum Beispiel die Stromversorgung im Gazastreifen: Sie erfolgt in allen Gebieten in Schichten, und immer nur für einen Teil des Tages. Der Grund dafür ist nicht nur die israelische Besatzung, sondern auch der Streit zwischen den beiden palästinensischen »Regierungen« – also der Hamas und der PA – um Geld, Rechnungen und Zahlungen. In Gaza gibt es viele Wohnhochhäuser. Die Menschen planen ihren Feierabend oder den Besuch bei der Familie in solchen Gebäuden entsprechend den Betriebszeiten des Aufzugs!
Eine junge Freundin, eine Standup-Comedienne, hat mir einmal erzählt, dass die Etage einer Wohnung zu einem der Kriterien geworden ist, anhand derer entschieden wird, ob man jemandem einen Heiratsantrag macht. Das ist natürlich übertrieben und ein Witz. Ernst wurde es aber, als sie mir erzählte, wie sie stundenlang eingeschlossen ist, wenn der Aufzug nicht funktioniert: Sie hat kaputte Knie und deshalb Schmerzen beim Treppensteigen. Wenn Fliegeralarm ist und ein israelischer Bombenangriff drohen könnte, muss sie sich entscheiden: sich die Treppe hinunterquälen oder ängstlich in der Wohnung sitzen bleiben. Ein alter Freund sagte mir vor langer Zeit: »Früher sprachen wir über den Kampf für Freiheit und ein Ende der Besatzung – jetzt machen wir uns Sorgen um den Aufzug und die Stromausfälle.« Das stimmt; und ich würde hinzufügen: Ebenso gibt es Sorgen über lange Wartezeiten, nicht ausgestellte Ausreisegenehmigung für eine medizinische Behandlung in Amman oder Ramallah oder die fehlende Erlaubnis, Ersatzteile für eine veraltete Kläranlage einzuführen.
Die Leute hier haben aus gutem Grund und aus Erfahrung immer Angst, dass sich die Lage verschlechtert. Ebenso gibt es viel Trotz: Die Menschen wollen ihr Leben weiterführen und sich nicht nur als Opfer der Unterdrückung sehen. Während der extremen Abriegelung von Städten und Dörfern zu Beginn der 2000er Jahre legten Lehrerinnen und Lehrer lange Strecken über die Berge zu Fuß zurück, um in ihre Schulen zu kommen. Meine Freundin in Nablus war schwanger, als sie tagtäglich diese Wege ging. Ebenso gehen Kinder zur Schule – allein oder in Gruppen, aber nicht in Begleitung der Eltern. Jeden Moment kann ein Militärjeep vorbeifahren, oder in gewissen Gebieten kann eine Gruppe von Siedlern provozieren oder auch angreifen. Solche Gefahren gibt es, aber um der Vernunft und Normalität willen müssen die Eltern diese Angst überwinden und die Kinder allein gehen lassen.
Und dann ist da natürlich die Wut. Auch ich weiß manchmal nicht, wohin mit meiner Wut – Zeitungsartikelschreiben reicht nicht immer. Und dann stell’ Dir mal normale Palästinenserinnen und Palästinenser vor, die mit Botschaften dieses Regimes bombardiert werden, laut denen sie nicht nur minderwertig, sondern vernachlässigbar – also egal und entbehrlich – sind.
Viele palästinensische Arbeiterinnen und Arbeiter, beispielsweise aus Dörfern in den Bergen südlich von Hebron pendeln zur Arbeit nach Israel. Wie sieht ihr Alltagsleben aus; dieses Leben mit ständigem Warten an den Grenzposten?
In Israel zu arbeiten ist der Wunsch vieler – sehr vieler – Menschen, denn der Mindestlohn in Israel ist fast dreimal so hoch wie der palästinensische Mindestlohn (den viele Chefs ohnehin nicht zahlen). Das Gehalt eines Bauarbeiters in Israel liegt über dem Mindestlohn. Doch das Risiko von Arbeitsunfällen und Todesfällen unter Bauarbeitern ist sehr hoch; tatsächlich mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnitt der OECD-Länder (elf Todesfälle pro 100.000 Beschäftigte in Israel gegenüber fünf in allen OECD-Ländern).
Das ist nicht unbedingt überraschend: Mehr als die Hälfte der Bauarbeiter sind Palästinenser (entweder Bürger Israels oder Menschen aus den besetzten Gebieten von 1967; letztere machen etwa zwei Drittel der gesamten Arbeiter aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen in Israel aus). Dies ist einer der Hauptgründe, warum Unternehmen und Auftragnehmer nicht sonderlich viel Druck verspüren, die Sicherheitsmaßnahmen zu verbessern beziehungsweise zu maximieren. Ich werde nie den Mann in Rafah vergessen, der mir während einer der israelischen Invasionen in der Stadt und ins Flüchtlingslager 2004 in perfektem Hebräisch sagte: »Wir Palästinenser haben eure Häuser in Israel gebaut, jetzt kommt Israel und zerstört unsere.«
Ebenso verlassen junge palästinensische Polizistinnen und Polizisten die Behörde, um in Israel zu arbeiten – oder sie arbeiten dort an ihren freien Tagen. Das habe ich von einem linken Aktivisten gehört, der für ein paar Tage von der PA inhaftiert wurde und sich mit seinem jungen Gefängniswärter angefreundet hatte. Es geht dabei nicht nur ums Gehalt: Die Arbeitsmöglichkeiten für Tausende Hochschulabsolventen sind in den palästinensischen Gebieten rar.
»In den frühen 1990er Jahren gab es durchaus Hoffnung, dass Israel einen Prozess der internen Demokratisierung einleiten könnte, wobei auch seine palästinensischen Bürgerinnen und Bürger stärker einbezogen werden würden.«
Darüber hinaus setzen der IWF und die Weltbank die PA unter Druck, die Zahl der Angestellten im öffentlichen Dienst zu reduzieren. Diese erhalten seit November 2021 übrigens nur 80 bis 85 Prozent ihrer ohnehin niedrigen Gehälter, weil Israel regelmäßig Teile der palästinensischen Einnahmen, die unter seiner Kontrolle stehen, stiehlt. In 62 Prozent des Westjordanlandes kann es keine genuin palästinensischen Investitionen geben – denn diese Gebiete werden von Israel kontrolliert und Israel erlaubt keine palästinensische Entwicklungsarbeit. Hier geht es nicht um Investitionen im neoliberalen Sinn dieses Wortes, sondern um humanitäre Anliegen: Der Bau einer regionalen Schule, zum Beispiel, die Planung und Gestaltung, die Zuweisung von Land für Solarmodule, die erlaubte Entfernung zwischen Industriegebieten und Wohngebieten, die Rückgewinnung von Brachland für die Landwirtschaft oder für ein neues Stadtviertel oder einen Bauernhof – all dies ist weitgehend verboten oder wird ignoriert. Das trägt natürlich zu einem Mangel an Arbeitsplätzen bei. Und hier reden wir noch nicht einmal über die Blockade des Gazastreifens, dessen Beteiligung an der palästinensischen Wirtschaft fast vollständig zum Erliegen gekommen ist.
Die Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens sind für ihre Kreativität bekannt und haben unter anderem viele Computerfachleute hervorgebracht. Theoretisch könnten sie für internationale Unternehmen arbeiten und die digitale Wirtschaft weiterentwickeln. Doch Israel limitiert den Import von Informations- und Kommunikationstechnologie und schränkt die Frequenzzuweisung ein, die in Gaza 2G und im Westjordanland 3G beträgt. Diese schlechten Verbindungen wirken sich natürlich negativ aus, obwohl es die besagten Tech-Talente gibt.
Es gab zwei oder drei goldene Jahre, in denen die Armee ein Auge zudrückte und Tausende von Arbeiterinnen und Arbeiter durch »Schlupflöcher« im Trennungszaun im Westjordanland [nach Israel] kamen. Ich weiß noch, wie sich palästinensische Arbeitgeber im Westjordanland beschwerten, weil sie beim Lohn einfach nicht konkurrenzfähig waren und keine Arbeitskräfte finden konnten.
Diese »Löcher« im Zaun sind nicht nur von Vorteil für Menschen ohne Einreisegenehmigung, sondern auch für die mit gültiger Genehmigung gewesen, die sich einfach die Tortur am Kontrollpunkt und Wartezeiten ersparen wollen. Während palästinensische Städte und Dörfer noch schlafen, herrscht an den Kontrollpunkten nach Israel schon reges Treiben, da die Menschen nach Westen zu Baustellen, Fabriken, Feldern, Gewächshäusern oder auf der Suche nach Arbeit strömen. Die Leute verlassen ihre Häuser um 3 oder 4 Uhr morgens, erreichen den Kontrollpunkt eine Stunde vor dessen Öffnung und stehen in einer riesigen Schlange. An jedem Kontrollpunkt stehen Tausende von Menschen; Menschen im Alter von 24 bis 70 Jahren, vielleicht älter, die Tag für Tag um 18 Uhr oder später nach Hause zurückkehren. Und jeden Tag wechseln sie von den Bedingungen der Dritten Welt in die der Ersten Welt und zurück. Tausende, vor allem diejenigen, die keine offizielle Arbeitserlaubnis haben, bleiben in israelischen Städten, manchmal schlafen sie sogar auf den Baustellen selbst, und kehren nur alle paar Monate nach Hause zurück.
Es gibt einen florierenden Schwarzmarkt für Arbeitserlaubnisse, von dem israelische Arbeitgeber und israelische sowie palästinensische Mittelsleute profitieren. Ein Arbeiter zahlt zwischen 2.000 und 2.500 Schekel pro Monat – ob er arbeitet oder nicht. Etwa ein Drittel der palästinensischen Arbeiterinnen und Arbeiter zahlt diese »Abgabe«. Eine regelrechte Armee anonymer Vermittler bereichert sich so. Trotz israelischer Versprechen, die Schlupflöcher im System zu schließen, die diesen Schwarzmarkt ermöglichen und fördern, besteht er weiterhin und hat sogar Gaza erreicht, wo etwa 18.000 Menschen nun zum ersten Mal seit 2005 offiziell die Erlaubnis erhalten haben, in Israel zu arbeiten.
Diejenigen, die in Israel arbeiten, können sich dennoch glücklich schätzen. Mit ihren Gehältern und Ersparnissen können sie nicht nur Lebensmittel und Rechnungen bezahlen, sondern auch ihre Kinder auf die Universität schicken. Sie können ein weiteres Stockwerk auf das alte Familienhaus bauen, vielleicht ein Unternehmen gründen oder sich besser um ein krankes Familienmitglied kümmern. Dennoch ist der Preis hoch, in jeder Hinsicht.
Denn Arbeit ist in israelischen Augen eine Form des Privilegs, das schnell als Druckmittel genutzt werden kann. Ob es sich um ein Dorf handelt, das kollektiv gegen eine neue Siedlung protestiert, um Bewohner des Gazastreifens, die entlang der Grenze demonstrieren, oder um ein Mitglied einer Großfamilie, das angeblich an einem Angriff auf Israelis beteiligt war – die Arbeitserlaubnis des ganzen Dorfes oder der Familienmitglieder kann widerrufen und die Ausreise aus dem Gazastreifen verweigert werden. Dies ist seit Jahrzehnten gängige Praxis. Ich würde von »institutionalisierter Erpressung« sprechen.
Aber ich sehe auch ein gewisses Selbstvertrauen oder Selbstachtung, die mit der Arbeit einhergeht. Man schafft sich die Möglichkeit, neue Wege für sich selbst oder seine Kinder einzuschlagen. Ein weiterer Nebeneffekt ist, dass diese Arbeiterinnen und Arbeiter die israelische Gesellschaft von einer Seite kennenlernen, die sehr viel diverser und vielfältiger ist als die, die im Westjordanland in Form von Siedlern und Soldaten und gerade in Gaza von Bomberpiloten erlebt wird.
»Die Situation mit zahlreichen palästinensischen Enklaven wurde in den vergangenen 30 Jahren sorgfältig aufgebaut und geformt.«
Als Arbeiterinnen und Arbeiter lernen diese palästinensischen Menschen Israelis als säkular und orthodox, arm und reich kennen. Sie lernen sie als geizige oder betrügerische Arbeitgeber kennen – aber auch als freundliche und faire, als gleichgültige, misstrauische oder freundliche. Ich würde sagen, dass diese Arbeiter dadurch wohl mehr über ihre israelischen Nachbarn wissen als viele palästinensische Akademiker, die sich auf Bücher, Zeitungen und Theorien stützen.
Der israelischen Besatzung von palästinensischen Gebieten wurden viele Namen gegeben: Siedlerkolonialismus, (langsame) Staatsgebietsausweitung, Apartheid oder auch »Jewish Supremacy«. Welcher Ausdruck beschreibt die Lage Deiner Meinung nach am besten?
Vermutlich ein Hybrid aus all dem. Die Hauptdynamik ist und war aber schon immer der Siedlerkolonialismus, dessen eskalierende Gewalt gut organisiert und geplant ist.
In den frühen 1990er Jahren, nach der ersten Intifada, gab es durchaus Hoffnung, dass Israel sich von seinem siedlerkolonialen Charakter in den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten lösen und einen Prozess der internen Demokratisierung einleiten könnte, wobei auch seine palästinensischen Bürgerinnen und Bürger stärker einbezogen werden würden. Diese Hoffnung – wenn auch sehr anders formuliert – teilten auch die Rebellen der ersten Intifada, die palästinensischen Bürgerinnen und Bürger Israels sowie viele Friedensaktivisten, die zu dieser Zeit aktiv waren. Man ging davon aus, dass die internationale Gemeinschaft den Prozess unterstützen und sicherstellen würde, dass Israel die Bedingungen eines Friedensabkommens einhält. Stattdessen hat Israel seine Siedlerkolonialpraktiken unter dem Deckmantel eines Friedensprozesses aber verfestigt.
Es gab schon immer eine »inoffizielle« Seite des Ganzen. Aktionen der Siedlerbewegung, bei denen der regulär-bürokratische Weg umgangen wird, wurden oftmals »weißgewaschen«, man könnte sagen: »koscher gemacht«. Offizielle Landnahmen per Militärdekret haben zum Diebstahl noch deutlich größerer Gebiete geführt als diese quasi-privaten Initiativen. In den vergangenen zehn Jahren haben wir aber auch einen qualitativen Sprung erlebt: Gut organisierte, hochfinanzierte Siedlerbewegungen nehmen jetzt Hunderttausende von Dunam [eine lokale Flächeneinheit, die etwa 900 Quadratmetern entspricht] in Besitz, indem sie mithilfe gewalttätiger, offen rassistischer, messianischer Privatmilizen Farmen errichten. Diese zunehmende Gewalt wurde von offizieller Seite immer toleriert. Das ist kein Zufall und auch kein Zeichen von Schwäche. Es ist ein Signal [an die radikalen Siedler], weiterzumachen.
Diese ungezügelte, privatisierte Gewalt hat Erfolg, wo die offizielle Gewalt bei der Vertreibung von Gemeinschaften aus großen Gebieten gescheitert ist. In weniger als drei Jahren wurden etwa zwei Dutzend [solcher palästinensischen Communities] vertrieben. Es gibt eine Whatsapp-Gruppe, in der Echtzeitberichte über die Aggressionen der Siedler ausgetauscht werden. Es ist wirklich schmerzhaft, darin zu lesen. Alle ein bis zwei Stunden gibt es Berichte über Belästigungen: Siedler vertreiben palästinensische Hirten von den Hügeln, schießen in die Luft, um Bäuerinnen und Bauern zu verschrecken, oder waschen sich in Dorfquellen, während Soldaten sie mit Tränengas und Blendgranaten schützen – und dabei die Felder noch mehr beschädigen. Da es nicht zu Todesopfern oder größeren Sachschäden kommt, schaffen solche Vorkommnisse es nicht in die Nachrichten. Doch ehrlich gesagt: Selbst wenn sie das täten, würde es etwas ändern?
Um auf Deine Frage nach Ausdrücken oder Definitionen zurückzukommen: Apartheid ist eine »fortgeschrittene« Stufe des Siedlerkolonialismus, bei der die eigentlich indigene Bevölkerung eine gewisse, selbstverständlich untergeordnete, Rolle im Gesamtsystem spielt: Sie werden in Statistiken erfasst und für die Wirtschaft gebraucht. Ich würde sagen, dass wir uns aber derzeit in einer Phase befinden, in der die indigene Bevölkerung hingegen als völlig überflüssig und entbehrlich angesehen wird. Das israelische Statistikamt bezieht sie beispielsweise nicht in seine Berichte ein – wohl aber die Siedler, die keine hundert Meter entfernt leben. Die Gewinne und Einnahmen hingegen, die in Siedlergebieten, im israelischen Tourismus, mit den Straßen im Westjordanland und durch modernisierte Stromnetze generiert werden, sind alle in den Wirtschaftskalkulationen Israels enthalten.
Noch krasser ist die Situation mit Blick auf die Überwachungs- und Waffenindustrie. Deren Produkte wären ohne das »Testgelände« und die Testsubjekte in Form der palästinensischen Bevölkerung nicht so profitabel als Exportware. Die Einnahmen, die diese Branchen generieren, werden berechnet und in Berichten aufgeführt. Die Palästinenser, die als Versuchskaninchen benutzt werden, hingegen nicht.
Die Situation mit zahlreichen palästinensischen Enklaven wurde in den vergangenen 30 Jahren sorgfältig aufgebaut und geformt. In der Westbank finden sich zahlreiche »Mini-Gazastreifen«. In diesen Enklaven wird die palästinensische Bevölkerung zusammengezogen, ihr werden Natur, Land, Quellen und Lebensraum entzogen. Ich würde behaupten, diese palästinensischen Enklaven sind Israels innerer Kompromiss zwischen dem Wunsch, die Palästinenser einfach verschwinden zu lassen, und der Einsicht, dass wir sie nicht einfach vertreiben können, wie wir es 1948 getan haben. Sehr ähnlich ist es bei den palästinensisch geprägten Dörfern und Städten in Israel, die 1948-50 nicht entvölkert und zerstört wurden. Deren Land wird ebenfalls für neue jüdische Städte, Siedlungen und Vororte enteignet.
»Die Zivilverwaltung des israelischen Militärs, eine hybride Behörde, die militärische und zivile Aufsicht unter dem Befehlshaber der Armee und dem Verteidigungsministerium vereint, wurde Anfang der 1980er Jahre gegründet, um ›der palästinensischen Zivilbevölkerung zu dienen‹. In Wirklichkeit erleichtert sie Kolonisierungstätigkeiten.«
Das Terrorisieren von Bauern- und Hirtengemeinschaften, um sie aus dem Westjordanland zu vertreiben, geschieht seit Ende der 1990er Jahre systematisch. Die Anführer der radikalen Siedler haben vor Jahren erkannt, dass reine Wohnsiedlungen einfach nicht genug palästinensisches Land verschlingen würden. Die Landwirtschaft, kombiniert mit militärischen Anweisungen und Gewalt, brauchte hingegen weniger Menschen und war daher ein besseres Instrument für Land- und Wasserraub. Doch auch die Landwirtschaft erfordert Menschen und ist nicht ausreichend für die unbefriedigte Gier nach palästinensischem Boden. In den letzten 10 oder 15 Jahren wurde daher ein anderes Instrument perfektioniert: hebräische Hirten. Es gibt dabei ein klares Muster. Das deutet darauf hin, dass es ein regelrechtes Netzwerk, finanzielle Quellen, Organisatoren und vor allem eine langfristige Planung hinter den Kulissen gibt. Junge Paare oder alleinstehende Männer, oft Siedler der zweiten Generation, beginnen mit einer bescheidenen Herde und errichten Zelte nur wenige Kilometer von einer bestehenden palästinensischen Kommune entfernt, ohne dass es dafür eine offizielle Genehmigung zu geben scheint. Zusätzliche Freiwillige oder Mitglieder rechter Milizen hüten dann die Schafe oder Kühe und wenden auch Gewalt an, um das so erbeutete Land zu »verteidigen«.
1991 hast Du mit Blick auf die Bewegungsfreiheit palästinensischer Menschen erstmals über das Wort »Closures« geschrieben; also in etwa »Einschließen« oder »Sperren«. Mit der Zeit wurden diese Einschränkungen immer häufiger angewendet und sind systemisch geworden. Hättest Du damals gedacht, dass die Closures zum wichtigsten Herrschaftsinstrument Israels werden könnten?
»Closure« ist im Prinzip ein Kürzel für eine Politik, mit der die seit Anfang der 1970er Jahre geltende Herangehensweise im Grunde auf den Kopf gestellt wurde. Bis in die 1990er respektierte Israel weitgehend das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser auf Freizügigkeit zwischen den Flüssen und dem Meer. Nur bestimmte Gruppen – vor allem politische Aktivisten – sahen sich Einschränkungen gegenüber. Seit 1991 ist es aber umgekehrt: Allen palästinensischen Menschen wurde das Recht auf Freizügigkeit entzogen, mit Ausnahme einiger ausgewählter Gruppen, die nach israelischen Kategorien festgelegt werden. Die israelischen Behörden entscheiden, wer für Durchfahrtgenehmigungen berechtigt ist, wie viele Genehmigungen erteilt werden und wann und wo diese gelten.
Damals lebte ich in Gaza und kannte die Situation im Westjordanland nicht besonders gut, aber ich hatte das Gefühl, dass auch Gaza als Testgelände oder Labor für eine solche Politik genutzt wurde. Dieses »Einschließen« ist das bürokratische und logistische Gegenstück zur physischen Beschlagnahme von Land.
Ein weiteres unverzichtbares Nebenprodukt des Systems ist das Rauben von Zeit: Man wartet auf eine Genehmigung, um beispielsweise an einem Treffen in Ramallah teilzunehmen, zu arbeiten oder sich medizinisch behandeln zu lassen, und weiß oft nicht, ob oder wann sie erteilt wird. Man wartet an Kontrollpunkten, braucht Stunden für eine Fahrt- oder Gehstrecke, die eigentlich fünf Minuten dauern sollte. Einfach, weil man in bestimmte Gebiete nicht einreisen darf oder weil die direkte Straße abgesperrt ist.
Die Zeit der Kolonisierten ist in den Augen des Hegemon immer zweitrangig. Das ist keine israelische Erfindung. Auch die Sowjetbürokratie disziplinierte beispielsweise die Menschen, indem sie ihre Zeit kontrollierte. Doch hier wird der Zeitraub zur Kunstform erhoben – es ist eine unsichtbare, kumulierte Gewalt, die gerne als milde-zurückhaltende Reaktion auf den »Terror« gesehen wird, was natürlich eine Lüge ist. In den 1970er Jahren legten Palästinenser Bomben in israelischen Städten, aber niemand hinderte sie daran, täglich mit ihren Autos nach Israel zu fahren. Das heutige Warten auf eine Genehmigung zum Bauen oder Pflanzen hat hingegen nichts mit Sicherheit zu tun.
Gestohlenes Land kann eines Tages zurückgegeben werden. Bei gestohlener Zeit ist das nicht möglich. Ich vermute, dass der Zeitraub nicht nur ein Nebenprodukt [der Besatzung], sondern eine bewusste, kalkulierte Unterdrückungsmaßnahme ist.
Dies ist tief im System und in denjenigen verwurzelt, die darin arbeiten. Die Zivilverwaltung des israelischen Militärs, eine hybride Behörde, die militärische und zivile Aufsicht unter dem Befehlshaber der Armee und dem Verteidigungsministerium vereint, wurde Anfang der 1980er Jahre gegründet, um »der palästinensischen Zivilbevölkerung zu dienen«. In Wirklichkeit erleichtert sie Kolonisierungstätigkeiten. Diese hybride Situation sorgt für Verwirrung. Eine Behörde schickt Dich zur Lösung eines Problems an eine andere und so weiter. Ich habe einen Freund begleitet, dem die Einreiseerlaubnis entzogen wurde. Wir wurden von einem Soldaten zum nächsten geschickt, von einem Büro zum anderen, und jeder sagte, er sei nicht dafür zuständig. Dass man seine Zeit verschwendet, verwirrt wird oder sich selbst inkompetent fühlt – all das ist Teil des Systems.
Du hast über diese Verwirrung auch mit Blick auf Gaza und seine physische Trennung von den anderen palästinensischen Gebieten im Westjordanland geschrieben.
Ja, und schon früh wurde mir klar, dass das System der »Enklave Gaza« auch im Westjordanland kopiert werden sollte. Ich fühlte mich damals wie ein Genie, eine Wahrsagerin, als ich den Prozess mit den Sätzen zusammenfasste, es gehe hier nicht mehr um eine Zweistaatenlösung: »Es ist eine Siebenstaatenlösung.« Einige Jahre später führte ich für Haaretz ein Interview mit dem ehemaligen Geheimdienstoffizier Mordechai Kedar, in dem dieser tatsächlich auch eine »Lösung« mit sieben Stadtstaaten im Westjordanland prophezeite. Jedes dieser Emirate sollte von den örtlichen Clans kontrolliert werden, da dies ja auch in anderen arabischen Ländern der »natürliche Zustand« sei. Jedes dieser winzigen Emirate solle seine Angelegenheiten separat regeln; darüber hinaus könnten sie eine Art »Union« gründen. Seiner Meinung nach war und ist es also eine unveränderliche Natur der arabischen Kultur, die sich seit Hunderten Jahren nicht geändert hat, die zur Entstehung dieser palästinensischen Enklaven geführt hat – und nicht etwa Israels bewusste, ausgeklügelte, durchdachte Politik.
Wenn Du Dich an die Zeit der Osloer Abkommen zurückerinnerst: Wie würdest Du die vergangenen 30 Jahre der palästinensischen Geschichte beschreiben?
Sie waren geprägt von Nebenprodukten des aggressiven Zionismus: Kolonisierung, Heuchelei, Lügen, akribischer Planung, Betrug und Selbstgerechtigkeit. Die falsche Ansicht, dass die Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen nicht mehr besetzt sind, weil sie eine eigene »Regierung« haben, die für zivile Angelegenheiten zuständig ist, wurde verfestigt. Tatsächlich wurden in diesen drei Jahrzehnten jedoch die politischen Strukturen des palästinensischen Volkes geschwächt und zerschlagen und eine einst beliebte, sie repräsentierende nationale Befreiungsorganisation in eine bemitleidenswerte Nomenklatura verwandelt, mit korrupten, nicht gewählten Führern, die dem Volk gegenüber gleichgültig sind und verachtet werden. Echte Debatten werden unterdrückt.
Es gibt Fragen, die ich stellen, aber nicht mit absoluter Sicherheit beantworten kann: Wie viel davon könnte von den Israelis mit eingeplant worden sein? Wie viel davon ist zufällig oder eine unbeabsichtigte Folge? Und wie viel davon kann auf interne Mängel der palästinensischen politischen Strukturen zurückgeführt werden?
Die geopolitische Spaltung zwischen Gaza/Hamas und Westjordanland/Fatah – ist sie nicht beides; eine israelische Schöpfung als auch Ergebnis der internen Dynamiken auf palästinensischer Seite? 2008, ein Jahr nach dem Bürgerkrieg im belagerten Gaza, sagte mir Dr. Eyad El-Sarraj, der verstorbene Gründer des Gaza Community Mental Health Programme: »Israel hat das Drehbuch geschrieben, aber Hamas und Fatah spielen ihre Rollen [in diesem Drehbuch] hervorragend.«
Eine weitere Frage, die ich mir stelle, ist, wie die palästinensische Landkarte wohl aussehen würde, wenn Länder, die sich selbst als demokratisch betrachten, ihre Verpflichtungen gegenüber internationalen Abkommen nicht verraten hätten; wenn sie Israel nicht erlaubt oder vielmehr dabei unterstützt hätten, sein Kolonisationsprojekt durchzusetzen...
Sprechen wir über die Palästinenser und ihren Widerstand. Es scheint, dass der massenhafte, gewaltfreie Widerstand verschwunden ist, sich stattdessen aber bewaffneter Widerstand einzelner Personen verschärft. Wie siehst Du das? Wie erklärst Du dieses Verschwinden eines gewaltfreien Widerstands?
Ich spreche lieber von »nicht bewaffnetem Widerstand« statt von »gewaltfreiem Widerstand«. Denn in diesem Zusammenhang würde der Ausdruck »gewaltfrei« die Schuld für Gewalt auf die Besetzten legen und die aggressive Natur der Besatzung selbst übergehen. Und der palästinensische Massenwiderstand während der ersten Intifada wurde ja auch »gewalttätig« – Steine werfen, Händler zum Streik zwingen und dergleichen. Es kam sogar zur brutalen Tötung mutmaßlicher Kollaborateure.
Der Fokus sollte dennoch auf dem kollektiven Charakter des Widerstands liegen, nicht nur auf den Aktionen einiger weniger. Die kollektive Natur der ersten Intifada weckt sicherlich positive Erinnerungen an internen Zusammenhalt und Solidarität; das Ergebnis war Oslo... Eine vereinfachende Schlussfolgerung wäre also, dass der palästinensische Widerstand stets zum Scheitern verurteilt ist.
»Die Bindungen und Affinitäten, die zwischen Palästinensern hier und im Ausland gepflegt und aufrechterhalten werden, sind stark.«
In den 2000er Jahren begannen dann einige Dörfer, kollektiven Widerstand gegen den Trennungszaun anzuwenden. Dafür gab es Lob und Unterstützung von internationalen und auch bestimmten israelischen Gruppen, aber selten von Palästinensern außerhalb des jeweiligen Dorfes. Es schien, als wäre der Kampf die »private« Angelegenheit jeder einzelnen Kommune. Der Preis war hoch – israelische Soldaten töteten oder verwundeten Demonstranten, es kam zu Massenverhaftungen und nächtlichen Razzien. Jugendliche brachen die Schule ab oder fielen durch ihre Abschlussprüfungen. In einigen Fällen wurde der Verlauf der Mauer dank der Demonstrationen und eines parallelen Kampfes vor Gericht tatsächlich geändert, aber der Preis dafür war sehr hoch.
Derweil hatte der bewaffnete Kampf – der Einsatz von Schusswaffen und Sprengstoff, aber auch von »kalten Waffen« wie Messern – unter den Palästinensern schon immer ein gewisses Ansehen. Das ist also nichts wirklich Neues. Wenn der kollektive, nicht bewaffnete Kampf – mit all seinen Opfern und persönlichen, sozialen und materiellen Kosten – scheitert, erscheint es vielen nur logisch und natürlich, den individuellen bewaffneten Kampf zu loben und zu verherrlichen. Dies reicht von einzelnen Aktionen und organisierten Zellen in Flüchtlingslagern und Städten bis hin zu den relativ modernen Waffen und Taktiken, die die Hamas oder der Islamische Dschihad im Gazastreifen einsetzen.
Eine Frage ist, wie viele der Menschen, die sagen, dass sie den bewaffneten Kampf unterstützen, tatsächlich selbst daran teilnehmen würden oder wollen, dass ihre Kinder daran teilnehmen? Ich vermute, dass es nur sehr wenige sind.
Die Romantisierung des bewaffneten Kampfes erlaubt meiner Meinung nach keine ehrliche und adäquate Bewertung seiner bisherigen Erfolge, Misserfolge und seines Potenzials, die israelische Landnahme zu stoppen. Die Hamas und der Islamische Dschihad haben ihre politische Position durch den Einsatz von Waffen und ihre Fähigkeit, die israelische Militärmacht herauszufordern, gestärkt. Aber man kann nicht sagen, dass sie wirklich erfolgreich waren: sie haben die Trennung des Gazastreifens vom Rest des seit 1967 besetzten Gebiets nicht beenden können, die Belagerung nicht durchbrochen und das Hauptinstrument der Kolonisierung, die Siedlergewalt, nicht gestoppt. Vermutlich müsste man sagen, dass die Rolle und Bedeutung des bewaffneten Kampfes aus palästinensischer Sicht schwankt, irgendwo zwischen einem innenpolitischen Instrument, sporadischer Racheaktionen und symbolischem Ausdruck von Wut.
Du berichtest seit 30 Jahren aus der Region, bist bestens mit den Entwicklungen und der Besatzung vertraut. Was meinst Du: Gibt es Hoffnung für die palästinensische Sache? Gibt es Hoffnung für die Palästinenserinnen und Palästinenser?
Was mir wirklich Hoffnung gibt, ist die tiefe Verwurzelung der Palästinenserinnen und Palästinenser zu und in ihrem Land, selbst wenn sie sich dafür entscheiden, im Ausland zu leben, oder gezwungen sind, im Exil zu sein. Die Bindungen und Affinitäten, die zwischen Palästinensern hier und im Ausland gepflegt und aufrechterhalten werden, sind stark. Ihr normaler Alltag ist geprägt von Trotz und Widerstandsfähigkeit gegen eine ausgeklügelte und raffinierte ausländische Militärherrschaft. Jede einzelne Familie ist daher ein Widerstandsprojekt.
Was mich ebenso ermutigt, ist die Lebensfreude der Menschen, ihre Fähigkeit zu lachen, zu feiern und Dinge zu erschaffen, trotz aller früheren und aktuellen Tragödien. Ich bewundere ihre Fähigkeit zu leben – nicht nur zu überleben oder zu existieren, sondern wirklich zu leben – während sie so viel Leid über so lange Zeit ertragen. Ich hoffe, dass all dies letztendlich zu einer starken internen Solidarität und zu strategischerem Widerstand führt.
Amira Hass ist eine preisgekrönte Journalistin der israelischen Tageszeitung Haaretz. Sie berichtet vor allem über die besetzten palästinensischen Gebiete. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter Drinking the Sea at Gaza: Days and Nights in a Land Under Siege sowie Reporting From Ramallah: An Israeli Journalist in an Occupied Land.