19. Juli 2023
Paulo Freires Befreiungspädagogik in der Praxis: bei meiner Lehrerin, meinen Tanten und mir.
Meine Lehrerin Maria José und ich bei einem Schulfest zum Kindertag »Tag Unserer Lieben Frau von Aparecida«. Recife, 1980er.
In einer meiner ältesten Erinnerungen weine ich auf dem Schoß meiner ersten Lehrerin, Maria José. Damals besuchte ich die kostenlose katholische Schule São Vicente de Paulo im Viertel Boa Vista in der Stadt Recife, der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco im Nordosten Brasiliens. Bundesstaaten wie Rio oder São Paulo sind weithin bekannt, aber von Pernambuco haben viele wahrscheinlich noch nie etwas gehört. Dabei war Pernambuco das erste Wirtschaftszentrum Brasiliens und bis zum 18. Jahrhundert der reichste Teil des portugiesischen Amerika.
Pernambuco ist die Region, wo die Clarice Lispector 1922 als Baby ankam, um eine der größten portugiesischsprachigen Schriftstellerinnen aller Zeiten zu werden. Dort wurden auch der Dichter João Cabral de Melo Neto, der 1999 beinahe den Literaturnobelpreis erhalten hätte (stattdessen bekam ihn Günter Grass), und der Geograf Josué de Castro, Autor der bahnbrechenden Studie Geopolitik des Hungers, geboren. Der heutige brasilianische Präsident Lula da Silva stammt aus Pernambuco, ebenso wie Paulo Reglus Neves Freire. Freire, der wie ich in Recife geboren wurde, ist einer der wohl berühmtesten Pernambucaner überhaupt – und zweifellos einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, obwohl ich ihn nie kennengelernt habe.
Aber als ich auf dem Schoß meiner Lehrerin in der katholischen Schule weinte, wusste ich das noch nicht. Das muss 1986 gewesen sein, wenige Monate nach dem offiziellen Ende unserer zweiten Militärdiktatur (die erste dauerte von 1937 bis 1945, die zweite von 1964 bis 1985). Wir lebten noch unter der Militärverfassung, die Präsidentschaftswahlen sollten erst 1989 stattfinden. Ich weinte in diesem Moment deshalb, weil ich ungeheuerliche Angst davor hatte, an nationalen und lokalen Feiertagen mit der Militärpolizei mitmarschieren und mit ihnen (und für sie) die brasilianische Hymne singen zu müssen. Die wöchentlichen Proben dafür fanden in der Schule statt, die direkt neben einer Kaserne der Militärpolizei von Pernambuco lag.
Das Militär, das in der Schule der Ordensschwestern aufmarschierte, war dasselbe, das während der sogenannten »Anos de Chumbo«, den schwersten Jahren der Militärdiktatur, viele linksgerichtete Katholikinnen und Katholiken verfolgt und getötet hatte. Aber ich war offensichtlich nicht alt genug, um zu begreifen, was dieser Quatsch mit den Märschen politisch bedeutete – und wo mein Unbehagen damit herrührte.
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Adelaide Ivánova ist Dichterin. Sie hat fünf Bücher veröffentlicht, darunter o martelo, das 2018 mit dem Prêmio Rio de Literatura ausgezeichnet wurde.