13. August 2024
Paris präsentierte sich während der Olympischen Spiele als Stadt ohne Makel. Für diese postkartenreife Inszenierung wurden Tausende Wohnungslose aus der Innenstadt vertrieben und Menschen ohne Papiere ausgebeutet.
Polizeikräfte räumen ein Camp von minderjährigen Wohnungslosen an der Seine, 06. März 2024.
Großevents wie die Olympischen Spiele sind ein Katalysator für Ausbeutung, Gentrifizierung und Verdrängung. Doch weil sich Gastgeberländer mit den Spielen möglichst gut darstellen wollen, stehen sie unter hohem Druck. Die Einzigen, die das als Hebel für politische Forderungen genutzt haben, waren illegal Arbeitende ohne Papiere. Mit ihren Streiks und Blockaden der Baustellen haben sie dort angesetzt, wo es am meisten weh tut.
Für Frankreich war die Austragung der Olympischen Spiele eine Ehre. Auch wenn aus haushaltspolitischer Sicht oft keine direkten Gewinne aus sportlichen Großveranstaltungen dieser Art erzielt werden, stärken sie den nationalen und lokalen Stolz der Gastgeber-Länder. Mega-Events wie Olympia sind eine gute Gelegenheit, um sich international zu profilieren und nationale Einheit zu beschwören. Den Anwohnerinnen und Anwohnern der Austragungsorte hat man das Megaprojekt als etwas verkauft, wovon auch sie profitieren. Die Realität sieht anders aus.
Auch wenn von den Olympischen Spielen in Paris die Rede ist, fand der Großteil in Seine-Saint-Denis statt, dem ärmsten Département Frankreichs nördlich der Hauptstadt. Die riesigen Gebäude, die für die Spiele hochgezogen wurden, werden der dort lebenden, größtenteils prekären Bevölkerung nach dem Spektakel nicht nützen. So wurde zum Beispiel der Tour Pleyel, der als Wolkenkratzer schon lange die Silhouette von Saint-Denis prägt, zu einem Luxus-Hotel umgebaut. Die Gentrifizierung der Pariser Banlieues wurde durch die Spiele nur verstärkt.
»Großprojekte wie die Olympischen Spiele dienen nur den Interessen der Mächtigen. Aber wer baut die Stadien? Wir, die Migranten. Ohne unsere Arbeit gäbe es keine Spiele.«
Die Organisation Le Revers de la Médaille – die Kehrseite der Medaille –, die Menschen in prekären Lebenssituationen unterstützt, hat vor den Auswirkungen der Olympischen Spiele gewarnt. Sie weist auf eine »soziale Säuberung« im Zusammenhang mit den Spielen hin. So wurden etwa vermehrt Zeltlager geräumt, in denen vor allem wohnungslose Migrantinnen und Migranten notdürftig schlafen. Den Betroffenen wurde – wenn überhaupt – meist nur eine temporäre Unterbringung deutlich außerhalb des Großraums Paris angeboten – fernab von Hilfsorganisationen und Arbeitsmöglichkeiten. Im Februar räumte die Polizei ein Zeltlager unter der Brücke Charles de Gaulles. Damit die Vertriebenen nicht wieder zurückkehren, wurden Bauzäune installiert und riesige Steine aufgestellt. Für das Großereignis sollte Paris postkartenreif werden. Anstatt politisch gegen die soziale Notlage der Wohnungslosigkeit vorzugehen, wurde sie unsichtbar gemacht.
Das Olympia-Aushängeschild eines fairen Sportwettbewerbs, bei dem sich die Beteiligten aus vielen verschiedenen Ländern als Gleiche begegnen, maskiert die ungleiche Ausbeutung bestimmter Bevölkerungsgruppen im Vorfeld der Spiele. Die Kollektive der sogenannten Sans-Papiers, also Menschen, die ohne Papiere in Frankreich leben, haben die Chance ergriffen, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf eben diese Überausbeutung zu lenken. Dass Menschen ohne Papiere in Frankreich arbeiten, ist illegal, aber alltägliche Realität. Ohne die Arbeit dieser Menschen wäre Olympia kaum möglich gewesen.
Im Oktober letzten Jahres blockierten einige Hunderte Sans-Papiers und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer die Baustelle der Adidas-Arena im Norden von Paris, die zum Zweck der Spiele errichtet wurde. Auf ihren Bannern war zu lesen: »Pas de Papiers, pas de JO!« – Ohne Papiere, keine Spiele! Ein Arbeitender aus Senegal, der seit 2020 in Frankreich lebt, kritisierte: »Großprojekte wie die Olympischen Spiele dienen nur den Interessen der Mächtigen. Aber wer baut die Stadien? Wir, die Migranten. Ohne unsere Arbeit gäbe es keine Spiele.« Um Papiere über den Arbeitsweg zu erhalten, muss man sowohl beim Arbeitgeber für das Dokument als auch bei der Präfektur für die Bewilligung des Asylantrags ansetzen. Die Olympischen Spiele waren der Hebel, wo auf beides gleichzeitig Druck ausgeübt werden konnte, etwa durch die Bestreikung der Baustelle der Adidas-Arena.
»Obwohl viele Sans-Papiers indirekt in das Sozialsystem einzahlen, können sie selbst nicht davon profitieren.«
Wie viele Sans-Papiers für Olympia geschuftet haben, lässt sich schwer sagen. Oft arbeiten sie unter dem Namen eines Freundes, der schon Papiere hat. Auf dessen Konto wird dann nicht nur der Lohn von dem bereits registrierten Arbeiter gezahlt, sondern das Einkommen von weiteren Sans-Papiers. Für den Staat ist es profitabel, wenn von diesem »einzigen« Einkommen hohe Steuern gezahlt werden. Für die Sans-Papiers bleibt dann meist nur noch ein dürftiger Rest unter dem Mindestlohn übrig. Obwohl sie indirekt in das Sozialsystem einzahlen, können sie selbst nicht davon profitieren. Keine Papiere heißt keine Zahlung im Krankheitsfall und kein bezahlter Urlaub.
Viele der Sans-Papiers arbeiten – wie im Falle der Adidas-Arena – für Subunternehmer, was die gewerkschaftliche Organisierung extrem erschwert. Meistens gibt einen Auftraggeber, in diesem Fall das milliardenschwere Unternehmen Bouygues, das den Bauauftrag an Subunternehmen weiterleitet. Diese wiederum kaufen sich ihre Arbeitskräfte über Zeitarbeitsfirmen ein. Über die Firmen wechseln die Arbeiterinnen und Arbeiter häufig ihren Einsatzort und können sogar von einem auf den anderen Tag in einer anderen Stadt eingesetzt werden. Die Blockade der Baustelle der Adidas-Arena zeigt, wie die gewerkschaftliche Organisierung trotz aller Widrigkeiten doch gelingen kann.
Obwohl zunächst eine Einigung erreicht werden konnte, die vorsah, dass alle Arbeiter ohne Papiere auf der Adidas-Baustelle und deren Subunternehmen eine Legalisierung erhalten, ließ Bouygues die nach dem Streik registrierten Papierlosen nicht mehr zum Arbeiten auf die Baustelle zurück. Ihre Asylanträge wurden bis heute nicht bewilligt. Am Ende hat sich der Kampf für sie dennoch ausgezahlt. Die Arbeiter ohne Papiere der Adidas-Arena haben zumindest einen unbefristeten Arbeitsvertrag und damit Anspruch auf dieselben Arbeitsrechte wie alle anderen auch. Nach Jahren können sie endlich Urlaub nehmen, ihre Familien in ihren Heimatländern besuchen, ohne dass sie dabei ihren Job verlieren.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Olympia-Baustellen waren jedoch nicht die Einzigen Beschäftigten, ohne die die Spiele nicht hätten stattfinden können. Dass eine größere Streikwelle ausblieb, liegt nicht zuletzt auch daran, dass einigen Berufsgruppen eine Prämie für die Zeit der Olympischen Spiele ausgezahlt wurde, um die Streikbereitschaft auszubremsen. Bahnbeschäftigte hatten etwa erstritten, dass sie statt der ursprünglich geplanten Tagesprämie von 50 Euro nun 95 Euro mehr pro Arbeitstag während der Spiele bekommen. Mega-Events wird es in Zukunft noch viele geben, Berlin plant bereits eine Bewerbung als Gastgeberland für die Olympischen Spiele 2036 oder 2040. Die Streiks und Blockaden der Sans-Papiers zeigen, wie der politische Hebel bei Großveranstaltungen von jenen genutzt werden kann, die keine Sendezeit bei der Sportschau haben.
Zula Götting studiert Soziokulturelle Studien und engagiert sich in den Kollektiven der Sans-Papiers in Frankreich.