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10. September 2025

Die Parteifrage

Die Wirkungslosigkeit der heutigen Linken ist kein Zufall, sondern Ergebnis ihrer Organisationsstruktur. Will sie neue Stärke aufbauen, muss sie diese von Grund auf ändern.

»So wie die Gewerkschaften für Arbeitsfrieden sorgen mussten, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren, mussten die Parteien als Grundlage für ihre Glaubwürdigkeit Wirtschaftswachstum liefern.«

»So wie die Gewerkschaften für Arbeitsfrieden sorgen mussten, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren, mussten die Parteien als Grundlage für ihre Glaubwürdigkeit Wirtschaftswachstum liefern.«

Illustration: Jonathan Hoffboll

Die moderne Linke entstand als politischer Ausdruck der materiellen Interessen der Arbeiterklasse. In ihren Anfängen war sie ein loser Zusammenschluss von Intellektuellen, Gewerkschaftern und sympathisierenden Mitgliedern der politischen Elite, deren Aktivitäten sich hauptsächlich auf Journalismus, moralische Debatten, soziale Arbeit und in einigen Fällen politisches Patronat beschränkten. Doch Ende des 19. Jahrhunderts erkannten die Arbeiterschaft und ihre Verbündeten in elitäreren Schichten, dass sie sich als Klasse organisieren mussten, um ihre politischen und ökonomischen Interessen durchzusetzen.

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Erkenntnis erst durch harte Erfahrungen gewonnen wurde. Auch ist es nicht so, dass andere Aktivitäten aufgrund eines kulturellen Wandels oder einer Veränderung der intellektuellen Moden gegenüber der Klassenorganisierung in den Hintergrund traten. Tatsächlich wurde keine von ihnen in irgendeiner Weise aufgegeben: Sozialistinnen und Sozialisten setzten sich weiterhin mit moralischen Argumenten gegen den Kapitalismus ein, kritisierten in der Presse die Ungerechtigkeiten gegenüber der Arbeiterschaft und nutzten ihre politischen Einflussmöglichkeiten, um die Bedingungen zu verbessern.

Sie mussten jedoch feststellen, dass ihre Forderungen ohne reale Macht bestenfalls ignoriert, wenn nicht sogar von den Arbeitgebern und ihren politischen Vertretern im Staat physisch unterdrückt wurden. Durch diesen Lernprozess wurde aus der »sozialen Frage« des frühen 19. Jahrhunderts zum Ende des Jahrhunderts die »Klassenfrage«.

Zwei Grundpfeiler der Arbeiterbewegung

Zwei Institutionen wurden zu den Grundpfeilern der organisierten Arbeiterbewegung: Gewerkschaften und sozialistische Parteien. In einigen Ländern entstanden zuerst die Parteien, die dann den Weg für das Erstarken der Gewerkschaften ebneten. In anderen Fällen kamen die Gewerkschaften zusammen, um Parteien als ihren politischen Arm zu gründen. Unabhängig von der Reihenfolge wurden diese beiden Institutionen nahezu überall – mit Ausnahme der USA, wo sozialistische Parteien effektiv von der politischen Teilhabe ausgeschlossen wurden – zum Fundament für die Erfolge der sozialistischen Bewegung im 20. Jahrhundert.

Über ein Jahrhundert später sind Gewerkschaften nach wie vor Kern sozialistischer Strategien. Der Grund dafür ist simpel: Der Arbeitsplatz ist in jeder kapitalistischen Gesellschaft der Ort, an dem Arbeiterinnen und Arbeiter in großer Zahl zusammenkommen. Doch das ist nicht das einzige Merkmal, das Arbeitsstätten so wichtig macht – schließlich können Menschen aus der Arbeiterklasse beispielsweise auch in ihrer Nachbarschaft zusammenkommen.

Die zentrale Bedeutung des Arbeitsplatzes ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, dass dort Wert geschaffen wird. Und den Fluss der Wertschöpfung zu unterbrechen, ist das wesentliche Machtmittel der Arbeiterschaft. Die Gewerkschaften bringen die Arbeiterklasse zusammen und nutzen ihre Kontrolle über den ökonomischen Wert als Druckmittel gegenüber den Arbeitgebern. Wenn Sozialisten versuchen, Arbeiter anhand ihrer Interessen zu organisieren, ist ein Gelingen schlichtweg unvorstellbar, ohne dass Gewerkschaften dabei im Zentrum stehen.

Doch obwohl Gewerkschaften für die Organisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter unerlässlich sind, können sie diese nur teilweise als Klasse organisieren. Wie Wladimir Lenin feststellte, ermöglichen Gewerkschaften es der Arbeiterschaft zwar, für ihre Interessen zu kämpfen, aber nur in einem begrenzten Sinne. Gewerkschaften helfen, Verbesserungen in Bezug auf Löhne, Arbeitsbedingungen sowie die Arbeitszeit und das Arbeitstempo zu erreichen. Sie sind ein Mittel für Arbeiterinnen und Arbeiter, ihre Interessen am Arbeitsplatz zu verteidigen und innerhalb des Kapitalismus ein gewisses Maß an Menschenwürde zu wahren.

Ihre Begrenzung ist jedoch, dass sie die Aufmerksamkeit auf die spezifischen Einzelheiten des jeweiligen Arbeitsvertrags lenken, anstatt das dem Vertrag zugrundeliegende Prinzip selbst infrage zu stellen. Für Sozialisten stellt dies eine gewisse Paradoxie dar: Gewerkschaften sind für den Schutz der Interessen der Arbeiterschaft innerhalb des Kapitalismus unverzichtbar, aber sie legitimieren auch genau das System, das Sozialisten überwinden wollen. Dies ist nicht nur eine Frage der Ideologie: Gewerkschaftsfunktionäre haben die Aufgabe, die Interessen der Beschäftigten am Arbeitsplatz zu verteidigen, und neigen daher dazu, sich einseitig auf die Missstände an eben jenem Arbeitsplatz zu konzentrieren und sich weniger mit dem System als Ganzem zu befassten.

Darüber hinaus haben Gewerkschaften, gerade weil sie zur Sicherung des Wohlergehens ihrer jeweiligen Mitglieder gegründet wurden, eine inhärente Tendenz, die Arbeiterklasse zu zersplittern. Am deutlichsten wird dies im Fall der im 19. Jahrhundert dominierenden Zunft- oder Gildengewerkschaften, in denen sich die Arbeiter nach ihren jeweiligen Fertigkeiten oder Berufen organisierten. Aber dies gilt auch für die seit den 1930er Jahren vorherrschende Form des Gewerkschaftswesens, die Industriegewerkschaften: Sie organisieren zwar die Arbeiterschaft eines bestimmten Unternehmens oder einer bestimmten Branche, aber sie haben kein inhärentes Bestreben, alle Arbeiterinnen und Arbeiter als Klasse zusammenzubringen.

Diese Einschränkungen sind der Grund, warum der sozialistische Flügel der Arbeiterbewegung seit jeher eine politische Partei als absolut notwendig erachtet hat. Arbeiter- oder sozialistische Parteien weisen historisch gesehen zwei Merkmale auf, die Gewerkschaften von Natur aus nicht haben: Das erste ist, dass sie nicht nur nach ökonomischen, sondern auch nach ideologischen Gesichtspunkten organisiert sind. Sie setzen sich dafür ein, die Grundstruktur des Kapitalismus zugunsten der Arbeiterklasse zu verändern – oder, in einer ambitionierteren Version, den Kapitalismus komplett zu überwinden.

»Während Gewerkschaften für die täglichen Interessen ihrer Mitglieder kämpfen, entwerfen Parteien eine langfristigere Strategie für die Klasse als Ganze.«

Man kann diese Konstellation so zusammenfassen: Während Gewerkschaften für die täglichen Interessen ihrer Mitglieder kämpfen, entwerfen Parteien eine langfristigere Strategie für die Klasse als Ganze. Parteien neigen eher dazu, die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit zu betrachten, während Gewerkschaften ständig auf die Besonderheiten ihrer Branche oder der jeweiligen Fachkompetenz fixiert sind.

Ein weiteres wichtiges Merkmal ist, dass Parteien Zugang zum Staat haben. Im 19. Jahrhundert spielte dies keine so große Rolle, da die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter ohnehin von der Teilnahme am Wahlsystem ausgeschlossen waren. Mit der Demokratisierung des kapitalistischen Staates wurde jedoch die Möglichkeit, mit legislativen Mitteln das Terrain für den Klassenkampf zu verändern, zu einem zentralen Pfeiler der Strategie der Arbeiterklasse. Das Bestreben, die Interessen der Arbeiterklasse voranzubringen, bekam mit den neu entstehenden Parteien sein mächtigstes Instrument.

Diese Parteien arbeiteten mit den Gewerkschaften zusammen, hatten aber ihre eigene Organisationsstruktur. In vielerlei Hinsicht waren Parteien ebenso wie Gewerkschaften Kampforganisationen: Sie waren physisch in den Arbeitergemeinden verankert, rekrutierten die meisten ihrer Mitglieder aus diesen Gemeinden und waren tief verwurzelt im Leben der Arbeiterklasse, sodass die Partei und die Menschen eine organische Einheit bildeten.

Allerdings beschränkten sich die Parteien nicht darauf, die Arbeiterinnen und Arbeiter als Massenbasis zu nutzen – sie versuchten aktiv, die ideologische und politische Kultur der gesamten Klasse zu prägen. Sie hatten eine kohärente politische Botschaft und eine reichhaltige interne Debatten- und Diskussionskultur, mit klaren Normen innerhalb ihrer Reihen und Aufstiegsmöglichkeiten in die Führung. Alle sozialistischen Parteien des 20. Jahrhunderts waren stolz auf ihre innerparteiliche Disziplin und die Entschlossenheit, mit der sie sich in der Politik engagierten. Der Sozialismus erschien praktisch schon am Horizont; lange konnte es nicht mehr dauern. Was ist also passiert?

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Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der New York University, Herausgeber von »Catalyst: A Journal of Theory and Strategy« und Autor unter anderem von »Das ABC des Kapitalismus«, das bei Brumaire erschienen ist.