26. Juni 2022
Und das ist das Beste, was man darüber sagen kann. Der LINKEN droht nun die Spaltung.
Das neue Vorsitzendenduo der LINKEN Martin Schirdewan und Janine Wissler auf dem Parteitag in Erfurt.
Mit einer Durchsage wird das Wahlprozedere in der heißen Kongresshalle durchbrochen. Man möge bitte wieder alle Plastikbecher an den Cuba Sí-Stand bringen, sonst gehen die Mojitos aus. Heiteres Lachen. Einer der wenigen Momente, in denen bei diesem Parteitag etwas Leichtigkeit zu spüren ist.
Ansonsten überschatteten die Debatten um den Krieg in der Ukraine und über den Umgang mit sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen das Treffen der Delegierten in Erfurt. Gleichzeitig steckt die Partei in einer existenziellen Krise und müsste sich dringend neu ausrichten. Doch gerade weil die inhaltliche Klärung brisanter Themen der notwendigen personellen Neuaufstellung teilweise in die Quere kam, war dieser Parteitag so überfrachtet und verworren wie selten zuvor.
Mit etwas Abstand lässt sich sagen: Man hält den Laden wohl noch irgendwie zusammen. Doch von Aufbruch kann keine Rede sein, dafür sind die Gräben zwischen wichtigen inhaltlichen Positionen, vor allem aber bei der strategischen Ausrichtung, mittlerweile zu tief. Zugleich ist keine Persönlichkeit in Aussicht, die diese Differenzen überbrücken könnte. Durchweg knappe Ergebnisse bei allen Personenwahlen, allen voran der zum Parteivorsitz, waren die Konsequenz.
Janine Wissler wurde nach einer kämpferischen Rede am Freitag mit nur 57 Prozent wiedergewählt, ihre Gegenkandidatin Heidi Reichinnek erhielt ein beachtliches Ergebnis von knapp 36 Prozent. Als die Stimmenzahl von 319 verkündet wird, spricht Wissler den neben ihr sitzenden Harald Wolf an, der selbst mit einem ähnlich knappen Ergebnis von 59 Prozent zum Schatzmeister gewählt wurde: Reicht das Ergebnis? Ja, das reicht, nickt er ihr zu. Erleichterung. Die Nervosität war ihr bereits bei der Rede am Vortag anzumerken, umso überraschender nutzte sie den Vorteil, dort bereits vierzig Minuten sprechen zu können, um den Saal schlussendlich trotz aller Kritik der letzten Monate für sich einzunehmen. Reichinneks Kandidatur zum Parteivorsitz kam vermutlich zu früh, sie ist gerade erst in den Bundestag gewählt worden. »Sie bräuchte noch zwei Jahre«, so ein Delegierter, »aber man weiß ja nicht, ob es die Partei in zwei Jahren noch gibt«.
Der Europapolitiker Martin Schirdewan, der sowohl dem Bewegungs- als auch dem Reformerlager nahesteht, erhielt mit 61 Prozent zwar ein etwas besseres Ergebnis als seine Ko-Vorsitzende, doch auch ihm stand ein unerschütterliches Drittel der Delegierten gegenüber. Sören Pellmann, der von Sahra Wagenknecht unterstützt wurde und bemüht war, dieses Label loszuwerden, erhielt 31 Prozent, obwohl sein Direktmandat in Leipzig der Partei den Einzug in den Bundestag rettete. Das scheint bundespolitisch jedoch kein Argument zu sein. Fakt ist: Keine Figur konnte lagerübergreifend gewinnen.
Für einen ersten Eklat auf diesem Parteitag sorgte die junge Delegierte Sofia Fellinger bereits bei der Generaldebatte am Freitag. Es ging um den Angriffskrieg in der Ukraine. Sichtlich nervös steht sie mit einem Blumenkranz im Haar am Mikrofon und überrascht mit einer persönlichen Intervention. Es würde ihr als aus der Ukraine stammender Person schwer fallen, manche Aussagen über die Selbstverteidigung der Ukraine zu ertragen. Und in der Tat: an der Debatte um Waffenlieferungen schieden sich die Geister. Reformer wie Bodo Ramelow aus Thüringen machen sich dafür stark, ebenso wie Klaus Lederer aus Berlin, aber offenbar auch die Linksjugend.solid, die Fellinger laut applaudierte. Videos von ihrer Rede wurden in den sozialen Medien und sogar in den Tagesthemen breit geteilt. Ihre persönliche Erklärung endete mit der Aufforderung, man müsse »seine Privilegien checken«.
So schwierig die inhaltliche Frage um Waffenlieferungen für die Linke ist, sie wurde hier vermengt mit einem Diskurs, der bei anderen Teilen der Partei schon allein wegen des Auftritts und der identitären Sprechweise für Unmut sorgen dürfte. Die Linksjugend war vor allem auch am Freitag in der Debatte um den Komplex Sexismus stark präsent und dominierte die Diskussion dazu zuweilen sogar, trotz der relativ kleinen Anzahl an Delegierten aus dem Verband, der aber in den sozialen Medien viel von sich hören ließ.
Eine sonderbare Art von digitaler Repräsentationslogik scheint hier zum Tragen zu kommen: Man könnte sagen, auf 1000-Twitter-Likes kommt eine Stimme in der Kongresshalle: Ein Konzept, das scheitern muss. Denn obwohl sich im Netz viele über das Verhalten einiger Delegierter empörten, die die unzähligen persönlichen Erklärungen mit Zwischenrufen quittierten, herrschte im Saal selbst eine andere Stimmung. Fast schon genervt war man von den Interventionen der Jugend, weil sie das legitime Anliegen, übergriffiges Verhalten sichtbar zu machen und zu bekämpfen, durch maximal konfrontatives, nicht gerade umsichtiges Auftreten selbst unterlief.
In der Folge ging es weniger um die Etablierung von Verfahren gegen sexuelle Gewalt als um persönliche Angriffe und Betroffenheit, abgerundet durch Buh-Rufe von männlichen Genossen und einen etwas ungeschickten Gregor Gysi, der in seiner Rede zum 15-jährigen Bestehen der Partei am Samstagmorgen direkt mit einem Plädoyer gegen Gendersternchen einstieg, die kein Mensch in der Debatte am Tag zuvor erwähnt hatte. Darauf folgten gleich zwei persönliche Erklärungen: Man empörte sich über ihn und frage sich, ob Genosse Gysi am Vortag überhaupt anwesend gewesen war. Gysi sprach in seiner Rede ironischerweise davon, die gegenseitige Denunziation müsse aufhören, es ginge in der Partei immer nur um tausend kleine Teile. Doch seine Rede leistete ihren Beitrag dazu, dass es am Ende wieder einmal um Streitereien zwischen Kleingruppen statt ums große Ganze ging.
Das alles spielt sich – man muss es immer wieder betonen – vor dem Hintergrund einer der schwersten Krisen der Parteigeschichte ab. Sollte es Gysis Aufgabe gewesen sein, den Pathos der damaligen Gründung zu vermitteln, er machte ihn selbst zunichte. Bezeichnenderweise verschwand er direkt nach seiner Rede wieder aus der Kongresshalle. Überhaupt hatte man das Gefühl, dass man mit vielem allein sitzen blieb. Der ehemalige langjährige Vorsitzende Bernd Riexinger war zwar anwesend, meldete sich aber nicht zu Wort. Katja Kipping oder der Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Jan Korte, waren nirgends zu sehen. Auch Bodo Ramelow verschwand nach seiner Rede schnell wieder. Weil es kaum Stimmen gab, die die Geschichte und die historische Verantwortung der LINKEN unterstrichen, waren es die persönlichen Erklärungen und der Kampf um Ersetzungs- und Änderungsanträge, vor allem aber die Wahlen zu Parteiämtern, bei denen am deutlichsten wurde, das es an einem gemeinsamen Selbstverständnis mangelt.
Um bei den Strömungen der Linkspartei durchzublicken, braucht man ein eigenes Diplom. Hier der Versuch einer Übersicht: Was die Zusammensetzung der Delegierten angeht, so standen sich auf diesem Parteitag grob gesprochen etwa ein Drittel »Bewegungslinke«, ein Drittel »populärer« Flügel (der Wagenknecht nahe steht, aber nicht auf sie reduzierbar ist) und ein Drittel »Reformer« gegenüber. In ihrer Rede betonte die Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali am Samstagmorgen, dass das sogenannte »Hufeisen«, ein machtpolitisches Bündnis zwischen den Reformern und dem linken Flügel, der Vergangenheit angehöre. In den letzten Jahren sorgte dieser Pakt immer wieder für Ärger, weil der Nexus Bartsch-Wagenknecht so die Fraktion beherrschte. Tatsächlich hat sich dieses Bündnis unter der neuen Fraktionsvorsitzenden Ali etwas gelockert, was aber eher der Schrumpfung der Fraktion als einer grundlegenden Neuausrichtung geschuldet ist. Doch die beiden Lager eint nicht nur die Macht, sondern zum Beispiel auch die Zielsetzung, Nichtwählerinnen und Nichtwähler zu erreichen, die auch Reichinnek und Pellmann in ihren Reden betonten. Sie waren nie offiziell das Kandidatenduo des »Hufeisens«, wurden aber allgemein so wahrgenommen, zumal beide in der Fraktion verankert sind.
Doch auf dem Parteitag gelten andere Regeln als in der Fraktion. Vor allem das Reformerlager hat sich hier als flexibel erwiesen. Bei der Vorsitzendenwahl kam offenbar keine Mehrheit zwischen »Linken« und Reformern zustande – was vor allem auch daran liegen dürfte, dass sich letztere in einem Dilemma befanden, weil sowohl Schirdewan als auch Pellmann im Grunde als Ostmänner auch irgendwie zu den Pragmatikern gehören. Am Ende entschied man sich offenbar für Schirdewan und ließ Pellmann fallen.
Das Hufeisen fügte sich erst wieder bei der Wahl zum Posten des Bundesgeschäftsführers zusammen. Hier war es noch in der Lage, eine – wenn auch sehr knappe – Mehrheit von 54 Prozent zu versammeln. Relativ überraschend wurde der Brandenburger Tobias Bank anstelle des ehemaligen SDS-Bundesgeschäftsführers Janis Ehling gewählt, der von Wissler und Schirdewan favorisiert wurde. Dieser Denkzettel war machttaktisch begründet, auf der politisch-strategischen Ebene ergibt sich dadurch erst einmal ein neues Problem: Potenziell stehen sich nun das neue Parteivorsitzendenduo und der Bundesgeschäftsführer als parteipolitisches Patchwork gegenüber, hinzu kommen die Differenzen mit der Fraktion. Bank müsste hier als verbindendes Element agieren. Fraglich ist, ob er das leisten kann.
Die Bewegungslinke startete an diesem Wochenende dagegen hoch und fiel doch ziemlich tief: Nach Wisslers und Schirdewans Wahl hätte man fast von einem »Durchmarsch« ausgehen können, wie er sich schon bei den letzten Wahlen zum Parteivorstand angedeutet hatte. Doch das schwache Ergebnis für die Vorsitzenden und der Verlust der Geschäftsführung dämpften die Erwartungen enorm. Auch wenn mit Jana Seppelt, Ates Gürpinar und Lorenz Gösta Beutin zumindest drei der Bewegungslinke nahestehenden Personen zu stellvertretenden Vorsitzenden gewählt wurden, bestechen die Ergebnisse von 47 bis 62 Prozent nicht gerade durch Eindeutigkeit, und das obwohl die weiblichen Bewerberinnen nicht einmal Gegenkandidatinnen hatten.
Hier wurde offensichtlich, dass beständig mindestens ein Drittel der Stimmen fehlte: das Drittel der wie auch immer gearteten »populären« Linken. Friederike Benda, die unter diesem Banner als stellvertretende Vorsitzende antrat, zog ihre Kandidatur zurück. Ihrem Beispiel folgte Patrick Wahl, ein Vertrauter der Fraktionsvorsitzenden, ebenfalls bei der Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden, sowie weitere Kandidierende des »populären« Lagers für den Parteivorstand. Ihre Revolte ist offenbar gescheitert, das Lager verlor auf ganzer Linie. Wagenknecht selbst war wegen Krankheit verhindert. Auch ihr Antrag zur Außenpolitik, der versuchte, die Vorgeschichte des Ukrainekriegs und die Rolle der NATO stärker zu fokussieren als der Leitantrag des Vorstands, scheiterte krachend. Die diversen Spitzen gegen sie als »Ich-AG« (Wissler) verstärkten den Eindruck, dass sie so weit von diesem Parteitag entrückt war wie nie.
Der insgesamt verkleinerte Parteivorstand mag nun arbeitsfähiger sein – in der Tat war die Reform dieses Gebildes längst überfällig –, doch er bildet in wesentlichen Aspekten nicht die Machtarithemik ab, die in der Fraktion und vermutlich auch an der Basis vorherrscht. Das war bereits vorher ein Problem, nun verschärft es sich.
Der Parteitag hat eines deutlich gezeigt: Der ehemalige linke Flügel der Nullerjahre hat sich auf ungünstige Weise in zwei geteilt: Aus ihm ging die Bewegungslinke und eine Gruppe um Wagenknecht hervor, wobei beide lose Gebilde und keine straffen Organisationen sind. Die gewerkschaftsnahe »Sozialistische Linke« aus dem populären Lager war nur noch über Anträge, nicht mehr über Personen wahrnehmbar. Aus ihr ging nach »Aufstehen« und der Debatte um Migration nach 2015 die Bewegungslinke hervor. Diese hatte nun relativ schnell parteipolitisch Erfolg. Ohne selbst vollständig kohärente Positionen zu Fragen der Außenpolitik oder zu Regierungsbeteiligungen zu vertreten, freute man sich über hohen Zulauf in allen Landesverbänden und Posten. Doch ihr schneller Aufstieg fällt der Bewegungslinken nun insofern auf die Füße, als dass aus diesem Parteitag nun eher die Reformer gestärkt hervorgehen. Und auch sie werden nicht durchweg glücklich mit der neuen Konstellation sein, weil auch dieser Flügel längst nicht mehr homogen ist – was an den uneindeutigen Ergebnissen der Vorsitzendenwahl erkennbar war.
Die frühere machtpolitische Beutegemeinschaft aus Reformern und der Emanzipatorischen Linken, der unter anderem Katja Kipping angehörte – man nannte sie aus irgendwelchen merkwürdigen Gründen, die nur echte Linkspartei-Insider verstehen mögen, »Mittelerde« –, gibt es in dieser Form nicht mehr. Sie bildete das Gegenstück des Hufeisens. Die neue Führung besteht mit Wissler und Schirdewan nun aus einem relativ schwachen Bündnis, dem die Verankerung in der Fraktion fehlt. Und selbst wenn es sich als stabil herausstellen sollte: Es lässt die anderen, die »populären« Linken außen vor und schafft so ein Vakuum, das einige fürchten und andere begrüßen werden.
Auf dem Spiel steht nicht mehr oder weniger als die Abspaltung dieser Gruppe, ob als Einzelpersonen oder geschlossen. Nicht nur, weil sie an diesem Wochenende zu viele Wahlen verloren hat, sondern weil ihr strategischer Ansatz, auf einen (zuweilen gesellschaftspolitisch konservativen) Linkspopulismus und eine Nichtwählerinnen-Strategie zu setzen, keinen innerparteilichen Widerhall findet. Das ist natürlich absurd, denn kaum ein vernünftig denkender Mensch in der Partei wäre gegen eine Nichtwähler-Strategie oder gegen eine zuspitzende Linke, doch die Fronten sind verhärtet. Diese lassen sich auch nicht durch die gebetsmühlenartige Wiederholung des Mantras, man müsse das Ökologische mit dem Sozialen zusammenbringen, aufbrechen, obwohl dies in der Praxis natürlich durchaus möglich wäre. Nur wer die Linke aus der Innenperspektive kennt, weiß, wie sehr sie sich hier selbst im Weg steht. Und es tut weh, ihr dabei zuzusehen. Ein Delegierter orakelt bei einem Bier, dass sich der langsame Niedergang fortsetzen wird. Eine andere spricht von mehreren linken Parteien, die bei der Europawahl 2024 antreten könnten.
Mit diesem Parteitag, so viel steht fest, wurde nichts gewonnen. Entscheidend wird sein, was in den nächsten Wochen daraus folgt.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.