02. November 2024
Der Begriff »Nation« ist von den Rechten besetzt: Sie allein bestimmen, wer dazugehört und wer nicht. Linke sollten dem einen inklusiven Patriotismus entgegensetzen. Denn es geht darum, das Land für alle Menschen - unabhängig von Religion oder Hautfarbe – zu einem besseren Ort zu machen.
Als Teil der internationalen Brigaden unterstützen italienische Antifaschisten die republikanische Seite im Spanischen Bürgerkrieg. Ihren Namen »Garibaldi-Bataillon« verdanken sie dem italienischen Nationalhelden und Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi.
Die Zugehörigkeit zur Nation hat die Politik in den vergangenen zwei Jahrhunderten in weiten Teilen der Welt sehr stark geprägt und beeinflusst. Nur wenige bedeutende historische Ereignisse des 19. und 20. Jahrhunderts können beschrieben werden, ohne den Nationalismus als Faktor zu erwähnen. Kriege, geopolitische Spannungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und totalitäre Regime, aber auch antikoloniale Aufstände, Minderheitenrechte und Gruppen, die sich für die Ziele der Freiheit und Emanzipation zusammenschließen: Hinter den größten und wichtigsten Themen der Moderne steht in der einen oder anderen Form fast immer der Nationalismus.
In diesem Artikel möchte ich erörtern, wie die Linke mit diesem fortwährenden Gefühl von nationaler Zugehörigkeit beziehungsweise Nationalstolz umgehen sollte. Diese Frage stellte sich in der Geschichte der linken Politik seit ihren Anfängen und ist auch heute noch von entscheidender Bedeutung. Auch wenn es für die Linke wichtig zu sein scheint, dass sich die Arbeiterklasse »selbst als Nation konstituieren muss« (wie Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest schrieben), bedeutet dies nicht, dass eine solche Politik geradlinig oder risikofrei wäre. Zunächst sollten wir uns aber anschauen, inwiefern und warum das Thema Nationalismus in unserer globalisierten Welt nach wie vor relevant ist.
Zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Geschichte haben unterschiedliche Autoren argumentiert, die nationalistische Politik trete nun in ihre Endphase ein. Schon im liberalen Denken des frühen 19. Jahrhunderts gab es die Überzeugung, dass der Nationalismus ein Auslaufmodell sei, das mit der Expansion des Welthandels bald verschwinden würde. Die Vorstellung, dass die nationale Identität der Menschen (sprich: ihre Nationalität) aufgrund der Ausbreitung des Kapitalismus weltweit an Bedeutung verlieren würde, wurde auch von Marx in dessen Jugend geteilt, wenn auch nicht in seinen späteren Schriften. Diese Ansicht erfreute sich sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert einer gewissen Beliebtheit, wenn auch zyklisch: Sie verschwand in Zeiten, in denen Nationalismen offen ausbrachen oder militärisch aufeinanderprallten, nur um in späteren Perioden wieder aufzutauchen und ein baldiges Ende des Nationalismus zu erwarten.
In den 1980er Jahren vertrat Eric Hobsbawm die Ansicht, die große Zunahme von Studien über Nationalismus sei ein Zeichen dafür, dass das Phänomen nun wirklich in seine abschließende historische Phase eintrete: »Die Eule der Minerva, die uns Klugheit bringt, breitet nach Hegel ihre Flügel immer erst in der Dämmerung aus. Es ist ein gutes Zeichen, dass sie ihre Kreise inzwischen über Nationen und Nationalismen zieht.« Hobsbawm hatte Recht mit seiner Feststellung, dass in diesen Jahren die Zahl der Studien zum Thema erheblich zugenommen hatten; seine Prognose, wie die anderer vor ihm, erwies sich jedoch als falsch. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks und seiner Zersplitterung in zahlreiche Nationalstaaten, kam es kurz später zu einer regelrechten Explosion zahlreicher nationalistischer Bestrebungen und entsprechender Konflikte, obwohl man den Nationalismus nur wenige Jahre zuvor noch als »bald überholt« angesehen hatte.
»Globalisierung, Migrationsbewegungen, der neoliberale Abbau des Wohlfahrtsstaates und der Niedergang ehemals tief verwurzelter kollektiver Identitäten wie Religion und Klassenzugehörigkeit scheinen die nationale Identität gestärkt zu haben.«
Im Optimismus der 2000er Jahre bekräftigten Michael Hardt und Antonio Negri in Empire einmal mehr die Ansicht, der globale Kapitalismus werde die reaktionäre Enge der nationalen Zugehörigkeit auslöschen. Die nationale Identität wurde nicht nur als etwas angesehen, das politisch abzulehnen ist, sondern auch als ein Thema von untergeordneter Bedeutung. Entgegen diesen Prognosen haben wir im vergangenen Jahrzehnt erneut ein Wiederaufleben der Nation als konfliktträchtige politische Identität erlebt, die vor allem von rechten oder separatistischen Bewegungen verteidigt wird. Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien, der Aufstieg der schottischen Unabhängigkeitsbewegung im Vereinigten Königreich oder die katalanischen Separatisten in Spanien, der Wahlerfolg mehrerer nationalistisch-rechter Parteien in ganz Europa und die russische Invasion in der Ukraine mit zunehmend radikalisierten russischen sowie ukrainischen Nationalismen – all diese diversen Phänomene haben einen gemeinsamen Nenner: die mobilisierende Kraft der nationalen Identität.
Es ist unbestreitbar, dass die politische Gestaltungsmacht von Nationalstaaten in vielen Teilen der Welt abnimmt. Sie werden durch eine zunehmend globalisierte Wirtschaft und die wachsende Stärke transnationaler Unternehmen und Organisationen geschwächt. Dies sollte jedoch nicht mit dem Niedergang nationaler Identitäten wechselt oder vermengt werden, wie es im Buch von Hardt und Negri geschieht. Ganz im Gegenteil lassen sich der politische Machtverlust des Nationalstaats und das Erstarken nationalistischer Gefühle parallel beobachten; sie gehen Hand in Hand. Globalisierung, Migrationsbewegungen, der neoliberale Abbau des Wohlfahrtsstaates und der Niedergang ehemals tief verwurzelter kollektiver Identitäten wie Religion und Klassenzugehörigkeit scheinen die nationale Identität tatsächlich gestärkt zu haben.
Diese Entwicklung erinnert an den polnischen Soziologen Zygmunt Bauman, der die heutige Gesellschaft als »fließend« oder »im Fluss befindlich« charakterisiert. Sie ist demnach von Instabilität, Prekarität und Unsicherheit geprägt: Eine Gesellschaft, die auf Fluidität und Mobilität basiert, in der soziale Beziehungen und Strukturen instabil und veränderlich sind. Das führt zu zunehmender Ungleichheit und einem Verlust von Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühl. Angesichts dieser Realität tritt die nationale Identität einmal mehr als »sicherer Hafen« für Menschen, die nach Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl suchen, in Erscheinung. Sie ist zu einer symbolischen Identität geworden, an der man sich festhalten kann, um Gefühlen der Entfremdung und Unsicherheit entgegenzuwirken.
Während die neoliberale Globalisierung viele traditionelle Identitäten und gesellschaftliche Werte entwurzelt, ist die nationale Gemeinschaft wieder zu einem Quell kollektiver Identifikation geworden. Dementsprechend wurde auch nationalistische Politik wiederbelebt. Laut World Values Survey 2017–2022 gaben 88,5 Prozent der weltweit befragten Personen an, »sehr stolz« oder »ziemlich stolz« auf ihre Nationalität zu sein. Hier sei anzumerken, dass die Umfrage sich nur auf die Nationalität des Staates bezog, in dem die jeweilige Person lebte. Minderheitennationalitäten in diesem Staat (beispielsweise Katalanen in Spanien) wurden also nicht berücksichtigt. Ansonsten wäre das Ergebnis wohl noch deutlicher ausgefallen. Der European Quality of Government Index zeigt indes, dass in Europa die Nation die territoriale Identität bleibt, der sich die Bürgerinnen und Bürger am meisten verbunden fühlen. Sie ist wichtiger als regionale Identitäten und deutlich bedeutsamer als eine europäische Identität. Darüber hinaus neigen große Teile der Gesellschaft, insbesondere Personen mit niedrigerem Bildungsniveau, dazu, in ihrem Kulturalisierungsprozess stärker »national« geprägt zu sein. Das bedeutet, sie sind empfänglicher für symbolische und kulturelle Elemente mit Bezug zur nationalen Zugehörigkeit als Personen mit höherem Bildungs- oder Klassenhintergrund, die sich tendenziell eher kosmopolitisch fühlen.
Angesichts dieser Entwicklung und der gegenwärtigen Situation kann die Linke die Existenz nationaler Identitäten nicht einfach ignorieren. Diese Identitäten sind integrale Bestandteile der politischen und sozialen Landschaft, in der die Linke agiert, und in absehbarer Zukunft dürften sie nicht an Bedeutung verlieren. Daher sind Forderungen, nationale Identität schlichtweg abzulehnen, eine politische Sackgasse und bergen die Gefahr, dass die Linke sich von ihren eigenen Traditionen als populäre Kraft entfernt. Vielmehr scheint es notwendig, dass die Linke das Konzept »nationale Zugehörigkeit« akzeptiert und sich zu eigen macht – freilich in gewissem Maße und auf bestimmte Weise.
»Das Volk ist eine politische Konstruktion, die eine Vielzahl von Ansprüchen, Bedürfnissen und Identitäten vereint, die zwar unterschiedlich sind, aber kollektiv wahrgenommen werden als diejenigen, die von der Elite ignoriert werden.«
Das ist übrigens keine neue Idee: So ungewohnt es heute auch erscheinen mag, die Begriffe »links« und »Nation(al)« lagen ursprünglich politisch nicht weit auseinander. Hobsbawm geht sogar so weit zu behaupten, dass diese beiden politischen Konzepte nicht nur aus derselben Wiege stammen (der Französischen Revolution), sondern zumindest eine Zeit lang in gewisser Weise synonym waren. Im Frankreich des Jahres 1789 erklärte sich der Dritte Stand zur »Nation« und leitete damit die Französische Revolution ein. Die ständische Repräsentation im Königreich sollte durch die Idee eines »Nationalvolks« ersetzt werden: Es war die Verschmelzung des Begriffs Nation mit einer kollektiven Einheit, nämlich »dem Volk«, als Träger der staatlichen Souveränität – und somit in Opposition zu den privilegierten Klassen. Als am 14. Juli die Bastille gestürmt wurde und das Volk die Kontrolle über Paris übernahm, taten die Menschen dies zur Verteidigung des Dritten Standes, der sich in der »Nationalversammlung« konstituiert hatte. Als diese Nationalversammlung später vollständig etabliert war, saßen die Anhänger der Revolution und der ehemalige Dritte Stand auf der linken Seite des Plenarsaals. Sie galten deswegen sowohl als »die Nationalpartei« als auch als »die Linken«.
Dieses Beispiel der Französischen Revolution verweist auf ein wichtiges Element in der Diskussion: das Konzept des »Volkes« [im Sinne von »die Massen«, die »normalen Menschen«]. Dieses Konzept findet sich sowohl in linken als auch in national(istisch) geprägten Ansätzen und bleibt ein grundlegendes und praktisch allumfassendes Konzept der heutigen Politik. Wenn es das Ziel der Linken ist, einen breiten Konsens in der Bevölkerung aufzubauen und eine Politik zu verfolgen, die die Interessen der Mehrheit aus einfachen Leute oder Arbeiterinnen und Arbeitern berücksichtigt, dann muss sie eine emotionale Bindung zu diesem »Volk« aufbauen. Doch wer genau ist das Volk? Wie Ernesto Laclau erklärte, existiert das Volk als soziologische Kategorie kaum und ist eher eine politische Konstruktion. Das bedeutet, dass es nicht unabhängig von der Politik existiert; dass die Politik ihm vielmehr eine Form und Bedeutung verleiht. Das Volk ist eine politische Konstruktion, die eine Vielzahl von Ansprüchen, Bedürfnissen und Identitäten vereint (oder artikuliert, wie Laclau sagen würde), die zwar unterschiedlich sind, aber kollektiv als ignoriert von der Elite, die die wirtschaftliche und politische Macht innehat, wahrgenommen werden. Durch dieses Gefühl des Ignoriertwerdens wird das Volk zu einer neuen politischen Einheit, die nicht auf die bloße Summe ihrer verschiedenen Bestandteile reduziert werden kann, da sie diese Einzelteile zu einer einzigen, vereinenden Identität verschmelzen lässt, in der sich die unterschiedlichsten Individuen wiedererkennen können.
Hier ist wichtig zu beachten, dass es offenbar sehr schwierig ist, sich das Volk politisch anders als in Form eines »National-Volks« vorzustellen. In der überwiegenden Mehrheit der heutigen Gesellschaften bilden die Menschen in einem bestimmten Gebiet die entsprechende nationale Gemeinschaft, und die Verteidigung der Souveränität des Volkes findet innerhalb der Grenzen dieses Nationalstaates statt. Darüber hinaus schaffen Nation und Nationalstaat Rituale, Symbole und kulturelle Bezüge, die für die Bildung von Identitäten und eines Zugehörigkeitsgefühls von entscheidender Bedeutung sind. Dadurch wird das »Volk« im politischen Sinne noch stärker mit der »nationalen Gemeinschaft« verschmolzen und gleichgesetzt.
»Die nationale Identität war ein integraler Bestandteil der politischen Identität, ohne aber das Bekenntnis zum Sozialismus, zum Fortschritt und zum Internationalismus zu untergraben.«
Antonio Gramsci entwickelte das Konzept nazionale-popolare, um das Verhältnis zwischen »national« und »populär« oder »aus dem Volk heraus« zu beschreiben. Zunächst bezog er sich dabei speziell auf kulturelles Schaffen: literarische oder künstlerische Werke, die die charakteristischen Merkmale der jeweiligen nationalen Kultur zum Ausdruck bringen und von der breiten Bevölkerung als repräsentativ für sich selbst anerkannt werden. Heute verwenden wir den Begriff »national-populär« [im Deutschen auch »volkstümlich«] in einem allgemeineren Sinne, um all jene kulturellen, ästhetischen, verhaltensbezogenen und gewohnheitsmäßigen Merkmale zu bezeichnen, die unter den »einfachen Leuten« eines bestimmten Landes weit verbreitet sind. Im Gramscis Schriften geht das Konzept jedoch über diese kulturell-volkstümliche Dimension hinaus und betrifft die Identifikation der Volksmassen mit einem gemeinsamen nationalen Projekt. Für Gramsci sollte der revolutionäre Kampf nicht in »oberflächlichen Kosmopolitismus und Antipatriotismus« verfallen. Stattdessen sollte er eine emotionale Bindung an die »Volksnation« herstellen.
Gramsci war der Ansicht, dass jede revolutionäre Bewegung, die regieren will, das Land selbst verkörpern und sich mit ihm identifizieren muss – und dieses Prinzip solle auch auf die Arbeiterklasse in ihrem hegemonialen Kampf gegen die Bourgeoisie angewendet werden. Diese Überlegungen entstanden nicht im luftleeren Raum; sie wurden bereits im Kommunistischen Manifest von 1848 skizziert, als Marx und Engels schrieben, dass sich das Proletariat, um den Sieg zu erringen, »selbst als Nation konstituieren« müsse. Die Arbeiterschaft sei in diesem Sinne selbst »national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie«. In diesen Zeilen klingt noch das Echo der Französischen Revolution nach, als sich der Dritte Stand, das einfache Volk, selbst zur Nation machte. Doch es gibt zahlreiche weitere Bedeutungen und Interpretationen davon, was es heißen kann, »national zu sein«.
Beispiele für ein solches national-populäres Selbstverständnis gibt es in der Geschichte der Linken des 20. Jahrhunderts zuhauf. Die Kommunistischen Parteien und Arbeiterparteien des vergangenen Jahrhunderts waren tief in den Traditionen, der Geschichte und der Kultur ihrer jeweiligen Länder verwurzelt. Dabei handelte es sich nicht um einen ausschließenden oder konservativen Nationalismus, sondern um eine Kombination aus Heimatliebe und dem ebenso drängenden Bedürfnis nach Freundschaft zwischen allen Völkern. Die nationale Identität war dabei ein integraler Bestandteil der politischen Identität, ohne aber das Bekenntnis zum Sozialismus, zum Fortschritt und zum Internationalismus zu untergraben.
Genau in dieser Kombination sah Jean-Paul Sartre den Schlüssel zum Erfolg der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) der Nachkriegszeit, als diese zur stärksten Kommunistischen Partei Westeuropas wurde. Wie die italienische Kommunistin Luciana Castellina berichtet, rief Sartre bei einem seiner Besuche in Italien aus: »Jetzt verstehe ich [warum die PCI so stark ist]: Die PCI ist Italien!« Damit meinte er, dass die Partei eben keine separate, losgelöst agierende Avantgarde, sondern ein von den gemeinsam erlebten und geteilten Emotionen, Verhaltensweisen und Erinnerungen des italienischen Volkes insgesamt geprägtes Gebilde sei.
Auch die Geschichte des Antifaschismus im 20. Jahrhundert ist von Patriotismus durchzogen. Es gibt zahlreiche Beispiele, von den italienischen kommunistischen Partisanen (die nach dem Nationalhelden Giuseppe Garibaldi benannt wurden und die explizit gegen die faschistischen »Verräter des Vaterlandes« agierten) bis hin zu den portugiesischen Kommunisten und ihrem Kampf gegen das Regime von António de Oliveira Salazar. Wie deren Anführer Álvaro Cunhal 1946 sagte: »In den Kämpfen gegen den an der Macht etablierten Faschismus fand die Arbeiterklasse ihre Heimat wieder: Portugal, das für Freiheit und Demokratie kämpft; Portugal, das nach Wohlstand, Fortschritt und Kultur strebt; Portugal, das einen ehrenvollen Platz in der Welt der demokratischen Nationen einnehmen will. Im Kampf gegen den Faschismus lernt das portugiesische Volk, die Portuguesa [die Nationalhymne] zu singen und die Nationalflagge zu schwingen.«
Gleiches galt und gilt für viele linke Parteien im Globalen Süden. Die bolivarische Linke in Lateinamerika, insbesondere verkörpert durch den verstorbenen Hugo Chávez, ist ein gutes Beispiel dafür: Sie steht für eine sozialistische Linke, die von patriotischer Rhetorik und nationalem Symbolismus durchdrungen ist. Symbolträchtig waren Chávez’ häufige Auftritte in einem Trainingsanzug mit den venezolanischen Nationalfarben. Gleichzeitig verhinderte dieser zur Schau gestellte Patriotismus aber nicht, dass bedeutende Fortschritte in Richtung einer supranationalen Zusammenarbeit zwischen den lateinamerikanischen Staaten erzielt wurden. In diesem Verständnis war Venezuela »La patria«, Lateinamerika »La patria grande«.
Wenn die hier bisher erzählte Geschichte zu simpel klingt, dann deshalb, weil es ein weiteres wesentliches Problem gibt, das berücksichtigt werden muss: die gegenwärtige Hegemonie der Rechten, wenn es an eine Definition der »nationalen Identität« geht. In den letzten Jahren hat sich in vielen westlichen Ländern die rechte Dominanz in diesem Bereich verfestigt; das Verständnis von nationaler Identität wurde zunehmend politisiert und nach rechts verschoben. Wenn wir heute an nationale Identität oder Nationalstolz denken, verbinden wir dies häufig mit Konservatismus, der starren Verteidigung von Traditionen, ethnischer Zugehörigkeit, Aversion gegen Vielfalt und Diversität sowie Hetze gegen Migrantinnen und Migranten. Was es bedeutet, einem bestimmten Land anzugehören und stolz darauf zu sein, wird derzeit stark von der Rechten bestimmt. Die Rechte hat sich erfolgreich das Thema nationale Identität angeeignet und es mit ihren eigenen politischen Werten gefüllt.
»Podemos wollte eine progressive Form des Patriotismus anbieten, mit der sich auch ethnische Minderheiten identifizieren können. Die Partei tat dies, indem sie Solidarität, Wohlfahrtsstaat und einen moralisch begründeten Gemeinschaftssinn als wichtigste Aspekte der Nation definierten – und eben nicht sprachliche oder ethnische Aspekte.«
Wenn nun die Linke ein national-populäres Projekt vorantreiben will, darf sie dies nicht tun, indem sie Elemente der nationalen Identität einfach nur in ihren Diskurs aufnimmt. Vielmehr muss sie sie der Rechten entreißen. Der Begriff nationale Identität muss eine integrierende und progressive Interpretation erhalten. Um nochmals auf Marx und Engels zu verweisen: ein linkes Projekt sollte »national« sein, aber »nicht im Sinne der Bourgeoisie« beziehungsweise der derzeitigen rechten Hegemonie. Um dies zu erreichen, braucht es den Aufbau einer Gegenhegemonie. Theoretisch ist dies schon deswegen möglich, weil die »Nation« weder vorbestimmt noch starr festgelegt ist: Nationale Identität und Zugehörigkeit [zu einem Nationalstaat] sind keine eindeutig definierten Phänomene, sondern können unterschiedliche Bedeutungen annehmen und mit unterschiedlichen politischen Werten angereichert werden. Wie Benedict Anderson in seinem bedeutenden Werk Die Erfindung der Nation argumentiert, habe die Vorstellung von Nation lediglich »Modellcharakter« und könne daher »mehr oder minder bewusst, auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen Bereichen übertragen werden, verschmelzen und verschmolzen werden mit einer entsprechend großen Zahl von politischen und ideologischen Konstellationen«.
Die Nation hat immer Grenzen, die festlegen, wer dazugehört und wer nicht (wie Anderson erklärte, ist ein grundlegendes Merkmal der Nation, dass sie eben »begrenzt« ist). Diese Grenzen sind aber ständig im Wandel begriffen und politisch definiert. Es handelt sich um eine Ausschlusslinie, die auf unterschiedlichen Kriterien basieren kann, von der Ethnie bis zur sozialen Klasse, von ethischen Werten bis zur Sprache oder Kultur. Das Privileg, diese Grenze bestimmen zu können, ist der Kern des Kampfes um die Hegemonie über das nationale Terrain – und somit ein überaus wichtiges Thema in der zeitgenössischen Politik.
Die Erfahrung der Partei Podemos in Spanien in ihren Anfangsjahren ist ein wunderbares Beispiel für eine »gegenhegemoniale Politik« auf nationaler Ebene: Die Parteiführung war davon überzeugt, dass es für eine erfolgreiche populär-linke Agenda notwendig sei, das Thema nationale Identität von der Rechten zurückzuerobern und neu zu definieren. Die Podemos-Führungsriege begann daher, immer wieder ihren Stolz und ihre Liebe zu Spanien zu bekunden. Sie lobten die »Patria« und das Spanischsein; sie bezeichneten die Politik ihrer Partei offen als patriotisch. Einerseits taten sie dies, um den politischen Gegnern, insbesondere den Rechten, das Wasser abzugraben. So bezeichneten sie diese angesichts der diversen Korruptionsfälle, ihrer Privatisierungspolitik, Sozialkürzungen und Steuererleichterungen für die Reichen als »Feinde Spaniens« und »Anti-Patrioten«. Andererseits wollte Podemos eine progressive Form des Patriotismus anbieten, mit der sich auch linke Personen und ethnische Minderheiten identifizieren können. Die Partei tat dies, indem sie eine Mobilisierung der Bevölkerung, Solidarität, Wohlfahrtsstaat und einen moralisch begründeten Gemeinschaftssinn als wichtigste Aspekte der Nation definierten – und eben nicht sprachliche oder ethnische Aspekte.
»Es gibt für die Rechte nichts Beunruhigenderes als die Entstehung eines offenen und integrativen Verständnisses der Nation, mit dem sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur voll und ganz identifizieren können und bei dem Liebe zum Land bedeutet, für ein gutes Bildungs- und Gesundheitssystem zu kämpfen, statt die Grenzen dichtzumachen.«
Gegenhegemonie mit Bezug auf nationale Zugehörigkeit aufzubauen scheint eine überaus wichtige politische Entscheidung zu sein. Wenn sie nicht aufgebaut wird, bedeutet dies, der Rechten das Feld zu überlassen, die dann alle national-populären Elemente, die Teil unseres kollektiven Lebens sind, vereinnahmt und sie mit ihren eigenen konservativen Ideen auflädt. So kann die Rechte derzeit ihre Vorstellung davon, was das Land/die Nation ausmacht und was es bedeutet, ein Teil davon zu sein, ohne Gegenwehr durchsetzen. Das Ergebnis ist eine konservative und ausgrenzende nationale Identität, für die Migrantinnen und Migranten sowie Minderheiten jeden Tag den Preis zahlen, indem sie als »Nichtmitglieder« der nationalen Gemeinschaft angesehen werden. Aus diesem Grund, so argumentierten die Gründer von Podemos, gebe es für die Rechte nichts Beunruhigenderes als die Entstehung eines offenen und integrativen Verständnisses der Nation, mit dem sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur voll und ganz identifizieren können und bei dem »Liebe zum Land« beispielsweise bedeutet, für ein gutes Bildungs- und Gesundheitssystem zu kämpfen, statt die Grenzen dichtmachen zu wollen.
Nun darf nicht die Illusion entstehen, dass es sich dabei um eine einfache und risikolose politische Strategie handelt. »Magische Lösungen« gibt es in der Politik selten. Wenn es der Rechten gelungen ist, Hegemonie darüber zu erlangen, was die Zugehörigkeit (oder das Zugehörigkeitsgefühl) zu einem bestimmten Land ausmacht, braucht es eine Neubestimmung vieler Aspekte der nationalen Identität, um eine Gegenhegemonie aufzubauen – und eine solche Neubestimmung ist keineswegs einfach. Doch gerade, weil diese Neubestimmung wichtig ist, müssen die mit der politischen Entscheidung zur Gegenhegemonie verbundenen Probleme genau betrachtet und offen angesprochen werden.
Das erste Problem besteht darin, dass Gegenhegemonie eine erhebliche hegemoniale Stärke/Macht erfordert. Das Gedächtnis spielt hier eine wichtige Rolle: Wenn bestimmte Verständnisse und Bedeutungen von nationaler Identität tief im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft verankert sind, kann es sich als schwierig erweisen, diese zu ändern. Generell erfordert eine derartige Veränderung in der Regel viel Zeit und Macht. In dieser Hinsicht ist das Beispiel der italienischen Rechten aufschlussreich: Silvio Berlusconi und Matteo Salvini haben sich beide als sehr fähig erweisen, Bedeutung und Verständnis der italienischen Identität zu hegemonisieren und zu verändern. Sie konnten die italienische Identität vom früheren nationalen Mythos des Partisanen-Widerstands lösten und sie stattdessen mit Antikommunismus, Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und freiem Unternehmertum (im Fall von Berlusconi) sowie Xenophobie, Rassismus und Hass auf »die Anderen« (Salvini) anreichern. Erreicht wurde dies mit politischer und vor allem medialer Macht: Berlusconi kontrollierte die wichtigsten Fernsehsender des Landes und nutzte sie schamlos, um eine für seine Partei Forza Italia vorteilhafte Berichterstattung zu fördern. Salvini hingegen profitierte von der jahrelang aufgebauten rechten Dominanz in den sozialen Netzwerken, unterstützt von seinem aggressiven, skrupellosen und extrem teuren Social-Media-Apparat namens La Bestia.
Ohne politische oder mediale Macht ist es schwierig, die nationale Identität neu zu definieren (und solche Versuche können durchaus nach hinten losgehen). Aus den genannten Gründen ist nationale Identität eine mächtige Kraft. Sich mit ihr zu befassen, ist wie mit dem Feuer zu spielen. Wenn man die nationale Identität politisiert, um sie gegen die Rechte einzusetzen, es aber letztendlich nicht schafft, ihre Bedeutung in der Gesellschaft zu verändern, besteht die konkrete Gefahr, dass man dazu beigetragen hat, Wörter, Symbole und Formen der Zugehörigkeit zu »popularisieren«, die die Rechte dann weiter für ihre politischen Ziele ausnutzen kann und wird.
Ein weiteres Problem ist: Je mehr um- oder neu definiert werden muss, desto mehr deutet dies darauf hin, dass man sich mit den derzeitig fest eingebetteten Elementen der nationalen Identität offensichtlich nicht wohlfühlt. Dadurch riskiert man, sich von denjenigen Volksschichten zu entfremden, für die national-kulturelle Bezüge in der Regel geläufiger beziehungsweise »normaler« sind. Kurz gesagt: Wenn es nur wenige bereits vorhandene Elemente gibt, auf die man sich stützen kann, um ein linkes Verständnis von der Nation zu entwickeln, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass man ein solches Verständnis mit radikal neuen Bedeutungen konstruieren muss – und genau das kann zu Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit »national vorgeprägten« Gesellschaftsschichten führen. So muss ständig eine schwierige Balance gefunden werden zwischen der benötigten Neudefinition der nationalen Zugehörigkeit und des Nationalstolz’ mit progressiven Bedeutungen einerseits, und andererseits der Notwendigkeit, bestehende Worte, Symbole und kulturelle Bezüge der Menschen anzusprechen und zu verwenden.
Vor Jahren, als ich für meine Doktorarbeit über den Patriotismus von Podemos Parteimitglieder interviewte, sagten diese mir des Öfteren, wie viel Glück wir in Italien hätten. Dort sei es ihrer Meinung nach viel einfacher, die Deutungsmacht über die nationale Identität zurückzugewinnen. Schließlich hatte es in Italien Garibaldi sowie den Widerstand und Sieg über den Nazismus und Faschismus gegeben, aus dem das neue Italien hervorgegangen war. In Spanien gab es keine vergleichbaren historischen Referenzen und man war gezwungen, einen Patriotismus zu praktizieren, der zwar rhetorisch unterfüttert wurde, aber kaum auf kulturelle Symbole aufbauen konnte. Die Nationalflagge war beispielswiese zu eng mit der Monarchie verknüpft und daher schwer umzuinterpretieren. Podemos-Chef Pablo Iglesias führte den Aufstand in Madrid gegen die Invasion Napoleons im Jahr 1808 oft als Beispiel für spanischen Stolz an – doch dieser dürfte tatsächlich deutlich weniger symbolische Kraft haben als die italienische Resistenza im Zweiten Weltkrieg.
Ein letzter Punkt muss angesprochen werden: das Thema Migration. Europäische Länder sehen sich erheblichen Migrationsbewegungen gegenüber – trotz der kriminellen Versuche ihrer Regierungen, diese zu blockieren und damit das Mittelmeer zum nassen Grab tausender Menschen zu machen. Menschen mit diversen ethnokulturellen Hintergründen lassen sich zunehmend in westlichen Städten nieder und werden dort häufig Opfer von Armut, Diskriminierung und Ausbeutung. Wie kann die Linke ein verbindendes Verständnis der nationalen Identität schaffen, ohne die Augen vor diesen »anderen« Menschen zu verschließen?
»Für Mélenchon bedeutet ›Französischsein nicht, einer bestimmten Religion anzugehören oder eine bestimmte Hautfarbe zu haben oder bestimmte Gerichte zu kochen. Französin oder Franzose zu sein bedeutet, sich den Leitsätzen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit anzuschließen. Es ist dieser Universalismus der Französischen Revolution, der es Frankreich ermöglicht, ein kreolisiertes Land zu sein.‹«
Schon die Formulierung dieser Frage zeigt, dass wir den rechten Diskurs darüber, was es bedeutet, einem bestimmten Land anzugehören, zu einem gewissen Grad bereits verinnerlicht haben. Ethnisch-kultureller Pluralismus kann nur aus einer rechten Perspektive als »problematisch« für die Nation betrachtet werden. Ebendiese Auffassung in Frage zu stellen, ist daher ein zentraler Aspekt beim Aufbau von Gegenhegemonie. Jean-Luc Mélenchon und seine Partei in Frankreich zeigen, wie dies gehen kann. Die Vorstellungen von Frankreich und von französischem Nationalstolz, wie sie von La France Insoumise vertreten werden, umfassen explizit ethnischen und religiösen Pluralismus. Mélenchon hat sogar das Konzept der »Kreolisierung« übernommen, also einer kontinuierlichen Vermischung unterschiedlicher Einflüsse, die dann gemeinsam eine (neue) nationale Kultur bilden. In seinen Worten bedeutet »Französischsein nicht, einer bestimmten Religion anzugehören oder eine bestimmte Hautfarbe zu haben, bestimmte Gerichte zu kochen oder bestimmte Werke zu lieben. In dieser Republik Französin oder Franzose zu sein bedeutet, sich den Leitsätzen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit anzuschließen und das Gesetz zu respektieren. Es ist dieser Universalismus der Französischen Revolution, der es Frankreich ermöglicht, ein kreolisiertes Land zu sein.«
Es ist daher wenig überraschend, dass La France Insoumise trotz der ausgiebigen Verwendung nationaler Symbole und positiver Bezugnahmen auf Frankreich bei Wahlen gerade in den stark migrantisch geprägten Pariser Banlieues sehr gut abschneidet. Nun kann diese Strategie auf Probleme stoßen, wenn Migranten-Communities möglicherweise weniger auf die Verwendung bestimmter national-populärer Referenzen des »Gastlands« reagieren, da ihre eigenen kulturellen Referenzen andere sind. Daher nochmals: Es muss eine Balance gefunden werden zwischen der einen Notwendigkeit, nationale Zugehörigkeit und Nationalstolz auf eine Weise neu zu definieren, die Menschen mit Migrationshintergrund voll und ganz einbezieht, und der anderen Notwendigkeit, weiterhin Worte, Symbole und kulturelle Referenzen zu verwenden, die im breiteren Volk bekannt und »national-populär« sind.
Tatsächlich könnte dieses Ziel möglicherweise leichter zu erreichen sein als es zunächst scheint. Schließlich neigen Migrantinnen und Migranten im Gastland nicht selten aufgrund von Diskriminierung, fehlenden Ressourcen und begrenzten Möglichkeiten dazu, sich ohnehin in den unteren Schichten der Gesellschaft zu sozialisieren. Dadurch kommen sie häufig mit den besagten national-populären kulturellen und symbolischen Bezügen in Kontakt, die, wie bereits erwähnt, in der Arbeiterklasse stärker verbreitet sind und gepflegt werden als in der urbanen und höhergebildeten Mittelschicht.
»Ich möchte beweisen, dass man schwarz sein, aus der Vorstadt kommen, sich einfach kleiden und trotzdem Frankreich lieben kann. Denn Frankreich gehört uns allen!« Mit diesen Worten beendet Stéphane Blé seine erste Rede als Präsidentschaftskandidat in der französischen Netflix-Serie En Place. Stéphane ist Sozialarbeiter aus einem Vorort von Paris und Linker. Doch er ist desillusioniert vom Opportunismus, Zynismus und dem Mangel an Idealen der linken Mitte, weshalb er beschließt, selbst für die Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Mit dem Slogan »Frankreich für alle« beginnt Stéphane eine unkonventionelle und eigenwillige Wahlkampagne, die ihn im Verlauf der Serie tatsächlich dem Ziel näherbringt, Frankreichs erster schwarzer Präsident zu werden.
»Es braucht ein linkes Verständnis von Land oder Nation, das für eine integrative und progressive Gemeinschaft steht und gleichzeitig die rechte Vision der Nation angreift.«
Stéphanes Aussage fasst das zentrale Argument dieses Artikels gut zusammen: Es braucht ein linkes Verständnis von Land oder Nation, das für eine integrative und progressive Gemeinschaft steht und gleichzeitig die rechte Vision der Nation angreift. Dies ist eine notwendige Voraussetzung. Wie Michael Harrington in seiner Autobiografie schreibt: »Wenn die Linke dieses Land verändern will, weil sie es hasst, dann werden die Menschen der Linken nie zuhören; und die Menschen haben Recht damit.« Sein Land zu lieben bedeutet nicht, es so zu lieben, wie es ist, sondern, in Harringtons Worten, »den Samen unter dem Schnee zu spüren; unter den Schichten der Korruption und der Bösartigkeit und der Kommerzialisierung menschlicher Beziehungen Männer und Frauen zu sehen, die in der Lage sind, ihr eigenes Schicksal zu kontrollieren«. Es bedeutet also, aktiv daran zu arbeiten, das Land zu verändern, während man sich mit ihm identifiziert und es repräsentiert. Dies ist auch die tieferliegende Bedeutung der Aussage im Kommunistischen Manifest, das Proletariat müsse sich selbst »als Nation konstituieren« – und ein Echo auf die Ideale der Französischen Revolution.
Um politisch wirksam zu sein, darf ein innovatives Verständnis von Land und Nation der bestehenden [Mehrheits-] Gesellschaft und ihren Grundwerten nicht völlig fremd sein. Aus sozialistischer Sicht ist die Beziehung zwischen der gegenwärtigen und der zukünftigen Gesellschaft immer dialektisch. Marx stellte weder die Ziele der Moderne wie Freiheit und Fortschritt in Frage, noch die Mittel zu ihrer Erreichung wie die Entwicklung der Produktivkräfte. Aber er argumentierte, dass keines dieser modernen Ideale vollständig verwirklicht werden könne, ohne die gesellschaftliche Spaltung in Klassen zu überwinden. Um eine neue Vision für Land und Nation zu entwickeln, muss die Beziehung zum National-Populären ebenfalls dialektisch sein: Referenzen und Wörter werden aus der vorherrschenden Kultur übernommen, einige werden weiter genutzt, bei anderen wird versucht, ihre Bedeutung zu ändern, und neue werden hinzugefügt. Wie Gramsci uns lehrte, kann eine neue Gesellschaft nicht als Widerspruch oder Opposition zu den Gefühlen und Ansichten der Bevölkerung entstehen. Stattdessen müssen diese der Ausgangspunkt für einen neuen »kollektiven national-populären Willen« sein, mit dem sie überwunden und in eine neue Vision integriert werden.
»Ziel wäre ein Land, in dem die emotionale Bindung an das Land nicht mit dem Wunsch nach geschlossenen Grenzen gleichgesetzt wird, sondern mit einem Beharren auf der Würde der einfachen Menschen in diesem jeweiligen Teil der Welt, die die gesamte Gesellschaft durch ihre Arbeit aufrechterhalten.«
Es ist unbestreitbar, dass Patriotismus Risiken für die Linke birgt, da das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit heute in vielen europäischen Ländern nach rechts tendiert. Wenn man die politischen Waffen und Worte des Gegners benutzt, riskiert man, diese Waffen und Worte zu legitimieren, ohne sie zu ändern, und dabei die eigenen Werte oder den eigenen strategischen Horizont aus den Augen zu verlieren. Um diese Falle zu umgehen, ist eine umfassende und gegenhegemoniale Vision von der Nation erforderlich – und nicht ein sporadischer und rein strategisch-instrumenteller Einsatz der rhetorischen Waffen des Gegners. Eine linke Idee des Landes/der Nation sollte der rechten Vision entgegengesetzt werden, indem sie die Miseren, Heucheleien und Feindseligkeiten, die letztere bietet, aufdeckt und kritisiert. Die linke Version muss als attraktivere Alternative präsentiert werden. Ziel sollte nicht die ausgrenzende, ethnisch und kulturell homogene Nation sein, in der trotzdem jeder auf sich allein gestellt den Marktgesetzen ausgeliefert ist (wie es die Rechte propagiert), sondern eine solidarische Gemeinschaft, die das Land, in dem sie lebt, liebt und alle Formen von Diskriminierung und Marginalisierung ablehnt. Insgesamt wäre dies ein Land, in dem die emotionale Bindung an das Land nicht mit dem Wunsch nach geschlossenen Grenzen gleichgesetzt wird, sondern mit einem Beharren auf der Würde der einfachen Menschen in diesem jeweiligen Teil der Welt, die die gesamte Gesellschaft durch ihre Arbeit aufrechterhalten.
Dies bedeutet nicht, dass die Linke die politische Konfrontation ausschließlich auf die Frage der nationalen Zugehörigkeit verlagern sollte, und nicht einmal, dass sie ihr eine vorrangige politische Bedeutung beimessen sollte. Doch es muss anerkannt werden, dass die nationale Identität nicht losgelöst vom politischen Kampf steht, sondern vielmehr einer der Schauplätze ist, auf denen der Kampf um Hegemonie stattfindet. Es ist ein Schlachtfeld, das die Linke nicht aufgeben sollte; sie kann in diesem Bereich ihre eigenen Werte und Vorstellungen von Gemeinschaft einbringen und so verhindern, dass die Rechte allein entscheidet, wofür die Nation steht und wer ihr angehören soll.
Otto Bauer war der erste marxistische Politiker und Intellektuelle, der eine Abhandlung über Nationen aus marxistischer Perspektive verfasste. In seinen komplexen theoretischen Überlegungen kommt er zu dem Schluss, dass Nationalität letztlich ein instabiles Terrain ist, das sich stetig im Wandel befindet und das vom ständigen Konflikt zwischen Klassenstandpunkten erschüttert wird. Mit anderen Worten: Nationale Zugehörigkeit ist ein weiteres Schlachtfeld im Klassenkampf.
Aus all diesen Gründen reicht es nicht aus, nationales Interesse anzuerkennen und einfach mit linken Kämpfen zu verknüpfen. Denn ein solches nationales Interesse kann nicht von politischer Artikulation losgelöst sein. Das heißt: Was im besten Interesse der Nation ist, hängt davon ab, was die Nation ist und wo ihre politischen Grenzen gezogen werden. Es geht also nicht um ein Hinzufügen [linker Aspekte zum nationalen Diskurs], sondern um Hegemonie: Es geht darum, deutlich zu machen, dass die Kämpfe der Linken im nationalen Interesse liegen.
Tatsächlich sollte das selbstverständlich sein. Denn: wie könnten wir Maßnahmen wie Ausbau und Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens, der Schulen und des Verkehrswesens; eine geringere Steuerlast für die Arbeiterklasse und im Gegenzug höhere Steuern für diejenigen mit immensem Reichtum; die öffentliche Kontrolle über die nationale Energieerzeugung, um endlich einen echten ökologischen Wandel hin zu sauberer Energie zu schaffen; neue Gesetze, die sicherstellen, dass niemand aufgrund seiner sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität oder Hautfarbe diskriminiert oder angesichts von Armut, Zukunftsunsicherheit und Einsamkeit allein gelassen wird; und neue Arbeitsschutzmaßnahmen gegen kapitalistische Ausbeutung und Niedriglöhne nicht als einen wichtigen Kampf für die gesamte Nation, für »das Land« ansehen? Dies alles sind genuin linke Forderungen, die das Land zu einem besseren Ort zum Leben machen und eine neue Zukunftsperspektive geben, nachdem die Nation durch jahrzehntelange neoliberale Politik ausgelaugt, verscherbelt, verarmt und verbittert gemacht sowie enorme Ungleichheit und Ungerechtigkeit geschaffen wurden.
Ein national-populäres »Volksprojekt« kann linken Zielen zusätzlichen Sinn, Glaubwürdigkeit und Kraft verleihen, indem diese Ziele deutlich artikuliert und darüber hinaus in eine neue Vorstellung oder Interpretation der Nation integriert werden.
Jacopo Custodi ist Politikwissenschaftler an der Scuola Normale Superiore und Professor für vergleichende Politikwissenschaft an der Georgetown University. Zu seinen Büchern gehören »Un’idea di Paese. La nazione nel pensiero di sinistra« (Castelvecchi, 2023) und »Radical Left Parties and National Identity in Spain, Italy and Portugal« (Palgrave, 2024).