08. Februar 2025
Am 17. Dezember 2024 starb der österreichische Widerstandskämpfer Paul Vodicka im Alter von 96 Jahren. Sein Leben war geprägt vom Glauben an eine gerechtere Welt.
Paul Vodicka (1928–2024)
Paul Vodicka war ein Kind des Roten Wiens. Er wurde im März 1928 in Wien-Ottakring geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Bereits sein Großvater war in die Klassenkämpfe Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts involviert. Gemeinsam mit dem damaligen Ottakringer Bürgermeister Franz Schuhmeier beteiligte er sich an der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und deren Organisationsstruktur.
Vodickas Großeltern wohnten bis 1912 im Haus des Ottakringer Arbeiterheims. Seine Mutter war Schneiderin und sein Vater Werkmeister im Telegrafenbauamt der Post. Beide Elternteile engagierten sich in der Sozialdemokratie und gehörten dem sogenannten linken Flügel an. Nach den Ereignissen um den Schattendorfer Prozess 1927 traten sie und ihr Umfeld der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei. Der Prozess endete mit Freisprüchen für rechtsextreme Täter eines tödlichen Anschlags auf sozialdemokratische Arbeiter, was landesweite Proteste auslöste und schließlich im Wiener Justizpalastbrand gipfelte.
Vodickas Eltern beteiligten sich während der beiden faschistischen Perioden in Österreich im Widerstand und vertrieben bis 1942 die illegale Zeitung Rote Fahne. Sie versuchten, Paul und seinen jüngeren Bruder Walter von der politischen Tätigkeit fernzuhalten, aber da einige geheime Treffen in der Wohnung der Familie Vodicka stattfanden, wurde Paul Vodicka die spätere Widerstandstätigkeit quasi in die Wiege gelegt. In einem späteren Interview mit Charlotte Rombach für das Buch Widerstand und Befreiung. 1934-1945 beschreibt er diese Treffen:
»Wenn die Genossen kamen, wurde die Gangtür mit Decken zugedeckt, damit kein Laut, keine Gespräche hinausdringen konnten. Außerdem hörte mein Vater immer mit einem kleinen Volksempfänger London oder Moskau. Wir hatten eine Zimmer-Küche-Wohnung, 20 m² Küche, 20 m² Schlafzimmer. Mein Bruder und ich mussten während der Treffen ins Schlafzimmer gehen; dort war übrigens immer das Fenster leicht geöffnet, denn wenn schwere Stiefel über die Stiege heraufgekommen wären, dann wären die Genossen aus diesem Fenster gesprungen. Die Gefahr des Verrats war ja immer vorhanden. … Mein Bruder und ich haben natürlich alles beobachtet und verstanden, dass es hier gegen die Nazis ging. Ideologisch waren wir ja nicht geschult. Zu Hause wurde uns eingeschärft, in der Schule nichts über unsere Familie zu erzählen, nichts zu verraten und uns auf keine Diskussion einzulassen.«
Aufgewachsen im sozial benachteiligten Ottakringer Barackenhof und zugleich Schüler eines bürgerlichen Realgymnasiums und später einer Handelsakademie, erlebte Paul Vodicka früh die Gegensätze einer ungerechten Gesellschaft. Während er in der Schule als »rauer Bursche« vom Barackenhof galt, verspottete ihn die Nachbarschaft wegen seines Gymnasialbesuchs als »Milchkind«. Diese doppelte Perspektive schärfte sein Bewusstsein für soziale Ungleichheit.
»Mit Vodickas Tod verlieren wir nicht nur einen Genossen, sondern auch einen Chronisten und Kämpfer für ein freies, demokratisches und unabhängiges Österreich.«
Im Frühjahr 1943 musste Vodicka von der Schule aus eine vormilitärische, alpine Ausbildung absolvieren. Im Ausbildungslager wurden Härtetests durchlaufen, wie etwa das Bauen von Iglus, das Schlafen im Schnee und das Schießen mit Minenwerfern im Gebirge. Der Zweck des Lehrgangs war, Jugendliche für die SS zu begeistern. 51 der 54 Teilnehmenden verpflichteten sich für die SS; die drei »Verweigerer«, darunter auch Vodicka, mussten zum Sonderrapport antreten. Paul Vodicka schildert die Situation:
»Scherzl war der Erste und kam nach ca. einer Viertelstunde mit hochrotem Gesicht und Tränen in den Augen zurück. Er hat ›Ja‹ gesagt (ich habe ihn nach 1945 nie mehr gesehen). Der Zweite hat sich freiwillig zu den Fliegern gemeldet. Als ich schließlich als letzter dran gekommen bin, war ich neugierig, warum der Scherzl aufgegeben hatte. In dem Raum, in den ich aufgerufen wurde, war es schrecklich heiß, es hat sicher 40 Grad gehabt, die Platte eines kleinen Sparherds in der Ecke hat geglüht. Die Ausbildner sind nur in einer kurzen Klotthose gesessen und haben militärische Befehle gegeben: Niederlegen, Liegestütz, Kniebeugen usw. Sofort war ich schweißgebadet, nach kurzer Zeit bekam ich keine Luft mehr und mein ganzer Körper war schwer wie Blei. Als mir ein Napola [Anmerkung: Eliteschule für Nationalsozialisten]-Schüler in den Rücken trat, hatte ich genug. Ich sagte ihnen – was wollt ihr eigentlich, ich habe mich ja schon freiwillig zur Marine gemeldet! – was aber nicht wahr war. Der Scharführer meinte daraufhin, das würden sie schon noch überprüfen.«
Vodicka meldet sich tatsächlich freiwillig zur Marine. Er hoffte aufgrund seiner schulischen Kenntnisse in der Wirtschaftsabteilung arbeiten zu können. Im Sommer 1943 wurde er jedoch zur dreiwöchigen Marine-Kadettenausbildung einberufen. Die Handelsakademie konnte Vodicka aufgrund seiner illegalen Widerstandstätigkeiten, die größtenteils nachts oder frühmorgens stattfanden vorerst nicht abschließen.
Ein zentraler Bestandteil seiner politischen Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs war die Aufklärungsarbeit. Dafür wurden Flugblätter verteilt. Der Stiefvater von Kurt Schulhof, seinem Schulkollegen und Genossen im Kommunistischen Jugendverband bekannt als »Genosse Schuch«, der bereits Jüdinnen und Kommunisten versteckt hatte, war für die Materialbeschaffung und den Kontakt zur Kommunistischen Partei zuständig. Vodicka beschreibt den Ablauf der Verteilung von Flugblättern:
»Ja, wir haben zum Beispiel kleine Flugblätter in den Straßenbahnen verteilt bzw. fallen lassen. Dazu war es aber notwendig, von der fahrenden Straßenbahn abzuspringen. Das haben wir trainiert. Wir haben folgende Taktik gehabt: Zu zweit haben wir uns zeitig in der Früh, wenn viele Leute in die Arbeit gefahren sind, eine Straßenbahn ausgesucht. Einer von uns ist dann auf der hinteren Plattform mit einem Haken gestanden, der andere ist von der vorderen Plattform durch den überfüllten Wagen gegangen und hat die Flugblätter einfach auf den Boden fallen lassen. Nachdem er raus gegangen war, hat der zweite Genosse die Türe geschlossen und den Haken davor befestigt, sodass man die Tür von innen nicht aufmachen konnte. Gleichzeitig hielt er einen Ausgang frei, und dann sind wir beide abgesprungen. Natürlich war das gefährlich, es ist uns aber nie etwas passiert.«
Der Kommunistische Jugendverband (KJV) führte diverse solcher Aktionen bis 1943 durch und finanzierte sie mit Spenden von Familien und der Roten Hilfe. Aber es blieb nicht beim Verteilen von Flugblättern. Aufgrund des Mangels an Lebensmitteln war der Hunger für viele Familien groß, pro Person und Woche wurden 10 dag Wurst oder Fleisch rationiert. Als die KJV-Gruppe erfuhr, dass Lebensmittelkarten in einem NSDAP-Parteilokal in der Ecke Hernalser Hauptstraße-Kalvarienberggasse wurden, knackte ein Gruppenmitglied – er war Schlosser – das Türschloss. Damit konnten einige Lebensmittelkarten ergattert und an Familien verteilt werden.
»Ihr Einsatz war nicht nur ein Akt des Widerstands, sondern ein Ausdruck von Menschlichkeit und Solidarität in einer Zeit voller Schrecken.«
Es gab auch Mitglieder im KJV, die sich in anderen Organisationen engagierten, wie zum Beispiel in der »Wiener Mischlingsliga«. Die Mischlingsliga war eine illegale Organisation, die von Jüdinnen und Juden gegründet wurde, die einen nicht-jüdischen Elternteil hatten. Sie galten gemäß den Nürnberger Gesetzen als »nicht arisch«. Wegen eines Spitzels wurden 16 Mitglieder, unter ihnen Vodickas Genossen Kurt Schulhof und Otto Horn, verhaftet. Schulhof und Horn konnten ihre Mitgliedschaft im KJV verschleiern und wurden im Vergleich zu den anderen Angeklagten milde verurteilt.
Im Sommer 1944 erhielt Paul Vodicka einen Einberufungsbefehl in die Kaserne nach Stralsund an der Ostsee. Um der Einberufung zu entgehen, täuschte er eine Blinddarmentzündung vor und gewann so etwas Zeit. Doch der nächste Einberufungsbefehl kam, Vodicka tauchte unter, versteckte sich bei Freunden in Wien und entzog sich so zunächst dem Zugriff der Behörden. Schließlich wurde er im Oktober 1944 verhaftet und in ein Straflager für jugendliche Wehrdienstverweigerer gebracht. Dort erfuhr er, dass sein Bruder Walter und einige seiner Freunde zum Schützengrabenbau abkommandiert worden waren. Vodicka verletzte sich selbst, um in ein nahegelegenes Lazarett verlegt zu werden. Von dort aus organisierte er mit seinem Bruder einen Aufstand, der die Arbeiten zum Stillstand brachte.
Sie tauschten die Werkzeuge gegen Wein bei den umliegenden Bauern ein, machten die »Schanzer« – so wurde die Arbeiter in den Schützengräben bezeichnet – betrunken und verursachten so ein Chaos, dass die Baustelle aufgegeben und alle Arbeiter nach Hause geschickt werden mussten. Dennoch wurde Vodicka zurück zu seiner Einheit beordert. Durch einen gefälschten Überweisungsschein in ein Krankenhaus gelang ihm die Flucht nach Hause. In der Nacht darauf wurde er jedoch erneut verhaftet.
Zur Strafe wurde er als Frontberichterstatter nach Ungarn geschickt. Nach sechs Wochen desertierte er erneut und kehrte nach Wien zurück. Zu Hause erfuhr er, dass sein Bruder zum Volkssturm eingezogen worden war. Er sollte am Ende des Ottakringer Friedhofs für den Einsatz gegen russische Panzer ausgebildet werden. Die illegale Widerstandsgruppe seiner Mutter beschloss, Walter und andere aus ihrer Nachbarschaft zu retten. Während eines Marsches flohen Walter und drei weitere Jungen in HJ-Uniform getarnt und versteckten sich auf einem Dachboden in Wien.
Im Frühjahr 1945 stand Wien vor der entscheidenden Frage, ob die Stadt das Kriegsende kampflos erleben oder in ein blutiges Schlachtfeld verwandelt werden würde. Der 16. Wiener Gemeindebezirk, Ottakring, blieb weitgehend unversehrt – ein Umstand, der den mutigen Aktionen des kommunistischen Widerstands und insbesondere dem Sanitätsunteroffizier Heinrich Klein zu verdanken war. Klein, der im März 1945 desertiert war, hatte Verbindungen zum KJV. Zusammen mit weiteren Widerstandskämpferinnen und -kämpfern organisierte er eine großangelegte Entwaffnungsaktion der zurückflutenden Wehrmachtssoldaten.
Das Motto des Widerstands war klar: »Wien darf kein zweites Budapest werden«. Die Schrecken der ungarischen Hauptstadt, die in den erbitterten Kämpfen zwischen der Roten Armee und der Waffen-SS weitgehend zerstört wurde, waren ein warnendes Beispiel. Dort hatten Menschen tagelang in Kellern verharrt, während Kinder und Alte verhungerten oder verdursteten. Diese Szenarien galt es in Wien um jeden Preis zu verhindern.
Am Sandleitenkino, einem zentralen Ort des Ottakringer Bezirks, positionierte sich die Widerstandsgruppe, um die zurückkehrenden Soldaten zu überreden, ihre Waffen abzugeben. Der Beginn war schwierig, da die Wehrmachtssoldaten gut bewaffnet und zunächst misstrauisch waren. Hinzu kam die Angst vieler Soldaten, als Verräter erschossen zu werden, wenn sie ohne Waffe in Uniform angetroffen werden würden. Doch durch geschicktes Vorgehen gelang es der Gruppe, die Situation zu entschärfen.
»Paul Vodickas Leben ist ein leuchtendes Beispiel für den unermüdlichen Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit – Werte, die angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit und des Erstarkens rechtsextremer Bewegungen aktueller denn je sind.«
Heinrich Klein und seine Mitstreitenden hatten eine simple, aber wirkungsvolle Idee: Sie brachen in eine nahegelegene Spinnstoffsammelstelle der NS-Volkswohlfahrt gegenüber dem Sandleitenkino ein, und boten den Soldaten Zivilkleidung an. Der Tausch »Waffe gegen Zivilgewand« machte es den Soldaten leichter, ihre Uniformen und damit auch den Kampf hinter sich zu lassen. Paul Vodicka beschrieb später, wie sich innerhalb kürzester Zeit vor dem Kino ein Berg aus Gewehren, Pistolen und sogar Maschinengewehren auftürmte – ein sichtbares Zeichen der Entwaffnung, das andere Soldaten zum Nachgeben bewegte.
Auch eine von Heinrich Klein organisierte List trug wesentlich zum Erfolg bei. Mithilfe seiner Position in einer Schreibstube fälschte er einen Befehl des Gauleiters Baldur von Schirach, in dem eine Verlegung der Hauptkampflinie an den Gürtel angeordnet wurde. Dieser gefälschte Befehl führte dazu, dass sich die SS aus den Randgebieten der Stadt in Richtung Stadtkern zurückzog, wodurch Ottakring und das angrenzende Hernals kampflos aufgegeben wurden.
Die heftigen Kämpfe begannen erst wieder am Gürtel, wo die Rote Armee auf den letzten Widerstand der SS stieß. Diese mutigen Taten verdeutlichen das Engagement von Menschen wie Paul Vodicka, Heinrich Klein und anderen, die durch ihren Widerstand und ihre Entschlossenheit den Grundstein für ein friedlicheres Ende des Krieges in Wien legten. Ihr Einsatz war nicht nur ein Akt des Widerstands, sondern ein Ausdruck von Menschlichkeit und Solidarität in einer Zeit voller Schrecken.
Nach dem Krieg setzte Paul Vodicka all seine Kraft in den Wiederaufbau der zerstörten Stadtteile Wiens und half unermüdlich bei der Versorgung der Wiener Bevölkerung mit Lebensmitteln. Als Mitbegründer der Freien Österreichischen Jugend (FÖJ) wurde ihm ein ehemaliges Hitlerjugend-Heim, das zuvor von der HJ abgefackelt wurde, anvertraut. Er verwandelte es in ein Jugendzentrum für alle Ottarkringerinnen und Ottakringer. Beruflich begann Vodicka ab Dezember 1945 als Mitarbeiter der ersten illustrierten Jugendzeitung Jugend und blieb dort bis Ende 1948 tätig. Von 1949 bis 1956 arbeitete er als Buchhalter in der Verwaltung der sowjetischen USIA-Betriebe und bei der Firma Metallcommerz. Nach deren Auflösung übernahm er die Geschäftsführung der Almeco Großhandels GmbH, bevor er sich nach seiner Pensionierung ehrenamtlich als Journalist engagierte. Für den Verlag Tribüne der Wahrheit arbeitete er viele Jahre und fungierte bis 2010 sogar als Herausgeber.
Bis ins hohe Alter blieb Paul Vodicka ein aktiver Teil der kommunistischen und antifaschistischen Bewegung. Er führte Gespräche als Zeitzeuge in Schulen, arbeitete an Bildungsprojekten und half jungen Menschen, die antifaschistische Geschichte Wiens zu erforschen. Sein Zuhause in Ottakring diente als Treffpunkt für Gleichgesinnte, und seine Erinnerungen sowie seine Bücher waren für viele eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Für ihn war Antifaschismus kein isoliertes Anliegen, sondern eng verknüpft mit dem Kampf gegen Krieg und Ausbeutung.
Paul Vodickas Leben ist ein leuchtendes Beispiel für den unermüdlichen Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit – Werte, die angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit und des Erstarkens rechtsextremer Bewegungen aktueller denn je sind. Mit seinem Tod verlieren wir nicht nur einen Genossen, sondern auch einen Chronisten und Kämpfer für ein freies, demokratisches und unabhängiges Österreich.
Sein Vermächtnis bleibt jedoch bewahrt: In Form einer Audioinstallation im Bezirksmuseum Ottakring und auf der Sandleitenbank am Matteottiplatz wird Paul Vodickas Engagement auch zukünftige Generationen an seine Ideale und seinen Einsatz erinnern.
Hasan Ulukisa ist Medienkünstler und Referent für Kultur in der Arbeiterkammer Linz.