19. Juli 2023
Paulo Freire wollte durch Bildung die Unterdrückten ermächtigen. Darum haben die Rechten es bis heute auf ihn abgesehen.
»Freire kämpfte gegen das, was er als ›Bankiers-Erziehung‹ bezeichnete.«
Illustration: Marie SchwabDer brasilianische Philosoph Paulo Freire, der vor allem durch seine meisterhafte Pädagogik der Unterdrückten bekannt wurde, ist noch heute ein Vorbild für Lehrerinnen und Lehrer, die in armen Gemeinden auf der ganzen Welt arbeiten – und für so ziemlich alle, die in unserer ungerechten Welt nach einem Sinn für Gerechtigkeit suchen.
Jede kritisch eingestellte Pädagogin ist schon einmal mit Freire in Berührung gekommen. Viele wird er überhaupt erst dazu angeregt haben, die Bildung als eine Möglichkeit zu betrachten, um gegen gesellschaftliche Machtasymmetrien vorzugehen. Andere haben vielleicht schon einmal seine Methoden im Unterricht angewandt, um Einblicke in die verkehrte Welt der Unterdrückten zu eröffnen. Freires Programme zur Alphabetisierung der Bauernschaft finden heute überall auf der Welt Nachahmung. Seine Pädagogik der Unterdrückten ist gegenwärtig das am dritthäufigsten zitierte Werk in den Sozialwissenschaften und die Nummer eins im Bereich Bildung.
Freires Berühmtheit hat ihn in seinem Heimatland für die einen zum Propheten und für die anderen zur Zielscheibe gemacht. Er ist ins Visier von Rechtsextremen und Wirtschaftsliberalen geraten, und Jair Bolsonaro behauptete, das brasilianische Schulsystem sei aufgrund von Freire zu einer Institution marxistischer Indoktrination verkommen.
Bolsonaro und die rechte Bewegung Escola sem Partido hatten Schülerinnen und Schüler dazu ermutigt, Lehrkräfte während des Unterrichts zu filmen, wenn sie vermuteten, diese würden eher linke Positionen vertreten oder gar von Freire inspirierte politische oder soziale Ansichten verbreiten. Ein Abgeordneter aus Bolsonaros Partei hatte sogar einen Gesetzentwurf eingebracht, um Freire seinen Ehrentitel als »Schutzpatron der Bildung Brasiliens« abzuerkennen.
Auch US-amerikanische Konservative sind auf den Freire-Bashing-Zug aufgesprungen. So findet sich in einer Ausgabe des Economist zum Thema »Die Bedrohung durch die illiberale Linke« ein Artikel über »woke Kultur«, der fälschlich behauptet, Freires Pädagogik stände im Zeichen von Maos Kulturrevolution. Als Beleg führt der Artikel eine einzelne Fußnote in der Pädagogik der Unterdrückten an. In Wirklichkeit basierte Freires Arbeit auf Solidarität mit den Massen und wandte sich gegen die Art von Gewalt, die mit der Kulturrevolution in China einherging.
Warum also haben es Bolsonaro und der Economist auf Freire abgesehen? Was an seinen Ideen finden sie derart bedrohlich?
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Peter McLaren ist Co-Direktor des Paulo Freire Democratic Project und internationaler Botschafter für Globale Ethik und Soziale Gerechtigkeit. Er ist einer der weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der kritischen Pädagogik und Autor von mehr als vierzig Büchern.