26. September 2023
Nach dem Ersten Weltkrieg war die Bauern- und Arbeiterbewegung kaum irgendwo so gut organisiert wie in Bulgarien. Von dort aus sollte die Revolution nach ganz Europa exportiert werden. Doch nicht mal ein Jahrzehnt später war die Linke des Landes am Boden.
»Die Politik der permanenten Revolution in Bulgarien endete damit, dass Zehntausende starben oder emigrierten, die kommunistische Partei dezimiert wurde und für einen längeren Zeitraum von der politischen Bühne verschwand.«
Collage: Zane Zlemeša»Heute gibt es nur zwei interessante soziale Experimente: Lenins und meins«, sagte einst Aleksandar Stambolijski, Vorsitzender des Bulgarischen Bauernvolksbundes (BZNS), der das Land nach dem Ersten Weltkrieg regierte. Stambolijski hatte offensichtlich große Ambitionen mit seiner Regierung.
Dieser gelang es, tiefgehende Landreformen sowie Veränderungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Steuern und Recht durchzusetzen. Sie kamen insbesondere den Bäuerinnen und Bauern zugute, die zum damaligen Zeitpunkt rund 80 Prozent der bulgarischen Bevölkerung ausmachten. Der BZNS probierte dabei kein rein sozialistisches Konzept aus, sondern suchte einen »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Bolschewismus. Das brachte ihm allerdings auch Streit mit der anderen großen linken Kraft ein, der Bulgarischen Kommunistischen Partei. Letztendlich kam es zum großen konterrevolutionären Gegenschlag seitens der anderen Parteien.
Aktuell jähren sich der Militärcoup, mit dem Stambolijski am 9. Juni 1923 gestürzt wurde, sowie der folgende, aussichtslose September-Aufstand zum einhundertsten Mal. Der Aufstand wird oft – wenn auch etwas übertrieben – als einer der ersten »antifaschistischen« Aufstände in Europa gefeiert. Die Folgen waren blutig und markierten den Beginn eines De-facto-Bürgerkriegs in Bulgarien, der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs andauerte.
Während des Ersten Weltkriegs war der BZNS die wichtigste Antikriegspartei und nach der Niederlage der Mittelmächte im Jahr 1918 die dominierende Kraft in der bulgarischen Politik. Bei den ersten Nachkriegswahlen 1919 erhielt er rund 27 Prozent der Stimmen, 1920 waren es 39 Prozent und 1923 ganze 54 Prozent. Aufgrund des geltenden Mehrheitswahlsystems erlangte der Bund damit die absolute Kontrolle über das Parlament und die Möglichkeit, seine Ideologie einer Diktatur der Bauernschaft durchzusetzen. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen riefen starken Widerstand hervor. Bemerkenswerterweise wagten es jedoch selbst die Anführer des Putsches vom Juni 1923 nicht, die meisten dieser Reformen rückgängig zu machen, selbst, nachdem der BZNS offiziell aufgelöst worden war.
Der König von Bulgarien hielt sich aus den politischen Angelegenheiten offiziell heraus, gab aber grünes Licht für den Putsch – obwohl der grundsätzlich republikanisch gesinnte Stambolijski die Monarchie nie infrage gestellt hatte. Der Putsch, mit dem das Land vor einer Diktatur »gerettet« werden sollte, schuf seine eigene. Er war erfolgreich und relativ unblutig, unrechtmäßig war er aber dennoch: Es kam zu einer gewaltsamen Machtübernahme, die landesweit größte Partei wurde zerschlagen und in der überwiegend landwirtschaftlich geprägten Region eine Diktatur der Stadt über das Land errichtet.
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Maria Todorova ist die Autorin von The Lost World of Socialists at Europe’s Margins: Imagining Utopia sowie Die Erfindung des Balkans: Europas bequemes Vorurteil.