19. April 2020
Bis 2050 könnten 10 Millionen Menschen an antibiotikaresistenten Krankheitserregen sterben. Trotz Fortschritten bei neuen antibakteriellen Wirkstoffen sieht die Privatwirtschaft zu wenig Profitpotenzial, um in solche Medikamente zu investieren.
Apotheke.
Während das Coronavirus weltweit menschliches Leiden verursacht, könnte Optimismus in Fragen der öffentlichen Gesundheit deplatziert wirken. Doch es gibt tatsächlich gute Nachrichten: Dieses Jahr wurde weltweit zum ersten Mal ein antibakterieller Wirkstoff mit den Methoden der künstlichen Intelligenz entwickelt – ein wirklich erstaunlicher Durchbruch und Beispiel dafür, dass uns die Technologie des maschinellen Lernens außerordentlichen Nutzen bringen kann.
Die Entdecker des neuen Wirkstoffs am Massachusetts Institute of Technology tauften ihn Halicin, nach dem mordenden Computersystem HAL aus 2001: Odyssee in Weltraum. Und Halicin ist tatsächlich ein echter Killer. Er wirkt zuverlässig und effektiv gegen eine Vielzahl multiresistenter Bakterienstämme, darunter Varianten des Mycobacterium tuberculosis, den Krankheitserreger von Tuberkulose, sowie zwei der Top-Prioritäten der Weltgesundheitsorganisation in der Erforschung von Infektionskrankheiten: Acinetobacter baumannii and Enterobacteriaceae. Beide haben Stämme ausgebildet, die gegen Carpabeneme, einer Art von »Notreserve-Antibiotika«, die unsere letzte Verteidigungslinie gegen multiresistente Keime bilden, resistent sind.
Um in Datensätzen Muster und Zusammenhänge zu identifizieren, trainierten die Forscher am MIT ein künstliches neuronales Netzwerk – ein computergestütztes Lernsystem, welches einfache, aber miteinander verbundene Zellen kombiniert, die als Informationsverarbeitungseinheiten dienen und in ihrer Struktur den Nervenzellen im Gehirn von Tieren ähneln. Dieses neuronale Netzwerk lernte auf der Basis eines Datensatzes von tausenden verschiedenen Molekülen, darunter bereits zugelassener Antibiotika, aber auch solche Substanzen, von denen bekannt ist, dass sie für Bakterien unschädlich sind. Das dabei entstehende Modell muss nicht auf die Expertise von Molekularbiologinnen mit Verständnis über die Funktionsweise von Antibiotika zurückgreifen, sondern identifiziert Muster, die menschlichen Expertinnen möglicherweise entgehen würden.
Dieser digitale Spürhund wurde darauf trainiert, die »antibiotika-artigen« Eigenschaften von Substanzen gewissermaßen zu erschnüffeln, und wurde anschließend auf etwa 6.000 Kandidatenmoleküle losgelassen, deren pharmazeutische Wirkung gerade erforscht wird. Ziel war es, Verbindungen zu identifizieren, die gegen Kolibakterien wirksam sein könnten, und dabei Moleküle zu bevorzugen, von denen einerseits eine starke antibakterielle Wirkung zu erwarten war, die aber andererseits keinem bekannten Antibiotikum ähnelten.
Die so identifizierten Kandidaten an Substanzen wurden anschließend an Mäusen getestet. Eine von ihnen war nicht nur gegen eine große Anzahl von Krankheitserregen effektiv, sondern dabei auch noch gut verträglich und – wegen seines neuartigen, antibakteriellen molekularen Mechanismus – robuster gegen die Entwicklung von Resistenzen.
Zuletzt neuentdeckte Antibiotika haben nämlich den Nachteil, dass sie starke Ähnlichkeiten zu bereits verwendeten Medikamenten aufweisen. Dies bedeutet, dass Bakterienstämme oft nur ein paar Tage brauchen bis sie dank einer Mutation den neuen Wirkstoff umgehen und sich so eine neue Resistenz ausbildet. Doch bei den durch Algorithmen entdeckten und grundlegend verschiedenen Antibiotika fällt dieser evolutionäre Anpassungsprozess den Bakterien wesentlich schwerer. Die Forscher berichten, dass selbst nach 30 Tagen keinerlei Anzeichen auf eine Halicin-Resistenz zu erkennen waren.
Nach seinem ersten Erfolg wurde der algorithmische Spürhund auf eine größere Sammlung von 1,5 Milliarden chemischen Verbindungen losgelassen. Unter den ersten 100 Millionen wurden 23 potenzielle Kandidaten identifiziert, zwei davon scheinen besonders effektiv zu sein.
Als nächstes möchten die Forscher die neue Technik dazu einsetzen, Antibiotika zu finden, die bestimmte Bakterienarten gezielt attackieren und dabei die nützliche Darmflora unbeschädigt lassen.
Künstliche Intelligenz wurde bereits zuvor in der Antibiotikaforschung eingesetzt. Die Wissenschaftler am MIT nennen solche Verfahren »in silico«-Screening, statt in vivo (Forschung an lebenden Organismen) oder in vitro (Forschung »im Glas«, also in Petrischalen, Kolben, etc.). Doch Vorgängermodelle waren auf Vorannahmen, die von Expertinnen formuliert werden mussten, angewiesen. Keine der Vorgängerarbeiten konnte durch solche Verfahren ein hinreichend starkes Antibiotikum identifizieren. Im Gegensatz dazu hält James Collins, Bioingenieur und Teamleiter der Studie, Halicin für eines der stärksten, jemals entdeckten Antibiotika.
In ihrem Artikel über die Entdeckung von Halicin in der Fachzeitschrift Cell beschreiben die Forscherinnen, dass eine wesentliche Motivation für die neue Methodik das »abnehmende Engagement der Privatwirtschaft in der Entwicklung neuer Antibiotika aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Anreize« war. Sollte die dringend notwendige Forschung an neuen Antibiotika nicht erfolgen, sagen Gesundheitsbehörden voraus, dass im Jahr 2050 zehn Millionen Menschen pro Jahr an antibiotikaresistenten Krankheitserregen sterben könnten.
Diese vermeidbare, jährliche Katastrophe könnte deshalb Wirklichkeit werden, weil es schlicht und einfach nicht profitabel genug ist, an einem pharmazeutischen Produkt zu forschen, es zu testen und herzustellen, wenn das Produkt für nur ein paar Wochen oder maximal Monate gekauft werden muss, um eine Infektion zu besiegen und zudem noch umso besser funktioniert, je weniger Menschen es nutzen. Die Funktionsweise von Antibiotika steht im diametralen Gegensatz zur Funktionsweise des freien Marktes.
Hinzu kommt, dass es sehr schwierig und zunehmend vertrackt ist, neue Antibiotika zu entdecken. Oftmals wird dasselbe, bereits bekannte Molekül wieder- und wiederentdeckt. Doch neue Versionen bereits bekannter Antibiotika »scheitern sehr viel öfter, als dass sie vielversprechende Ergebnisse liefern«, beklagen die Autorinnen des Artikels über Halicin in Cell.
Letztendlich ist laut den Autorinnen das Problem von Antibiotikaresistenzen auf die mangelnde Initiative der Privatwirtschaft zurückzuführen: »Wir sehen uns mit einer zunehmenden Antibiotikaresistenzkrise konfrontiert, die sowohl das Resultat einer immer größeren Anzahl von resistenten Krankheitserregen als auch einer anämischen Produktentwicklungskette für neue Antibiotika in der biotechnischen und pharmazeutischen Industrie ist«, so James Collins, Mitautor der Halicin-Studie.
Im Klartext: Viele Pharmaunternehmen haben die Entwicklung und Herstellung neuer Antibiotika ganz aufgegeben, da es keinerlei kommerziellen Sinn ergibt, ein Medikament herzustellen, dass umso besser funktioniert, je weniger Patientinnen es einnehmen, und das lediglich für ein paar Wochen oder Monate verschrieben wird. Medikamente für chronische Erkrankungen, die von Patientinnen täglich und lebenslang eingenommen werden müssen, sind sehr viel profitabler. Die Pharmaindustrie hat das Geschäftsfeld der Antibiotikaentwicklung vor drei oder vier Jahrzehnten mehr oder weniger vollständig geräumt, um sich gewinnbringenderen Bereichen der Medizin zuzuwenden.
Noch gibt es kleine und mittelständische Unternehmen, häufig Ausgründungen von Universitäten oder öffentlichen Forschungseinrichtungen, die versuchen, die Lücke zu füllen. Doch ihnen fehlen das nötige Kapital und andere Ressourcen, um über frühe Entwicklungsphasen hinauszukommen. Manche Forscherteams haben sich auf mögliche Alternativen zu Antibiotika, wie etwa Bakteriophagen, Antikörper-Therapien, Probiotika oder Endolysine, konzentriert. All diese Optionen sind vielversprechend, doch ihre Weiterentwicklung scheitert am gleichen Marktversagen wie die Entdeckung neuer Antibiotika.
Forscherinnen hoffen mit den neuartigen Methoden der künstlichen Intelligenz die Rate, mit der potenzielle Antibiotika identifiziert werden können, zu erhöhen und so die Entwicklungskosten stark zu senken. Indem die Kapitalintensität früher Forschungsphasen verringert wird, so die Hoffnung, könnten Antibiotikaentwicklung und -herstellung für die Pharmaindustrie wieder attraktiver werden.
Die Pressemitteilung des MIT über die Entdeckung von Halicin suggeriert, dass die Methodik eine »neue Pipeline« oder sogar »ein neues Paradigma« für die Entdeckung von Wirkstoffen darstellt. Die Forscher hoffen auch, dass derselbe Ansatz auf andere Medikamentengruppen angewendet werden könnte und so zu neuen Mitteln gegen Krebs oder neurodegenerative Erkrankungen führen könnte.
Doch das grundlegende Problem wird hierdurch lediglich gelindert, nicht gelöst.
Dasselbe altbekannte, inhärente Marktversagen, das nicht nur Antibiotika, sondern auch Antimykotika, Impfstoffe, vernachlässigte Tropenkrankheiten, Diagnosemethoden für Entwicklungsländer und den Kampf gegen besonders gefährliche Krankheitserreger (wenn wir es nicht gerade mit einem akuten Ausbruch zu tun haben) betrifft, lässt sich durch die neuen algorithmischen Methoden nicht umgehen.
Die ganze Pharmabranche verstaatlichen? Das wäre doch, na ja, Sozialismus!
Wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung nicht profitabel (oder nicht profitabel genug) ist, wird kein Unternehmen es herstellen. Das Führungspersonal von Kapitalgesellschaften hat sogar eine gesetzliche Verpflichtung, genau dies nicht zu tun.
Der Versuch, die Entdeckung von Antibiotika mithilfe künstlicher Intelligenz günstiger zu machen, ist aller Ehren wert. Doch ändert er nichts daran, dass, egal wie kostengünstig ein Teil des Produktionsprozesses ist, ein Produkt nicht auf den Markt kommen wird, wenn seine Herstellung insgesamt nicht wirtschaftlich ist.
So umfasst die Entdeckung eines neuen Wirkstoffs nur einen Teil der gesamten Produktionskosten. Klinische Studien sind unglaublich teuer, und auch die Produktion sowie der Vertrieb von Medikamenten sind mit Kosten verbunden. Seine Entdecker hoffen nun, Halicin in Zusammenarbeit mit einem Pharmakonzern oder, was wahrscheinlicher erscheint, mit einer gemeinnützigen Organisation auf den Markt zu bringen.
Medizinische Hilfsorganisationen, internationale Wohltätigkeitsnetzwerke und philanthropische Milliardäre füllen zunehmend die Lücken, die in der medizinischen Forschung, Industrie und Infrastruktur weltweit entstanden sind. Zahlreiche Fachberichte empfehlen eine Reihe von Korrekturen für das weitreichende pharmazeutische Marktversagen, wie etwa eine Erhöhung der Subventionen für Privatunternehmen, Mittelerhöhungen für die Forschung, steuerliche Anreize, Preisgelder für die Verbesserung bestimmter medizinischer Indikatoren, beschleunigte Zulassungsverfahren, Marktzuteilungen im Voraus oder reguläre Versicherungsprämien an die Pharmaindustrie zur Entwicklung neuer Antibiotika.
In den letzten zehn Jahren wurde auf das immer gravierendere Problem von Antibiotikaresistenzen mit mehr als fünfzig nationalen und internationalen Großoffensiven reagiert, um das Marktversagen irgendwie aufzufangen und die Entwicklung neuer Medikamente zu fördern, darunter die Programme Joint Programming Initiative on Antimicrobial Resistance (JPIAMR) und New Drugs for Bad Bugs (ND4BB). Die Generalversammlung der Vereinten Nationen diskutiert das Problem auf höchster Ebene und Spitzenpolitikerinnen bezeichnen Antibiotikaresistenzen immer öfter als Top-Priorität.
Alle diese Initiativen sind hilfreich und zu begrüßen, doch ändern sie nichts an der Grundproblematik – ganz im Gegensatz zu einer denkbaren vollständigen Dekommodifizierung der pharmazeutischen Industrie. Anders ausgedrückt: Man könnte den ganzen Pharmasektor dem Markt entziehen, so wie etwa in vielen Ländern Feuerwehren vollständig außerhalb des Marktes operieren, und die Branche als Dienstleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge betreiben. Alle Analystinnen schränken das Problem von vornherein darauf ein, die richtigen Anreize für die Privatwirtschaft zu schaffen. Die Möglichkeit, dass das Problem allein aus der bloßen Existenz einer profitorientierten Pharmaindustrie entsteht wird nicht in Betracht gezogen.
Seit einiger Zeit gibt es von Forscherinnen und Gesundheitsökonominnen vorsichtige Bestrebungen, Vorschläge für öffentliche Pharmaunternehmen zu erarbeiten. Dies käme einer echten Problemlösung wesentlich näher, ließe jedoch die private Pharmaindustrie unberührt.
Wir sollten uns vor dem Wort Verstaatlichung nicht fürchten. Eine Übernahme des gesamten Pharmasektors durch die öffentliche Hand würde es ermöglichen, die Einnahmen aus profitablen Produkten in die Forschung an unprofitablen Medikamenten (die möglicherweise nie Geld einbringen werden) zu investieren, ohne dass die Existenz von Unternehmen gefährdet wird. Dies wäre die effizienteste und fairste Option zur Lösung des Problems. Warum sollten sich Privatunternehmen die profitablen Sparten der Pharmazie herauspflücken dürfen, während die Steuerzahlerinnen auf den Ausgaben für unprofitable Medikamente sitzen bleiben?
Wir können es den Politikberaterinnen, Expertinnen, Forscherinnen und Medizinerinnen aber nicht übelnehmen, dass sie diese einfache und offensichtliche Lösung außer Acht lassen. Sie müssen diese Option unausgesprochen im Raum stehen lassen, weil sie sonst schlicht nicht erst genommen würden. Die ganze Pharmabranche verstaatlichen? Das wäre doch, na ja, Sozialismus!
Ja, das wäre es. Und hier gibt es ein Parallele zur Debatte über die Einführung einer allgemeinen, öffentlichen Krankenkasse in den USA. Dank einer jahrelangen Massenbewegung und dem kompromisslosen Engagement von Bernie Sanders, der keine halben Sachen akzeptiert, die teurer und weniger fair sind, sowie zu einer schlechteren Gesundheitsversorgung führen, hat sich das Meinungsklima so verschoben, dass fast jede Politikerin der Demokraten rhetorisch gezwungen ist, zuzugeben, dass eine allgemeine Krankenversicherung die theoretisch beste Lösung wäre, die realistischerweise jedoch noch nicht durchzusetzen sei.
Was bis vor kurzem noch als unvorstellbar abgetan wurde, ist jetzt eine ernstzunehmende Option, auf die politische Persönlichkeiten Bezug nehmen müssen. Dasselbe muss mit der Pharmaindustrie geschehen: Ihre Verstaatlichung muss allgemein als beste Option anerkannt werden, zu der man sich politisch zu positionieren hat.
Die Lehre aus der sozialen Bewegung für eine allgemeine Krankenversicherung in den USA ist, dass in den kommenden Jahren eine ähnliche Kampagne für die Verstaatlichung des Pharmasektors stattfinden muss. Natürlich ist in den USA die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung derzeit Priorität Nummer eins. Wenn dieser Kampf jedoch einmal gewonnen ist, sollte sich die Bewegung als nächstes die Pharmaindustrie vorknöpfen.
Medizinerinnen und Wissenschaftlerinnen, die sich mit dem Problem von Antibiotikaresistenzen konfrontiert sehen, beschreiben immer wieder, dass von diesen eine Bedrohung ausgeht, die mindestens so groß ist wie die des Klimawandels, es aber keine aktivistische Basis gibt, die sich dem Thema mit der gleichen Hingabe verschrieben hat. Dies muss sich unbedingt ändern.
Leigh Phillips ist Wissenschaftsjournalist und EU-Korrespondent. Er ist Autor des Buchs Austerity Ecology & the Collapse-Porn Addicts (Zero Books, 2015).