28. September 2024
Aus Angst vor Russland will Polen im kommenden Jahr fast 5 Prozent seines BIP für Rüstung ausgeben. Kein anderer NATO-Staat investiert so viel in die Verteidigung. Doch ob diese Ausgaben Polen sicherer machen, ist fraglich.
Polnische Soldaten mit Nato-Flaggen am Tag der Streitkräfte, 15. August 2024.
Im August hat die seit Dezember 2023 regierende, proeuropäische Regierung von Donald Tusk die in den letzten zweieinhalb Jahren ohnehin massiv hoch geschraubten polnischen Rüstungsausgaben abermals erhöht. Im jüngsten Haushaltsentwurf für 2025 will die Regierung die Rüstungs- und Verteidigungsausgaben von 4,2 Prozent des BIP für das laufende Jahr 2024, die im Kern noch von den Vorgängern der Recht und Gerechtigkeit (PiS) beschlossen wurden, auf 4,7 Prozent steigern. Diese Ausgaben, die rund 30 Prozent aller für 2025 geplanten Staatseinnahmen umfassen werden, sollen dabei zu einem Drittel über einen Sonderfonds beziehungsweise Schulden außerhalb des Staatshaushalts finanziert werden.
Verteidigungsminister Władyslaw Kosiniak-Kamysz sagte Anfang September bei einem Konferenzpanel mit dem Titel »Ruhig war es schon. Polen im Krieg«, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für die Aufrüstung hoch sei. »Heute sagen mir die Menschen auf den Straßen geradeheraus: Wir sind in der Lage, die Mühen zu stemmen, es ist gut, dass wir so viel Geld für Rüstung ausgeben.« Es werde, so der Minister, demnächst auch weitere neue Gesetze geben, die etwa den Bau von Schutzbunkern vorsehen und den Zivilschutz stärken. Und auch in Schulen müsse angesichts der Kriegsgefahr verstärkt »Patriotismus« gelehrt werden.
»Polens Regierung übertrifft nicht nur bei Weitem das Nato-Ziel von 2 Prozent, sondern auch die Vorgabe des Bündnisses, nach der 20 Prozent des gesamten Verteidigungsbudgets eines Mitgliedsstaates für neue Waffen ausgegeben werden sollen.«
Tatsächlich sind in Polen selbst in den letzten Monaten keine Umfragen zur Bewertung der massiven Aufrüstung gemacht worden. Aus einer Umfrage der Nato vom Juni dieses Jahres geht indes hervor, dass 53 Prozent der Menschen im Land die Beibehaltung der Rüstungsausgaben auf dem aktuellen Stand befürworten, 40 Prozent gar noch höhere Ausgaben wollen. Inwieweit die Nato-Umfrage im Detail ein verlässlicher Barometer ist, bleibt offen – das Bündnis hat ein Interesse an Zustimmung zu seiner Politik. Es scheint klar, dass es an der Weichsel in großen Teilen der Bevölkerung Zuspruch zur Aufrüstung gibt. Eine von einer polnischen Zeitung beauftragte Umfrage vom Februar 2024, in der allerdings keine konkreten Zahlen zur Bewertung standen, sondern nur die allgemeine Notwendigkeit der Aufrüstung zur Frage stand, bestätigte dies.
Polen ist bereits seit 2023 das Nato-Land, das gemessen am BIP die höchsten Rüstungs- und Verteidigungsausgaben hat – höher selbst als die USA (3,4 Prozent, 2023). Polens Regierung übertrifft heute und in den kommenden Jahren nicht nur bei Weitem das Nato-Ziel von 2 Prozent, sondern auch die Vorgabe des Bündnisses, nach der 20 Prozent des gesamten Verteidigungsbudgets eines Mitgliedsstaates für neue Waffen(systeme) ausgegeben werden sollen. Warschau will im laufenden und kommenden Jahr rund 50 Prozent seines Verteidigungsbudgets für neue Rüstungsgüter aufwenden. Dabei wird die Mehrzahl der Einkäufe im Ausland getätigt (USA und Südkorea), Polens eigene Rüstungsindustrie erhält nur wenige Aufträge.
»Doch aus polnischer Sicht fällt der Offset-Vertrag mit umgerechnet gut 220 Millionen Euro äußerst mager aus. Lediglich die Wartung ausgewählter Teile der Apache-Maschinen können polnische Unternehmen künftig übernehmen.«
Zwar kündigte das Verteidigungsministerium an, dass es Ziel sei, künftig rund 50 Prozent der Aufträge der heimischen Rüstungsindustrie beziehungsweise in Polen produzierenden ausländischen Konzernen zukommen zu lassen. Doch angesichts der relativen technologischen Schwäche polnischer Unternehmen, wie dem staatlichen PGZ-Konzern, scheint dies eher Wunschdenken zu sein. Hierfür ist der Vertrag über den Kauf von 96 Kampfhubschraubern vom Typ Apache aus den USA, den Warschau im August finalisierte, in vielerlei Hinsicht erhellend. Das Geschäft mit einem Gesamtwert von rund 10 Milliarden Euro wurde zwar inklusive eines Auflagengeschäfts (sogenannte »offset compensation«) abgeschlossen, das importierende Staaten mit exportierenden Unternehmen aushandeln können und das heimische Unternehmen am Auftrag beteiligen soll. Doch aus polnischer Sicht fällt der Offset-Vertrag mit umgerechnet gut 220 Millionen Euro – etwa 2,5 Prozent der Kaufsumme – äußerst mager aus. Lediglich die Wartung »ausgewählter Teile« der Apache-Maschinen können polnische Unternehmen künftig übernehmen. Fast zeitgleich zum Kauf der Apaches hat Polens Regierung zwar auch dem polnischen Rüstungsunternehmen AMZ-Kutno einen Auftrag zum Bau von 800 leichten gepanzerten Aufklärungsfahrzeugen, erteilt der sich jedoch lediglich auf knapp 200 Millionen beläuft Euro.
Nach Ansicht vieler Fachleute sind auch andere Verträge mit ausländischen Rüstungsfirmen aus polnischer Sicht sehr unvorteilhaft. Janusz Zemke, Politologe und ehemaliger Vize-Verteidigungsminister (2001–2005) sagte in einem Interview, Warschau habe schon beim früheren Einkauf von F-35-Kampfjets mit den USA schlechte Bedingungen vereinbart – anders als etwa Deutschland. »Deutschland konnte mit den USA aushandeln, sich an der Produktion von Luft- und Raumfahrtkomponenten nicht nur für die von ihm bestellten Flugzeuge zu beteiligen, sondern auch für Flugzeuge, die im Rahmen eines riesigen, vom Rüstungsgiganten Lockheed Martin koordinierten Exportprojektes an eine Reihe von Ländern geliefert werden«, so Zemke. Und Bogusław Chrabota, Chefredakteur der einflussreichen, konservativen und wirtschaftsliberalen Tageszeitung Rzeczpospolita, die grundsätzlich den Aufrüstungskurs stützt, schreibt im Kontext eines anderen Rüstungsdeals Warschaus, dem Kauf von K2-Panzern aus Südkorea: »Was für uns abspringen wird, ist das Putzen der Kanonen mit Waschlappen.«
»Das Umbruchjahr 1989 erlebte die überwältigende Mehrheit in Polen als große Befreiung vom imperialen Sowjetkommunismus. Heute sieht die polnische Bevölkerung in Russland dessen Wiedergänger.«
Die Gründe für die massive Aufrüstung und ihre Auswirkungen auf Polens Haushalt und Wirtschaft liegen indes vor allem in der Geschichte. In Polen sitzt die historische Wunde des Zweiten Weltkrieges der Jahre 1939–45 tief, und sie betrifft vor allem, aber nicht nur, die Verbrechen der Deutschen und der Sowjetunion. Als das Deutsche Reich am 1. September 1939 in Polen einfiel, kamen Frankreich und Großbritannien trotz vorheriger Sicherheitszusagen Warschau nicht zur Hilfe. Dieser »Verrat des Westens«, wie der damalige »Sitzkrieg« an der deutschen Westfront und das Nicht-Eingreifen westlicher Staaten in Polen bis heute noch genannt wird, ist einer der Gründe für die sicherheitspolitische Skepsis Warschaus gegenüber der West-EU. Es erklärt ebenso die starke USA-Orientierung an der Weichsel. Auch die Erinnerung an Stalins Überfall auf Polen am 17. September 1939, die Ermordung großer Teile der Führungsschichten und die Installierung eines Moskau-treuen Regimes sind als historischen Kontext für die aktuelle Aufrüstung zu nennen.
Das Umbruchjahr 1989 erlebte die überwältigende Mehrheit in Polen daher als große Befreiung vom imperialen Sowjetkommunismus. Heute sieht die polnische Bevölkerung in Russland dessen Wiedergänger. »Einige Ängste und Traumata, Gewohnheiten und Verhaltensweisen sind längst in den kulturellen Blutkreislauf der Nation eingedrungen. Sie kursieren dort zum Teil noch heute«, schreibt der Historiker Marcin Zaremba. Denn rational scheint Polens massive Aufrüstung kaum: das Land ist Teil der Nato. Sollte Russland Polen angreifen, würde Artikel 5 des Bündnisses greifen. Und die Nato ist heute – anders als Frankreich und Großbritannien anno 1939 gegenüber dem Deutschen Reich – deutlich stärker als Russland. Das westliche Bündnis insgesamt hat ein elfmal höheres Verteidigungsbudget als Moskau, verfügt über dreimal so viele Kampfhubschrauber, hat doppelt so viel militärisches Personal, fünfmal so viele gepanzerte Fahrzeuge. Zudem sind bereits heute rund 10.000 US-Soldaten in Polen stationiert. Die politische Situation ist heute eine gänzlich andere als 1939.
Deshalb ist der Apache-Deal zwar der größte, aber nur einer von vielen Verträgen, die mit den USA geschlossen werden oder wurden. Zuvor gab es bereits Ankäufe des Kampfflugzeugs F-35, der Abrams-Kampfpanzer, des Raketenartilleriesystem HIMARS und des Flugabwehrsystems Patriot. Auch die Finanzierung läuft inzwischen teilweise über Kredite der US-Regierung. Angefragt hat Polen aktuell etwa den Transporthubschrauber Chinook sowie den Luftüberlegenheitsjäger F-15 – beide stammen wie der Apache aus der Boeing-Schmiede. Um letzteren möglichen Auftrag konkurriert zwar auch der Eurofighter Typhoon des europäischen Konsortiums aus Airbus, Leonardo und BAE, doch vieles spricht dafür, dass auch hierbei nicht die Europäer, sondern die US-Amerikaner zum Zuge kommen.
Doch offenbar sieht man in Polen trotz alledem die Notwendigkeit forcierter Aufrüstung – auch hierfür ist der Kauf der Apache-Hubschrauber symptomatisch. In der Tageszeitung Rzeczpospolita, schreibt der auf Militärfragen spezialisierte Journalist Maciej Miłosz: »Man kann klar feststellen, dass wir einfach nicht so viel Bedarf haben. 32 Stück ist sicherlich das, was wir brauchen. 64 kann man wahrscheinlich versuchen zu rechtfertigen. Aber 96? Zumal gerade die Verlegung von Flugzeugen oder Hubschraubern durch die Verbündeten buchstäblich über Nacht erfolgen kann, so dass im Krisenfall sehr schnell Hilfe in diesem Bereich kommen kann.« Miłosz sieht die Gründe weniger in der Angst. »Warum kaufen wir so viele AH-64E Apache-Hubschrauber? Das liegt ganz einfach an der Gigantomanie der Vorgängerregierung und dem mangelnden politischen Mut der jetzigen Regierung.« Unter den Politikern der Regierungskoalition gäbe es keinen einzigen, der öffentlich sagen würde, dass der unter der PiS eingeleitete, aber nicht abgeschlossene Auftrag zu groß seien. Der Grund liege auf der Hand: »Die Opposition aus der Partei Recht und Gerechtigkeit würde einen solchen Politiker auffressen, und der Slogan, dass die PO das Militär abwickelt, obwohl er sinnlos ist, würde wieder auf die politischen Fahnen geschrieben werden.«
»Der Krieg Russlands gegen die Ukraine sowie die Position Warschaus zu diesem Krieg gefährden bereits jetzt die Sicherheit Polens. Daran dürften auch die massiven Rüstungsausgaben wenig ändern.«
Ob nun Angst oder Gigantomanie hinter den Aufrüstungsplänen steckt, so bleibt doch festzuhalten, dass bereits Ex-Verteidigungsminister Błaszczak (PiS) die Aufrüstung im Hauruck-Verfahren vorantrieb – von 2,2 Prozent des BIP im Jahr 2021 auf 3,8 Prozent des BIP im Jahr 2023. Damit stiegen die Ausgaben um rund 16 Milliarden Euro an. Edyta Żemła, Journalistin und Militärexpertin, die kürzlich das Buch Armia w ruinie (»Die Armee – eine Ruine«) herausgebracht hat, sagt: »Błaszczak hat Militärausrüstung aus allen Ecken der Welt gekauft. Er hat seine Einkäufe nicht mit dem Militär abgesprochen, sondern nur mit unterwürfigen Offizieren.« Die Tusk-Regierung wiederum hat Błaszczaks Deals zwar – wie angekündigt – geprüft, doch letztlich beinahe ohne Abstriche durchgewunken. Denn er fürchtet tatsächlich, im Falle von Kürzungen Kritik von politischen Gegnern auf sich zu ziehen. Zugleich schürt auch Tusk die Kriegsangst. Die Polen »leben in Vorkriegszeiten«, wie er bereits häufiger sagte. Der einzige Unterschied sei, so Tusk, dass die Kriegsangst inzwischen nur noch aus einer Richtung drohe: aus Russland.
Aus polnischer Perspektive ist dabei besonders, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine sowie die Position Warschaus zu diesem Krieg bereits jetzt die Sicherheit Polens gefährden. Daran dürften auch die massiven Rüstungsausgaben wenig ändern. Denn schwere Panzer, Kampfflugzeuge und stark aufgestockte Truppen sind nur bedingt ein wirksames Instrument gegen hybride Destabilisierungsakte. Bereits jetzt häufen sich in Polen Vorfälle, die womöglich auf russische Sabotage zurückzuführen sind: Störungen des Schienenverkehrs, die Explosion in der Munitionsfabrik Mesko im Juni dieses Jahres, ein Großbrand im Hafen von Danzig am 14. Juli. Und die Flüchtenden an der polnisch-belarussischen Grenze, die von den belarussischen Behörden teilweise gezielt dorthin gebracht werden – mit mehr als sechzig toten Migrantinnen und Migranten seit Mitte 2021 sowie jüngst einem getöteten polnischen Soldaten – sind bereits jetzt ein tragischer Dauerzustand.
Polens Reaktion fasst Außenminister Radosław Sikorski so zusammen: Wenn die Russen eskalieren, »können auch wir eskalieren«. Jüngst betonte Sikorski, dass Polen bereit wäre, russische Raketen, die in Richtung Polen flögen – solche Vorfälle gab es bereits –, noch in der Ukraine selbst abzuschießen. Die Nato ist in dieser Frage bislang zurückhaltend. Ebenso, wie bei dem Vorschlag von Staatspräsident Andrzej Duda, der vor ein paar Monaten vorschlug, das Ziel der Rüstungs- und Verteidigungsausgaben der Nato-Staaten von derzeit 2 Prozent des nationalen BIP offiziell auf 3 Prozent anzuheben. Washington quittierte den Vorschlag mit freundlicher Distanz – die anderen Nato-Hauptstädte gingen gar nicht erst auf den Vorschlag ein. Sie bewerten ihn womöglich etwas rationaler, als Warschau es tut.
Jan Opielka ist freier Journalist und arbeitet vorwiegend für deutschsprachige Print- und Radiomedien in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Freitag, Frankfurter Rundschau, WOZ, Deutschlandfunk, ORF Ö 1).