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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

12. Juli 2025

Die Grenzsicherung zwischen Polen und Deutschland ist gefährliche Symbolpolitik

Die gegenseitigen Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Polen sind Politik-Theater: Migration wird instrumentalisiert, um nationale Souveränität zu inszenieren und von innenpolitischen Problemen abzulenken. Der Preis dafür ist hoch.

Eine Grenzkontrolle findet statt am Grenzübergang Linken/Lubieszyn bei Stettin/Szczecin, 7. Juli 2025.

Eine Grenzkontrolle findet statt am Grenzübergang Linken/Lubieszyn bei Stettin/Szczecin, 7. Juli 2025.

IMAGO / Andy Bünning

Hier wie dort fehlt eine Vision, hier wie dort fehlt eine positive Agenda, hier wie dort greift die extreme Rechte nach der Macht. Hier wie dort – das sind Deutschland und Polen. Die Regierungen beider Länder versuchen verzweifelt, über eine laute Sheriff-Politik das Abwandern ihrer Wählerschaften zu den jeweils rechten Kräften zu verhindern – der AfD in Deutschland und der Recht und Gerechtigkeit (PiS) und Konfederacja in Polen –, indem sie einen Sündenbock für politische Krisen suchen: »Fremde« innerhalb der nationalen Grenzen. Erst führte Deutschland verschärfte Grenzkontrollen ein, inklusive Zurückweisungen ohne Asylrechtsprüfung, nun reagiert Polen mit einer Retourkutsche: Seit diesem Montag kontrolliert auch Polen den Grenzübergang zu Deutschland.

Nationalistische Symbolpolitik

Schaut man sich das Ausmaß der Migrationsbewegungen an, um die es tatsächlich geht, wird deutlich, dass das Migrationsthema die allgemeine Orientierungslosigkeit der deutschen wie der polnischen Regierung kaschieren soll. Vom 1. Mai bis zum 15. Juni hat die deutsche Bundespolizei gut 1.000 Personen, die versuchten, die Grenze zu Deutschland zu überqueren, die Einreise verweigert, darunter Personen, die ein Gesuch auf Asyl oder internationalen Schutz stellen wollten. Im ersten Halbjahr 2025 waren dies rund 4.600 Personen, im gesamten Jahr 2024 rund 9.300 Personen. Hinzu kommt eine deutlich geringere Zahl von Personen, die Deutschland regelmäßig und gemäß der in der EU geltenden Dublin-III-Verordnung nach Polen abschiebt.

»Bürgerwehren als Teil einer hart durchgreifenden Staatshand? In Polen wird das inzwischen zu einer möglichen Option.«

Vor dem Hintergrund, dass in den ersten Monaten nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mehrere Millionen ukrainische Flüchtlinge in Polen zeitweilig Zuflucht fanden, von denen rund 1 Million immer noch im Land leben – und eine fast genauso hohe Beschäftigungsquote aufweisen wie Polinnen und Polen –, sind die oben genannten Zahlen relativ gering. Und dies gilt selbst dann, wenn man eine unbekannte Ziffer an nicht registrierten Migrantinnen und Migranten hinzurechnet und berücksichtigt, dass Polen an der polnisch-weißrussischen Grenze durch sein rigoroses Vorgehen verhindert, dass mehr Menschen über diesen Weg nach Polen in die EU finden. Denn Warschau führt weiterhin Push-Backs durch. Im letzten Jahr sind infolge der brutalen Grenzpolitik und des schwer zu überwindenden Grenzzauns mindestens vierzehn Menschen an dieser Grenze gestorben. Damit nicht genug: Seit Ende März dieses Jahres ist für Schutzsuchende, die über diese Route ins Land kommen wollen, das Asylrecht zeitweilig ausgesetzt worden und die Aussetzung im Mai verlängert worden.

Dieser eigentliche Skandal, nämlich die rechtlich fixierte Aussetzung des Grundrechts auf Asyl, wird inzwischen auch auf europäischer Ebene mehr und mehr verinnerlicht. Es gibt kein EU-Strafverfahren, das Brüssel deswegen gegen Polen anstreben würde. Dabei griff die EU-Kommission ansonsten recht schnell zum Instrument der Ahndung rechtsstaatlicher Vergehen als Polen noch von der PiS regiert wurde. Das europäische Asylrecht droht allmählich und beiläufig zu sterben – durch die Verletzung geltender Rechtsnormen und international gültiger Verträge. Denn auch die deutsche Regierung beschreitet mit eigenen Mitteln inzwischen diesen Weg. Die Entscheidung eines Gerichts, das die Zurückweisung von Schutzsuchenden an der Grenze zu Polen ohne Prüfung ihrer Anträge für rechtswidrig erklärte, übergeht die Regierung Merz einfach.

Das Ende von Schengen?

Indes zeigt ein Blick in die USA, an denen sich die EU weiterhin orientiert, was auch in Europa Realität werden könnte. Unter Trump erfolgen Massenabschiebungen in Drittländer wie den Südsudan, Internierungen von Schutzsuchenden und »illegalen« Migranten in menschenunwürdigen Gefängnissen, Verhaftungen von Menschen, die jahrelang in den USA gelebt haben. In Europa versuchen rechte und nationalistische Parteien schon länger, eine derartige Härte salonfähig zu machen.

In Polen etwa fordert die 2023 abgewählte PiS, die sich nun angesichts der Schwäche der Tusk-Regierung wieder im Aufwind wähnt, im Land eine Liste mit Staaten zu erstellen und rechtlich zu fixieren, deren Staatsbürgerinnen und Staatsbürger grundsätzlich nicht nach Polen einreisen dürfen sollen. Käme die PiS spätestens 2027 erneut an die Macht und setzte dies durch – die Rede ist von Staaten aus Nordafrika und dem Nahen Osten –, was würde sie mit Menschen aus diesen Staaten tun, die sie im Land vorfindet? Und was werden rechte Schlägertrupps tun, wenn sie ihre politischen Überzeugungen durch die staatliche Politik von ganz oben bestätigt sehen? Denn auch die selbsternannte »Bewegung zur Verteidigung der Grenze«, die von einem polnischen Rechtsradikalen an deutsch-polnischen Grenzübergängen seit Juni organisiert wurde, fand die Zustimmung der PiS, des polnischen Präsidenten und der erstarkenden nationalistisch-libertären Konfederacja. »Bürgerwehren« als Teil einer hart durchgreifenden Staatshand? In Polen wird das inzwischen zu einer möglichen Option.

»Hinter den eher symbolischen Kämpfen rund um die Grenzsicherung lässt sich also bereits eine Entwicklung erahnen: das langsame Ende von Schengen.«

Zugleich agieren nicht nur Warschau, sondern auch andere europäische Staaten in einem internationalen Kontext, der das Regieren nicht einfacher macht. Die zunehmend nationalistischen Politiken, in den USA zumal, haben unmittelbaren Einfluss auf das, was in anderen Ländern geschieht. Nationalistisch ausgerichtete Staaten wirken sich per definitionem desintegrierend auf multinationale Körper und Verbünde wie die EU, aber auch auf die UN oder die OSZE aus. Kern dieser Politiken ist eben nicht der Kompromiss, der im nationalen Narrativ als Schwäche gilt, sondern die harte Hand – wenn notwendig auch gegenüber Partnerstaaten.

Daher ist die neue deutsch-polnische Grenzpolitik ein Zeichen der Zeit – und diese weist auf eine Schwächung der EU hin, inklusive der allmählichen Schleifung ihrer tatsächlich progressiven Bestandteile, wie dem gemeinsamen Binnenmarkt und dem Schengen-Abkommen. Hinter den eher symbolischen Kämpfen rund um die Grenzsicherung lässt sich also bereits eine Entwicklung erahnen: das langsame Ende von Schengen.

Jan Opielka ist freier Journalist und arbeitet vorwiegend für deutschsprachige Print- und Radiomedien in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Freitag, Frankfurter Rundschau, WOZ, Deutschlandfunk, ORF Ö 1).