27. Juni 2020
In Polen schafft es die nationalistische Rechte nach dem Übergang zum Kapitalismus als einzige Partei, die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu kanalisieren.
Jarosław Kaczyński ist Vorsitzender der rechtskonservativen Partei PiS und einer der einflussreichsten Politiker des Landes.
Bei den polnischen Wahlen im Oktober letzten Jahres siegte die erzkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) erneut und gewann jeweils rund die Hälfte der Sitze in beiden Parlamentskammern. Das war keine große Überraschung – Umfragewerte deuteten auf eine zweite Amtszeit der PiS hin, in der sie ohne Koalitionspartner regieren würde. Was hingegen zum Nachdenken anregt, ist das Ausmaß des Sieges mit rekordverdächtigen 8 Millionen Stimmen.
Die Wende vom »Realsozialismus« zum Kapitalismus, hat tiefgreifende Veränderungen in der sozioökonomischen Ordnung des Landes nach sich gezogen, insbesondere im Bereich der Arbeitsbedingungen und des Sozialwesens. Der Erfolg der PiS wird oft als Reaktion auf die »Sparpolitik« dargestellt. Doch die Herausforderungen und das soziale Unbehagen, das den Rechtsruck antreibt, lassen sich nicht auf Austerität reduzieren.
Beginnen wir von vorn. Während die »realsozialistische« Wirtschaft Polens nach dem Krieg von staatlich garantierter Vollbeschäftigung geprägt war, änderte sich dies mit dem Übergang zum Kapitalismus nach 1989. Die Plötzlichkeit der Veränderungen – und insbesondere der Zusammenbruch einiger staatlicher Industrien, die schnelle Privatisierung und die mangelnde Vorbereitung auf den abrupten Wettbewerb durch ausländische Unternehmen – führten zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Nach nur zwei Jahren Kapitalismus lag die registrierte Arbeitslosenquote Polens Ende 1991 bei 12,2 Prozent und erreichte 1993 16,4 Prozent. Dieser Anstieg – von praktisch Null – ist auf einen starken Rückgang des BIP zurückzuführen, das im Vergleich zu den Jahren 1990-1991 um 18,6 Prozent zurückging. Die Arbeitslosigkeit hatte jedoch noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Die mit Abstand schlechteste Periode für den polnischen Arbeitsmarkt war der Zeitraum 2001-2005 mit einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 18,9 Prozent – höher noch als der 17-Prozent-Durchschnitt in den USA während der Großen Depression in den 30er Jahren.
Zwar sank die Arbeitslosigkeit in den Folgejahren, dies war jedoch vor allem von zwei Faktoren beeinflusst: zum Einen erholte sich polnische Wirtschaft in dieser Zeit (2004-2007 betrug das durchschnittliche jährliche BIP-Wachstum 5,5 Prozent), vor allem aber trat Polen der Europäischen Union bei, was wiederum zu einer massiven Auswanderung von arbeitssuchenden Polinnen und Polen führte. Nach offiziellen Schätzungen emigrierten im Jahr 2002 800.000 und im Jahr 2004 1 Million Menschen. Nur zwei Jahre später waren es doppelt so viele und 2007 kletterten die Auswanderungszahlen auf 2,3 Millionen.
Obwohl diese Auswanderungswelle nach dem Beitritt zur EU den Anstieg der Arbeitslosigkeit stoppte, verschärften sich in dieser Zeit andere grundlegende Probleme des polnischen Arbeitsmarktes. Allen voran ist hier die Prekarisierung zu nennen. Der rasante Anstieg der Zeitarbeitsverträge legt diese Tendenz besonders eindrucksvoll dar. In den 90er Jahren betrug der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen weniger als 5 Prozent. In den Jahren zwischen 2000 und 2005 (einer Zeit mit rekordverdächtiger Arbeitslosigkeit) stieg er von 5,4 auf 25,0 Prozent an – damit war die Quote doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt. Außerdem ist der Anteil an Selbständigen in Polen sehr hoch. Aber der wohl dringlichste Indikator der Prekarisierung war der Aufstieg der »Schattenwirtschaft«. Im Jahr 2012 beschäftigten ein Drittel der polnischen Unternehmen »informelle« Arbeitskräfte.
Man kann sich leicht ausmalen, wie sich diese Bedingungen auf die Löhne ausgewirkt haben. Im Vergleich zu anderen EU-Ländern bildeten die Löhne der polnischen Arbeitenden im Jahr 2017 den niedrigsten Anteil des BIP (32,2 Prozent), während die Gewinnquote (v.a. Bruttobetriebsüberschuss) mit 48,9 Prozent zu den höchsten gehörte.
Diese Entwicklung wurde vor allen Dingen auch durch den dramatischen Rückgang gewerkschaftlicher Organisation nach dem Systemwechsel bedingt. Waren 1990 noch 36,7 Prozent der Lohn- und Gehaltsempfängerinnen gewerkschaftlich organisiert, so waren es 2012 nur noch 11,6 Prozent – die fünftniedrigste Prozentzahl unter den OECD-Ländern, in denen im selben Jahr im Durchschnitt 25,9 Prozent Arbeitnehmende einer Gewerkschaft angehörten. Es überrascht nicht, dass das erste Vierteljahrhundert des wiedereingeführten polnischen Kapitalismus auch zu einem erheblichen Anstieg der Einkommensungleichheit führte. Während der Gini-Index 1989 noch bei 26,9 lag, erreichte er 1996 bereits 32,7 und 2004 ein Rekordhoch von 35,4 (weit mehr als der EU-Durchschnitt von 31,1). Einige unabhängige Schätzungen gehen davon aus, dass die Einkommensschere noch größer war.
Doch sinkende Löhne waren nicht die einzige Verschlechterung mit der sich die arbeitende Klasse konfrontiert sah. Ein Vierteljahrhundert lang nach 1989 wurde das Sozialsystem aus den Zeiten des »real existierenden Sozialismus«, abgebaut, zerschlagen und, wo immer möglich, privatisiert, sodass nur extrem beschränkte Sozialschutzmaßnahmen übrigblieben. Die einzige Neuerung war das Arbeitslosengeld – es war schließlich vor 1989 nicht nötig gewesen. Die Höhe der Leistungen markiert gleichzeitigt auch die Einstellung der polnischen Behörden zur Sozialpolitik: Die Arbeitslosen erhalten 740 Złoty (163 Euro) im Monat, also nicht einmal genug für die Miete, geschweige denn für andere Grundausgaben wie Essen. Und nach nur drei Monaten fällt diese Zahlung weiter auf unter 600 Złoty (132 Euro). Laut offizieller Statistik hatten 2013 nur 16,1 Prozent der Arbeitslosen in Polen – ausgenommen sind hiervon Langzeitarbeitslose und prekär beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – Anspruch auf diese Leistung.
Erst nach einer solch gründlichen neoliberalen Erschütterung der polnischen Gesellschaft im ersten Vierteljahrhundert des Übergangs erschien eine erneuerte Version der PiS auf der politischen Bühne. Beachtenswert ist hierbei, dass die vierjährige Regierungszeit seit 2015, mit der sich die PiS von einem vorher alles dominierenden neoliberalen Konsens entfernt hat, auch einen Bruch mit dem eigenen bisherigen Regierungshandeln darstellt.
Dies liegt nicht nur daran, dass die PiS, wie viele liberale Erzählungen behaupten, die Unabhängigkeit der Justiz angegriffen hat oder dass sie die Politisierung der öffentlichen Medien auf eine ganz neue Ebene gehoben hat (tatsächlich bestand dieses Problem auch unter der liberal/neoliberalen post-kommunistischen Regierungen). Die PiS, die seit 2015 im Amt ist, stand vielmehr für eine politische Wende. Sie hat unter anderem den Mindeststundenlohn erhöht und damit zumindest formell die barbarische Kluft zwischen den Vollzeitbeschäftigten mit Mindestlohn und den Beschäftigten mit sogenannten »Müllverträgen« (diese sind nicht an den Mindestlohn gebunden und bieten keinerlei arbeitsrechtliche Absicherung) beseitigt. Das Vorzeigeprojekt der PiS war jedoch die Implementierung einer Reihe neuer Sozialprogramme: Eine zusätzliche Zahlung für alle Rentnerinnen und Rentner einmal im Jahr sowie das Programm »300+«, das Schulmaterialien für Kinder in Höhe von 300 Złoty pro Jahr (66 Euro) subventioniert. Allen voran ist hier das Programm »Rodzina 500+« zu nennen, das jeder Familie mit mehr als zwei Kindern pro Kind 500 Złoty (110 Euro) pro Monat zuweist.
»Ein großer Teil der Linken scheint nicht in der Lage, sich der analytischen Instrumente der radikalen politischen Ökonomie zu bedienen.«
Die Neoliberalen behaupten, der Erfolg der PiS sei darauf zurückzuführen, dass sie mit Sozialleistungen die Zustimmung »vulgärer Einfaltspinsel aufkauft«. Allerdings ist die PiS auch die erste politische Kraft in dreißig Jahren Kapitalismus, die offen und schamlos soziale Parolen auf ihre Wahlkampfbanner setzt und diese Versprechen dann – ganz einzigartig – auch tatsächlich umsetzt. Dabei geht es weniger um »Stimmenkauf« als um »Glaubwürdigkeit« und »Ermächtigung«.
Die PiS hat auch die neoliberalen Regierungen des letzten Vierteljahrhunderts in Verruf gebracht. Diese hatten ihre fortwährenden unsozialen und arbeitgeberfreundlichen Entscheidungen damit gerechtfertigt, dass diese notwendig seien um eine »verantwortungsvolle« Finanzpolitik zu betreiben. Nach der jüngsten Krise der Eurozone wurde diese politische Linie mit der absurden Behauptung verbunden, dass selbst die kleinste Sozialmaßnahme Polen sofort zu einem »zweiten Griechenland« machen würde. Tatsächlich haben die letzten vier Jahre gezeigt, dass selbst groß angelegte Sozialprogramme nicht nur keinen drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch bedeuten, sondern auch durchaus mit hohen Wachstumsraten vereinbar sein können (Polens BIP-Wachstum für 2018 wird auf 5,1 Prozent geschätzt, das höchste seit 2007 vor der Krise).
Eine solche politische Trendwende stellt nicht nur für den neoliberalen Teil der Opposition, sondern auch die Linke vor ein Problem. Jahrzehntelang hatten die bürgerlich-liberalen Kräfte jede fortschrittliche, auch nur minimal sozialdemokratische Stimme völlig delegitimiert, während sie für die Äußerung rechtsextremer Ansichten, seien sie nun ultrakonservativ oder libertär, offenblieben. Dies hat dazu beigetragen, dass ein Teil der potenziellen linken Wählerschaft von der Rechten vereinnahmt werden konnte.
Als wenn das nicht genug wäre, hat diese politische Lage eine ideologische Verwüstung unter den progressiven Kräften nach sich gezogen und ganze Generationen von linken Politikerinnen und Aktivisten in Fragen der Wirtschaftspolitik intellektuell orientierungslos hinterlassen. Dieses Vakuum wird gegenwärtig von willkürlichen, chaotischen und oft sehr zweifelhaften Ideen gefüllt, die sich meist auf das Feld der Sozialpolitik beschränken (ein perfektes Beispiel hierfür sind unterentwickelte und kaum durchdachte Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, denen jegliche soziale Verankerung fehlt).
Infolgedessen scheint ein großer Teil der Linken nicht in der Lage, sich der analytischen Instrumente der radikalen politischen Ökonomie zu bedienen. Denn diese könnte erklären, dass die Linke nicht dazu verdammt ist, sich in Fragen der Moral, der Religion und der »Familienwerte« nach den Positionen der Liberalen und sich wiederum in Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik nach den Positionen der PiS orientieren zu müssen. Das Wahlergebnis für die kürzlich (und zumindest vorübergehend) vereinte Lewica (Links)-Koalition – die 49 von 460 Sitzen im Unterhaus und 2 von 100 im Senat gewann – scheint ein Erfolg zu sein. Ob sie die wahren Ursachen des Erfolgs der PiS richtig erkennen und dementsprechend handeln, wird sich noch zeigen.
Der grundlegende Fehler eines großen Teils der polnischen Linken und progressiveren Presse ist, dass sie die Gesellschaft in zwei (und nur zwei) Gruppen – das »Volk« und die »Eliten« – denken. Zum einen sind das sehr lose Kategorien, unter denen man alles Mögliche subsumieren kann (im Gegensatz zum klar definierten und theoretisch begründeten Klassenbegriff, der zwischen Bourgeoisie und den Arbeitenden unterscheidet). Zum anderen verschleiert die Gegenüberstellung von »Volk« und »Eliten« die Trennung zwischen der Großbourgeoisie und der Kleinbourgeoisie. Auch diese Begriffe sind recht schematisch, haben aber für das Verständnis der politischen Verhältnisse in Ländern wie Polen folgenschwere Konsequenzen.
In Ermangelung einer eingehenderen Analyse und lediglich unter Berücksichtigung finanzieller Aspekte, lässt sich feststellen, dass in Polen nur etwa 370.000 Menschen – das bedeutet weniger als 1 Prozent – ein jährliches Lohn- und Gehaltseinkommen von über 143.000 Złoty (brutto), also etwa 31.400 Euro, beziehen. Im Kontext der allgemeinen sozioökonomischen Bedingungen Polens ist das recht viel, doch reicht es oft nicht einmal aus, um eine Wohnung in einer Großstadt ohne langfristige Hypothek zu kaufen, geschweige denn sich andere »Luxusgüter« zu leisten. Das zeigt nicht nur, wie klein der Kreis der sehr Reichen ist, sondern auch, dass nur sehr wenige Polinnen und Polen auch nur mäßig wohlhabend sind und der zunehmend schwindenden »Mittelschicht« angehören. Die Gegebenheiten des Kleinbürgertums sind einerseits sehr verbreitet (mit bis zu 3 Millionen Ein-Mann-Unternehmen in einem Land mit weniger als 38 Millionen Menschen) und gleichzeitig aber in finanzieller und oft auch anderweitiger Hinsicht nicht von denen der arbeitenden Klasse zu unterscheiden.
Klar ist, dass dieses Kleinbürgertum nicht mehr dieselbe Klasse beschreibt, die Karl Marx noch im neunzehnten Jahrhundert analysiert hat. Doch trotz der Verarmung dieser Gruppe unter den Auswirkungen der Monopolisierung, scheint sie in den entwickelten kapitalistischen Ländern nur kaum oder gar nicht in der Lage zu sein, sich mit der arbeitenden Klasse zu verbünden. Die Dominanz liberaler, und vor allen Dingen wirtschaftsliberaler, Ideologien in Bildung und Massenmedien hat dazu maßgeblich beigetragen.
Das Kleinbürgertum des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts hat – wahrscheinlich im Gegensatz zu seinen Vorgängern in der Zeit von Marx – seine eigenen liberalen Phantasien über den »Self-made man«, den »freien Markt« und den »Ethos des Unternehmertums« stärker als die Großbourgeoisie selbst internalisiert. Das wiederum führt Kleinunternehmerinnen und Einzelhändler in eine Zwickmühle. Einerseits verschlechtern sich ihre materiellen Bedingungen unter dem Druck der Monopolisierung ständig. Andererseits verstehen ihre politischen Repräsentantinnen und Repräsentanten nicht, weshalb sie in diese Lage geraten sind, da auch sie noch weiter an die unsichtbare Hand des freie Marktes glauben. Darüber hinaus schmeichelt die liberale Ideologie dem Kleinbürgertum und präsentiert es als »die Einfallsreichsten«, »Geschäftstüchtigsten« und »die wahre Quelle des Wohlstands der Nation« – das Selbstwertgefühl dieser Klasse konstituiert sich fast ausnahmslos aus Zuschreibungen dieser Art. Diese Ideologie bestätigt sie also darin, dass sie mit der Gründung eigener Unternehmen genau das Richtige getan haben. Dennoch verlieren sie immer noch kläglich gegenüber den (oft internationalen) Großunternehmen. Und finanziell gesehen stehen sie oft viel schlechter da als Menschen, die der von ihnen so verachteten Lohnarbeit nachgehen. Sie können sich also nur fragen: »Was ist schiefgegangen?«
Dieses nur scheinbare Paradoxon legt die Schlussfolgerung nahe, dass jemand das System »korrumpieren« muss. Aber wer? Der Glaube an das »Funktionieren des freien Markts«, suggeriert hier, dass dieser vermeintliche »Betrug«, der für die verschlechterte Situation des Kleinbürgertums zu verantworten ist, aus irgendeinem besonderen, sofort sichtbaren Problem herrührt, das jedoch nichts mit den kapitalistischen Beziehungen an sich zu tun hat. Wenn man nun noch bedenkt, die Kleinbourgeoisie im Vergleich zur liberalen Bourgeoisie zu einem noch ausgeprägteren Konservatismus neigt, wird offensichtlich, wen sie als die Quelle dieses Betrugs erachten werden – die »Juden, Schwule, Freimaurer« und so weiter. Die Schwierigkeit der Kleinbourgeoisie, die tatsächliche Ursache ihrer Lage zu begreifen, erklärt zumindest teilweise weshalb in dieser Klasse im zwanzigsten Jahrhundert ein Anstieg rassistischer und ähnlicher Ressentiments und Verhaltensweisen zu verzeichnen war, die in ihren paranoidesten Formen letztlich im Faschismus und Nazismus mündeten
Die PiS (und ähnliche Regierungen, insbesondere in Ungarn) sind also nicht »für das Volk«. Vielmehr repräsentieren sie einen Teil der Bourgeoisie, der im Konflikt mit einem anderen ist. Die breiten Massen und ihre Frustration über Jahrzehnte der Entbehrung und Entwürdigung seitens der Herrschenden wird dabei nur instrumentalisiert. Trotz scheinbarer Überschneidungen zwischen der arbeitenden Klasse und der kleinbürgerlichen Wählerbasis, ist die PiS und ihre Sozialpolitik weit davon entfernt, sich einer linken Perspektive anzunähern. Das zeigt sich nicht nur in dem konservativen, nationalistischen Narrativ der PiS, sondern auch in ihrer Wirtschaftspolitik, die vor allen Dingen Belange der Kleinbourgeoisie im Auge hat.
Das zeigt sich besonders in den »sozialen« Maßnahmen der PiS in den letzten vier Jahren. Die Sonntagsruhe für den Einzelhandel – der man den Anschein gab, sie würde zum Schutz ausgebeuteter Lohnabhängiger eingeführt – wurde eigentlich aus zwei anderen Gründen erhoben. Erstens natürlich aus religiösem Fundamentalismus – demnach ist der Sonntag dazu da, in die Kirche zu gehen und zu beten, und nicht etwa zum Einkaufen. Vor allem aber unterstützt die Sonntagsruhe die kleinbürgerliche Basis und verschafft ihr in der Konkurrenz mit Unternehmen einen Vorteil: Kleine Läden sind nämlich von diesem Verbot ausgenommen, sofern die Ladenbesitzenden selbst am Sonntag zur Arbeit erscheinen.
Der gleiche Ansatz findet – allerdings ungetarnt – in der Steuerpolitik seine Anwendung. So sollten etwa in Polen tätige ausländische Großunternehmen besteuert werden, um die polnischen Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmen zu entlasten (dieses Vorhaben wurde allerdings durch europäische Gerichte verhindert). Auch bei der im Jahr 2016 eingeführten Steuer für einige Finanzinstitute, die umgangssprachlich »Bankensteuer« genannt wird, hatte sich die PiS dem Kleinbügertum zugewendet. Der kleinbürgerliche – und regressive – Charakter der PiS-Regierungen zeigt sich auch in der missachtenden und bisweilen feindselig und hasserfüllten Haltung, mit der diese Partei in Konfrontation mit gesellschaftlichen Gruppen geht, die ihre (vor allem wirtschaftlichen) Rechte einfordern und die nicht in das Bild des »armen kleinen polnischen Unternehmers« passen, der von allen Seiten von bösen, »ausländischen« Kräften bedroht wird. Dazu gehören körperlich beeinträchtigte Menschen, Lehrkräfte, Ärztinnen und Ärzte und vor allen Dingen auch das Umfeld des Umwelt- oder LGBTQI+-Aktivismus.
»Die polnische Kleinbourgeoisie ist wachsam.«
Auch wenn es Teile der polnischen Linken gerne so beschreiben, wäre es falsch, der PiS eine gewisse »Ambiguität« nachzusagen – so als wäre sie zwar in mancher Hinsicht gefährlich, habe aber gleichzeitig auch »viel Gutes für die Bevölkerung getan«. Es stimmt sicherlich, dass die PiS Wahlen (und vor allem auch nicht über 8 Millionen Stimmen) nicht nur aufgrund ihrer kleinbürgerlichen Basis gewinnt – sie tut dies mit der Unterstützung eines Teils der desorientierten arbeitenden Klasse. Die verschwimmenden Grenzen zwischen Polens Kleinbürgertum und der arbeitenden Klasse begünstigen diese politische Orientierungslosigkeit. Wenn sogar einige linke Aktivistinnen und Politiker »das Volk«, für das die PiS angeblich kämpft, für die gesamte Bevölkerung halten, wundert es nicht, dass viele aus der Arbeiterschaft sich schwer damit tun, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen von denen der Kleinbourgeoisie zu unterscheiden. Dieser Zustand ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Interessen der arbeitenden Klasse drei Jahrzehnte lang nicht auf der politischen Bühne vertreten wurden und der linke Diskurs aus der Öffentlichkeit verdrängt wurde. All dies – und auch die Stringenz, mit der die PiS ihre Wahlversprechen umsetzt – hat viele Arbeiterinnen und Arbeiter dazu veranlasst, abseits der Linken nach Antworten auf den Neoliberalismus zu suchen.
Natürlich muss man zugeben, dass nach einem Vierteljahrhundert, in dem es keine nennenswerte Sozialpolitik gab, die Einführung des »Rodzina 500+«-Programms der PiS positive Effekte einbrachte und die Situation großer Familien deutlich verbesserte (2014 lebten 17 Prozent der Familien mit drei und mehr Kindern in extremer Armut; 2018 waren es nur 7 Prozent). Laut Poverty Watch 2019 hat die Armut in Polen zwischen 2017 und 2018 jedoch deutlich zugenommen: Bis zu 422.000 Menschen mehr (insgesamt 2,1 Millionen) lebten unter dem Existenzminimum. Obwohl das PiS-Programm »500+« das Ziel hatte, die Kinderarmut auf unter 1 Prozent zu senken – was bedeuten würde, dass die Zahl der extrem armen Kinder 62.000 nicht überschreiten sollte – ist sie von 325.000 auf 417.000 gestiegen. Auch die Situation der Rentnerinnen und Rentner wird immer schlechter. Unter ihnen ist laut EAPN it die Zahl der extrem Armen zwischen 2016 und 2018 um 60.000 gestiegen (insgesamt 276.000).
Neben der Kommerzialisierung der Sozialleistungen (anstatt öffentlichen Dienstleistungen bereitzustellen werden Geldleistungen ausgezahlt, die anfällig für Preisschwankungen sind) sind die Programme der PiS und ähnlicher Organisationen aus sozialistischer Perspektive grundlegend fehlerhaft. Denn ihre Vorstellung von Sozialpolitik ist schon in ihrer Konstruktion reaktionär: Sie basiert auf »Familienwerten«, deckt Menschen nach dem reproduktiven Alter (und auch einige Alleinerziehende) nicht ab und schiebt Gelder von armen Bevölkerungsschichten (wie etwa Rentnerinnen und Rentnern) Hochverdienenden mit mehreren Kindern zu. Daran wird sich wenig ändern: Als das Programm im Juli letzten Jahres auch auf die ersten Kinder ausgedehnt wurde, hatten Familien mit weniger als 800 Złoty (176 Euro) pro Kopf und Monat bereits Anspruch darauf, doch nun wird es auch auf Mittel- und Oberklassenhaushalte ausgedehnt.
Es besteht auch keine Aussicht auf eine progressive Wende der PiS (weder unabhängig, noch unter dem Einfluss der parlamentarischen Linken). Die PiS ist eine Partei der Bourgeoisie – das hat ihr Handeln im Amt zwischen 2005-2007 in aller Deutlichkeit gezeigt. Damals, als das frustrierte Kleinbürgertum noch an neoliberale Wirtschaftsrezepte glaubte, ohne nach »Betrügern« zu suchen, versuchte die PiS-Regierung nicht einmal, »soziale« Maßnahmen einzuführen – tatsächlich war sie für eine der höchsten Steuersenkungen für die Reichen in den letzten drei Jahrzehnten verantwortlich.
Außerdem ist die PiS zersplittert. Unter den 235 Regierungsabgeordneten im neuen Parlament gehören 18 Mitglieder der Porozumienie (»die Einigung«) an, einer Partei unter der Führung des stellvertretenden Premierministers Jarosław Gowin. Sie sind mit der PiS unter anderem durch ihren religiösen Fundamentalismus verbunden, doch wirtschaftliche Fragen gespalten, denn Gowin und seine Anhängerschaft sind Wirtschaftslibertäre.
Bereits im Wahlkampf sagten Vertreterinnen und Vertreter der Porozumienie offen, dass die nächste Regierung »den Ausbau der Sozialprogramme einstellen« und »den Unternehmen eine gewisse Erleichterung bringen« müsse. Vor allen Dingen sollte die PiS auch nicht vergessen, dass sie das Glück hat in einer Zeit verbesserter, weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu regieren. Welche Wirtschaftsprogramme sie aufgeben wird, sobald sich diese Situation verschlechtert, liegt auf der Hand.
Die polnische Kleinbourgeoisie ist wachsam. Das gute Ergebnis der rechtsextremen (extrem nationalistischen, ultrakonservativen und wirtschaftlich libertären) Partei Konfederacja resultiert wahrscheinlich unter anderem aus dem Zustrom eines Teils der kleinbürgerlichen Wählerschaft der PiS. Die Ankündigungen der Regierungspartei vor der Wahl eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge von Klein- und Kleinstunternehmen zu planen und einer sehr starke Erhöhung des Mindestlohns bis 2024 vorzunehmen schreckte diese Wählergruppe ab. Nach der Wahl war erstmals seit Anfang der 1990er Jahre eine so rechtsextreme Partei der Sprung zur parlamentarischen Vertretung gelungen.
Nach vierjähriger Abwesenheit kehrte die Linke bei der Abstimmung am 13. Oktober ins polnische Parlament zurück, neu (und zumindest vorübergehend) vereint. Zu Lewica (»Linke«) gehören nicht nur die Postkommunisten der SLD (Sojusz Lewicy Demokratycznej, etwa »Bund der Demokratischen Linken«), die jungen Sozialdemokraten von Razem (»Gemeinsam«; eine Partei, die zunächst ganz offen der spanischen Podemos nachempfunden war) und die bürgerlich-liberalen Wiosna (»Frühling«). Dieses Bündnis schien noch vor einem Jahr unmöglich. Heute gibt es immer wieder Gerüchte über Pläne, Wiosna und die SLD zu vereinen. Aber obwohl Wiosna zweifellos die SLD verjüngen und ihr Image auffrischen könnte, ist es unwahrscheinlich, dass sie die SLD nach links bewegen wird, zumindest in der Wirtschaftspolitik. Razem könnte das vielleicht gelingen, doch kann die Partei ihre (ansonsten durchaus angebrachte) Verachtung für die SLD nicht abschütteln und will nicht einmal eine gemeinsame Fraktion im Parlament bilden.
Was jedoch wahr zu sein scheint, ist, dass es keine Rückkehr zur neoliberalen, kriegstreibenden SLD der frühen 2000er Jahre geben wird, als sie von Premierminister Leszek Miller geleitet wurde. Viele aus der SLD blicken noch immer auf diese »glorreichen Jahre« zurück (der gleiche Zeitraum 2001-2005, in dem die Arbeitslosigkeit 20 Prozent erreichte und die SLD-Regierung als eine der wenigen weltweit George W. Bushs Kriege im Nahen Osten bedingungslos unterstützte). Doch das politische Klima in Polen hat sich seither so grundlegend verändert und das Gravitationszentrum ist so weit nach rechts gerückt (hin zum oft offenem Faschismus), dass es einfach keinen Platz für eine weitere rechte Fraktion gibt. Die Wahlen 2015, bei denen die SLD an den Überresten ihres neoliberalen Kurses festhielt und nicht ins Parlament eintrat, und das Ergebnis im Oktober letzten Jahres – als eine Koalition mit nach außen hin progressiveren Parteien mit rund 12,5 Prozent Unterstützung zu mäßigem Erfolg führte – könnten der SLD in dieser Hinsicht eine Lehre sein.
Abgesehen von der parlamentarischen Mainstream-Linken – die seit 1989 nur noch ihrem Namen nach eine »Linke« ist – gibt es in Polen einige Gruppen und Kreise, die eine radikale linke Politik verfolgen. Sie sind jedoch am stärksten von den oben skizzierten Problemen des Klassenverständnisses betroffen. Nach dem Sieg der PiS besteht ihre Aufgabe nun vor allem darin, die Kleinbourgeoisie, wenn überhaupt möglich, von einem Abdriften in Richtung Faschismus abzuhalten und sie auf die Seite der arbeitenden Klasse zu ziehen. Wenn sich das, was leider wahrscheinlich ist, als unmöglich erweist, stellt sich die Frage, wie man einen dauerhaften Keil zwischen diese beiden Gruppen treiben kann und wie man verhindert, dass sie mit konservativen Botschaften zugeschüttet werden, die sich lediglich darin unterscheiden, ob sie eine eher libertäre oder vermeintlich »solidarische« Sprache sprechen.
Grzegorz Konat ist Wirtschaftswissenschaftler und lebt in Polen.