06. Februar 2024
Dass Politiker mit der Lebensrealität der Erwerbsbevölkerung nichts am Hut haben, kann man in jeder Satiresendung oder Talkshow hören. Aber was ist mit den Journalisten aus gutem Hause, die ständig fordern, die Arbeiterschaft solle härter arbeiten?
Der Hamburger Elfenbeinturm des »Spiegel«.
Die Politiker haben selbst noch nie ordentlich gearbeitet und wollen Entscheidungen für Millionen Menschen treffen – solche und ähnliche Sätze hört man immer wieder, wenn es um sozialdemokratische oder grüne Politikerinnen und Politiker geht. Liberale und Konservative lieben es, die Erwerbs- und Studienbiografie eines Kevin Kühnert oder einer Ricarda Lang durchzugehen, um dann festzuhalten: So einer kann doch nie und nimmer wissen, wie die fleißigen Leute arbeiten.
Davon kann man nun halten, was man will. Ich persönlich denke nicht, dass die Biografie einer Politikerin entscheidend ist für die Beurteilung ihres Tuns, sondern dass die Frage sein sollte: Was leistet sie eigentlich für die arbeitende Bevölkerung? Sorgt sie für eine Verbesserung der Lebensumstände, oder nicht doch bloß für weitere Verarmung?
Bemerkenswert ist aber, dass bei einer Berufsgruppe, die permanent über die ach-so-faul gewordene Arbeiterschaft zu Gericht sitzt, nie gefragt wird, ob dort schon einmal jemand »richtig« gearbeitet hat: nämlich bei Journalistinnen und Journalisten. Egal ob bei der FAZ, dem Focus – oder dem Spiegel: Überall findet man dort Autoren aus »gutem Hause«, die noch nie normale Erwerbsarbeit leisten mussten – und die sich trotzdem nicht albern dabei vorkommen, wenn sie den Arbeiterinnen die Leviten lesen.
Da wird man dann gerade zu Streikzeiten haargenau informiert, wie gut es die deutschen Arbeitnehmer hätten, und dass diese nun endlich einmal ihre Interessen zurückstellen sollten. Die Krönung dieses Diskurses war wohl die kürzlich erschienene Spiegel-Kolumne von Ursula Weidenfeld, die unter der Überschrift »Ranklotzen, bitte!« erschien. Dort war Folgendes zu lesen:
»Sie pilgern nach Hamburg, um sich in Caspar David Friedrichs Landschaften zu verlieren. Sie weichen ihre Haferflocken abends ein, damit sie auf der Dienstreise am nächsten Tag Overnight Oats aus großen Vorratsgläsern löffeln können. Und wenn sie sich nicht gut fühlen, bleiben sie sicherheitshalber mal zu Hause. Deutschland ist ein Land der Vorsichtigen, Empfind- und Achtsamen geworden. Es wäre gut, wenn sich das bald ändert – und Disziplin einkehrt. Die Pandemie ist vorbei.«
Ja, was soll man da sagen? Der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer pilgert durch die Republik, um Gemäldeausstellungen zu besuchen und weicht Haferflocken für Dienstreisen ein? So sieht die Welt wirklich nur für jemanden aus, der seit Jahrzehnten im journalistischen Betrieb haust, und der mit der Lebensrealität der meisten Menschen nichts zu tun hat. Ich kann nur jedem einmal empfehlen, die Malocher-Biografie dieser Autorin selbst zu recherchieren.
»Es ist kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren Arbeitskämpfe immer wieder primär darum gedreht haben, Arbeitsbedingungen zu verbessern, und erst sekundär um Löhne.«
Was sie mit ihrer billigen Polemik zum Ausdruck bringen möchte: Den Arbeitenden geht es noch viel zu gut, frecherweise bleiben die sogar Zuhause, wenn sie eine Erkältung haben:
»In der Coronazeit war das richtig und wichtig, um die Verbreitung des Virus zu bremsen und besonders gefährdete Personen zu schützen. Doch diese Gefahr ist vorbei. Jetzt ist es egoistisch, mit einem Schnupfen zu Hause zu bleiben oder wegen einer leichten Verstimmung zu fehlen. Kunden müssen warten, Telefonanrufe werden nicht beantwortet, die Kollegen müssen mehr arbeiten. Die Kehrseite der Selbstfürsorge ist Trittbrettfahrerei.«
Das ist schon ein verrückter Vorwurf: Wer nicht mit einer Erkältung arbeiten will, ist egoistisch. Und das wohlgemerkt, weil die Kolleginnen und Kollegen mehr arbeiten müssen. Man würde ja gern einmal einen Artikel lesen, in dem mit einem ähnlichen Moralismus Arbeitgeber gegeißelt werden, die einen so niedrigen Personalschlüssel zu verantworten haben, dass die Angestellten permanent kurz vor dem Burnout stehen. Es ist kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren Arbeitskämpfe immer wieder primär darum gedreht haben, Arbeitsbedingungen zu verbessern, und erst sekundär um Löhne. Das konnten wir in Krankenhäusern und in Verkehrsbetrieben erleben.
Und was soll »Egoismus« eigentlich für ein Vorwurf sein? Dass Egoismus eine ökonomische Tugend ist, war eigentlich immer die Meinung von Liberalen – sowohl in der moralphilosophischen Tradition eines Adam Smith als auch nach der vulgärliberalen Auffassung einer Ayn Rand, die sich selbst stolz als Egoistin bezeichnete.
Komischerweise scheint das aber nur fürs Kapital zu gelten: Wenn Unternehmer Rekordgewinne einfahren, dann ist allen völlig klar, dass diese ans Kapital gehen und sich nicht etwa in höhere Löhne umsetzen. Bei normalen Erwerbstätigen, die einfach nur eine Erkältung auskurieren wollen, wird hingegen sofort das wohlbegründete Eigeninteresse zurückgewiesen, weil es sich um einen Klotz am Bein des volkswirtschaftlichen Wachstums handelt. Und das von Journalistinnen, die wirklich noch nie die Härten des normalen Arbeitsmarktes kennengelernt haben. Hierüber sollte man deutlich mehr sprechen als über die Erwerbsbiografien von Politikern.
Ole Nymoen betreibt den Wirtschaftspodcast Wohlstand für Alle und ist Kolumnist bei JACOBIN.