06. Januar 2022
Fritz Sternberg stand zwischen westlichem und Parteimarxismus. Genau das macht seine Schriften noch heute interessant.
Fritz Sternberg (1895-1963).
Einem noch immer bemerkenswert weit verbreiteten Vorurteil zufolge hat es im Nachkriegsdeutschland nur zwei nennenswerte Strömungen eines »modernen« Marxismus gegeben: den ostdeutschen SED-Parteimarxismus auf der einen und den »westlichen Marxismus« der Frankfurter Schule auf der anderen Seite. Autoren und Intellektuellen dagegen, die aus diesem ideologischen Raster herausfallen, finden kaum Beachtung. Wie unproduktiv dies ist, das lässt sich unter anderem am Beispiel des linkssozialistischen Politökonomen Fritz Sternberg aufzeigen, dessen Schriften und Wirken bis heute noch auf ihren Historiker und Analytiker warten.
Geboren wurde Sternberg im Juni 1895 in eine Breslauer Familie des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums: Schon früh – er war noch keine 16 Jahre alt – hatte er die klassische sozialistische Literatur seiner Zeit verschlungen und begonnen, erste parteipolitische Artikel in der sozialdemokratischen Presse zu schreiben. 1911 geriet er unter den nachhaltigen, auch persönlichen Einfluss des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, und engagierte sich in der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung Breslaus – Breslau war damals eine der Hochburgen sowohl der zionistischen Jugendbewegung wie der radikalen sozialistischen Arbeiterbewegung.
Von der zeitweisen Kriegsteilnahme wurde der junge Kriegsgegner zum Zwecke einer Promotion über das jüdische Genossenschaftswesen in Palästina (Die Juden als Träger einer neuen Wirtschaft in Palästina) beurlaubt, die er 1917 fertigstellte und 1921 in Wien veröffentlichen sollte. Im Revolutionsjahr 1918 engagierte er sich als Mitglied im Breslauer Arbeiter- und Soldatenrat und ging 1919 nach Wien, wo er Sigmund Freud und Alfred Adler kennenlernte und sich mit deren Psychoanalyse vertraut machte. Seit 1920 arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei dem Soziologen und Nationalökonomen Franz Oppenheimer in Frankfurt am Main, überwarf sich jedoch mit diesem und musste seine wissenschaftlich-akademische Karriere abbrechen. Er ging zurück nach Breslau und begann dort mit der Arbeit an seinem 1926 in Berlin veröffentlichten Hauptwerk Der Imperialismus.
In Anknüpfung an Rosa Luxemburgs ökonomische Schriften argumentierte Sternberg hier, dass der Imperialismus als jene Etappe der kapitalistischen Produktionsweise zu verstehen ist, bei der nichtkapitalistische Territorien durchkapitalisiert und auf diesem Wege das ihr strukturell innewohnende Absatzproblem zumindest zeitweise gelöst werde. Diese »Schonzeit« sei jedoch nun vorbei: »Die Zahl der imperialistischen Hunde wird größer, die Zahl der Knochen, die ihnen zur Verfügung stehen, wird kleiner, also werden die Kämpfe der Hunde untereinander immer erbitterter, also wird ständig aufgerüstet, militärisch wie industriell.«
In noch heute origineller und anregender Form benutzt Sternberg hier seine historisch vergleichende Methodik, um den imperialistischen Weltkapitalismus in seiner kombinierten Ungleichzeitigkeit zu analysieren, die wechselseitigen Zusammenhänge von europäischem und US-amerikanischem Kapitalismus aufzudecken und dabei auch auf die Rolle der russischen Revolution und der beginnenden Entkolonialisierungsbewegungen einzugehen. Und er entwickelte vor diesem Hintergrund eine scharfe Kritik nicht nur des sozialdemokratisch-reformistischen Blicks auf den zeitgenössischen Kapitalismus, sondern auch der vor allem von Kommunisten einflussreich propagierten vulgärmarxistischen Theorie von der Arbeiteraristokratie als dem Ursprung allen Übels.
Auch wenn der Tatbestand der kolonialen Ausbeutung als solcher nicht zu bestreiten sei, so erklären sich die Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft und der Erfolg des Reformismus für Sternberg nur bedingt aus diesen Surplusprofiten. Ohne (reformistischen) Lohnkampf seien an dieser Front keine Fortschritte zu erzielen, da keinem Unternehmer kampflos Zugeständnisse abzuringen seien. Entsprechend reiche es auch nicht, eine kleine Minderheit von »Arbeiter-Aristokraten« politisch und ideologisch auszugrenzen, um so die gesellschaftliche Basis des Reformismus aufzulösen. Nicht um subjektiven Verrat gehe es, sondern um die Wahrnehmung und Politisierung objektiver Widersprüche im gesellschaftspolitischen Emanzipationskampf.
So gerüstet ging er 1926 nach Berlin-Mitte und intensivierte sein umfangreiches politisches Engagement am linken Rand der Sozialdemokratie, in linken Intellektuellenkreisen und auf internationalen anti-imperialistischen Kongressen. Der feinsinnige Kunst- und Kulturkenner pflegte Umgang und Freundschaften mit Bert Brecht, Lion Feuchtwanger, Erwin Piscator und vielen anderen und stürzte sich – als engagierter Intellektueller, streitbarer Journalist und »temperamentvoller Debattierer« (Manès Sperber) – in publizistische Auseinandersetzungen mit führenden Linksintellektuellen seiner Zeit (wie Fritz Naphtali und Henryk Grossmann). Mehrfach besuchte er in den Jahren 1929 und 1930 auch die Sowjetunion.
Unter dem Eindruck der Ende der 1920er Jahre ausbrechenden Weltwirtschaftskrise legte er pointierte Analysen des Niedergangs des deutschen Kapitalismus vor, die diesen als das schwächste Glied des Weltkapitalismus der ersten Jahrhunderthälfte lesen (Der Niedergang des deutschen Kapitalismus, Berlin 1932). Auch hier offenbarte sich sein feines Verständnis des krisenhaften Weltkapitalismus in seiner kombinierten Ungleichzeitigkeit und schon früh widmete er sich, als dezidierter Anti-Reformist und Anti-Stalinist, dem explizit antifaschistischen Kampf.
Seine kritischen Analysen des aufkommenden europäischen Faschismus – auch sie haben wenig von ihrer eindringlichen Klarheit und Prägnanz verloren und sind in ihrer Vermittlung von Ökonomie und Klassenpolitik methodisch vorbildlich – betonen die zentrale Rolle der alten und neuen radikalisierten Mittelschichten und ihr eigenartiges Bündnis mit den groß- und agrarkapitalistischen Interessenskämpfen. Entsprechend fundamental sind auch seine Anklagen des hilflosen Antifaschismus sozialdemokratischer und parteikommunistischer Strömungen. Gerade seine Kritiken am sozialdemokratischen Reformismus und am von Moskau abhängigen kommunistischen Sektierertum bieten so manches Aha-Erlebnis selbst für heutige Zeitgenossen. Mit Verve geißelte er die sozialdemokratische Politik der Passivität und des Klüngels mit dem Bürgertum, die die strukturelle Gesellschaftskrise und die Gefahren des Faschismus kleinrede und die Arbeiterschaft, ihr Klassenbewusstsein und ihre Organisationskultur von innen aushöhle und deprimiere, weil sie sie nicht zur kämpferischen Mobilität, sondern zur Zurückhaltung erziehe (»Aushalten, Maul halten, Durchhalten!«). Doch der Arbeiterschaft, schrieb er, »bleibt der Kampf nicht erspart, von selbst stirbt der Kapitalismus nicht«.
Kein Zufall ist es deswegen, dass Sternberg zu den ersten und führenden Aktivisten der Sozialistischen Arbeiter-Partei (SAP) gehörte, einer kleinen, aber feinen linkssozialistischen Partei, die seit 1931 für eine revolutionäre Einheitsfront der sich feindlich gesinnten Arbeiter und Arbeiterorganisationen von SPD und KPD stritt. Vergeblich: Sozialdemokraten und Kommunisten wollten nicht hören, der deutsche Faschismus kam an die Macht. Seiner daran sich anschließenden Verhaftung entging Sternberg nur knapp und zufällig.
Mitte März 1933 ging er in die Tschechoslowakei, lernte kurz darauf Leo Trotzki in Frankreich kennen, mit dem der auch weiterhin politisch aktive SAPler vorübergehend eng zusammenarbeitete – er schrieb damals sogar einen Entwurf für ein ökonomisches Programm für die noch zu gründende IV. Internationale. Doch er blieb der SAP treu, ging den Weg zur IV. Internationale nicht mit und schrieb weiterhin für die SAP-Presse. Auch seine als Bücher und Broschüren veröffentlichten Analysen des Faschismus an der Macht, des deutschen Kriegskurses und der absehbaren Folgen des Weltkrieges stechen noch immer vieles aus, was auf dem heutigen publizistischen Markte so angeboten wird (Der Faschismus an der Macht, Amsterdam 1935, Germany and a Lightning War, London 1938; deutsche Ausgabe: Die deutsche Kriegsstärke, Strassbourg 1939).
1939 schließlich ging Sternberg in die USA, wo der von den Moskauer Schauprozessen stark Ernüchterte mit linken Gewerkschaftern zusammenarbeitete und zunehmend unter den Einfluss der sogenannten New York Intellectuals geriet. Dieser Kreis von fortschrittlich gesinnten Intellektuellen war ursprünglich dem Trotzkismus wohlgesonnen, doch ihr radikaler Antistalinismus artete zu einem immer einflussreicheren Antikommunismus aus, so dass sich die New York Intellectuals zu frühen Kalten Kriegern mauserten. Sah er noch Ende 1943 die welthistorische Wahl einzig zwischen einem reaktionären Kapitalismus und einer sozialistischen Volks-Revolution, bezog Sternberg 1947/48 die Stellung des linksliberal-kapitalistischen Westens, als die Volksrevolution im Westen ausblieb und der Übergriff eines sich gerade restalinisierenden Ostblock-Kommunismus vermeintlich drohte. Einzig die (sich damals noch demokratisch-sozialistisch und planwirtschaftlich verstehenden) sozialdemokratischen Kräfte könnten, als gleichzeitig anti-nationalistische und anti-kommunistische Kräfte, die Russen in Europa und Deutschland stoppen (How to stop the Russians without War, New York 1948; deutsche Ausgabe: Wie stoppt man die Russen ohne Krieg?, 1950).
Nicht mehr zwischen Kapitalismus und Sozialismus sei nun zu wählen, schrieb er, sondern »zwischen einem kapitalistischen Staat, der auf der Basis demokratisch-politischer Institutionen gewaltige soziale Transformationsprozesse durchführt, und dem russischen Staat, der mit seiner Diktatur gegen die Arbeiter und die Bauern ungleich reaktionärer geworden ist als die kapitalistischen demokratischen Staaten«. Hatte er also bis dahin vor allem den sozialdemokratischen Reformismus für das historische Versagen der Arbeiterbewegung vor dem Faschismus und die ausbleibende sozialistische Revolution verantwortlich gemacht, wurden ihm nun die Kommunisten zur Ursache von allem Bösen.
Auf besonders prägnante Weise verdeutlichen Sternbergs Schriften aus der unmittelbaren Nachkriegszeit (The Coming Crisis, Toronto 1947; Capitalism and Socialism on Trial, New York 1951; deutsche Ausgabe: Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, 1951), dass es weniger die direkte Erfahrung des Faschismus selbst gewesen ist, die das politische Denken radikal linker Theoretiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verändern begann, als vielmehr die weltpolitische Polarisierung des aufziehenden Kalten Krieges. Sternbergs zunächst taktische Verschiebung sollte sich auch und gerade bei ihm zu einem politisch-strategischen Bruch und zu einem Verlust des einstmals so unabhängigen politischen Subjektcharakters entwickeln.
Sternberg wandelte sich damals vom politischen Weltökonomen und Linkssozialisten zu einem linken sozialdemokratischen Geopolitiker, der die USA, Europa, die Sowjetunion, Asien und Afrika gleichermaßen in den Blick nahm – und dabei nicht müde wurde zu betonen, dass wir eigentlich erst mit dem Zweiten Weltkrieg in die Epoche einer wirklichen Weltgeschichte eingetreten sind. Gerade dieser welthistorische Blick hat wenig von seiner Faszination und Klarsichtigkeit verloren.
Denn mit seiner Form von politischer Ökonomiekritik erweist sich Fritz Sternberg als ein so früher wie origineller Weltsystem-Theoretiker und Globalgeschichtler, der nicht nur das bloße Wechselspiel der beiden Supermächte bedenkt, sondern auch jene »Dritte Welt« der sich entkolonialisierenden Entwicklungsländer in seine Betrachtung integriert, um deren gesellschaftspolitische Gunst die beiden Großmächte ihren Kalten Krieg führten (Marx und die Gegenwart. Entwicklungstendenzen in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, 1955; Wer beherrscht die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts?, 1961).
Enttäuscht vom aufkommenden US-amerikanischen McCarthyismus suchte Sternberg Anfang der 1950er Jahre wieder engeren Kontakt nach Westdeutschland, wo seine Bücher und Broschüren bei sozialdemokratischen Linken, Gewerkschaftern und linken Liberalen Anklang fanden. Mitte der Fünfziger siedelte er wieder gänzlich nach Deutschland über. Trotz seiner strategischen Wahl für den »freien Westen« erkannte er die vorwärtstreibenden Kräfte einer weltgeschichtlichen Emanzipation im Erwachen der in Unterentwicklung gehaltenen »Dritten Welt«, suchte die internationalistische Solidarität mit den Befreiungsbewegungen und hoffte, dass deren Setzen auf eine wesentlich planwirtschaftlich organisierte nachholende Industrialisierung auch den alten, auf planwirtschaftliche und wirtschaftsdemokratische Methoden setzenden freiheitlichen Sozialismus des Westens wieder in Mode kommen lasse.
Vor allem in Asien und speziell in Indien – damals ein zentraler Hoffnungsträger der blockfreien Staaten – sah er nun diese demokratisch-planwirtschaftlichen Methoden erneut auf dem Vormarsch. Sternberg versuchte sein westliches Publikum gegen die Provinzialität der sich in die Blockkonfrontation einbunkernden sozialdemokratischen Parteien zu mobilisieren. »Wir können aus der Weltgeschichte nicht mehr aussteigen!«, schrieb er den österreichischen Sozialdemokraten auf ihrem Parteitag im Jahre 1961 ins Stammbuch: »Heute kann man von jedem Fleck Europas und Amerikas nach jeder Stadt in Südamerika, Asien und Afrika in einem Tag fliegen. Wir sollten aber auch wissen, dass man von jeder Stadt Asiens oder Afrikas nach jeder Stadt Europas oder Amerikas ebenfalls in 24 Stunden gelangen kann!«
Anders als in heutiger Zeit war dies jedoch kein Plädoyer für die rassistische Abschottung gegen die in Unterentwicklung gehaltene Welt, sondern, ganz im Gegenteil, ein flammendes Plädoyer für die progressive Veränderung der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Weltverhältnisse. Entsprechend schwer taten sich die sich damals gerade konservativ wandelnden westdeutschen Gewerkschafter und Sozialdemokraten mit diesem doch noch immer irgendwie zu linken Intellektuellen. Und auch wenn seine eigene lagerpolitische Entscheidung für die Sozialdemokratie bis zu seinem Tod im Oktober 1963 anhalten sollte, wirklich versöhnt war er mit ihr nicht. Das haben die jungen deutschen APO-Wilden der 1960er und 70er Jahre geflissentlich übersehen, als sie ihn weitgehend ignorierten.
So findet man nach 1968 zwar Neuauflagen seiner Imperialismusschrift und seines Buches über den Faschismus. Seine vielen anderen Arbeiten jedoch (zur Reformismus- und Stalinismuskritik, zu Kolonialismus und Entkolonialisierung, seine Sicht auf die historische Entwicklung des deutschen Kapitalismus und seine weltökonomischen und weltpolitischen Analysen) sind leider kaum noch präsent.
Bei diesem Text handelt es sich um eine stark erweiterte und überarbeitete Fassung eines 2020 in der Zeitschrift OXI erschienen Artikels.
Christoph Jünke lebt und arbeitet als Historiker in Bochum. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. »Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995)« (VSA Verlag, 2007) sowie »Leo Koflers Philosophie der Praxis. Eine Einführung« (Laika Verlag, 2015).
Christoph Jünke lebt und arbeitet als Historiker in Bochum. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. »Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995)« (VSA Verlag, 2007) sowie »Leo Koflers Philosophie der Praxis. Eine Einführung« (Laika Verlag, 2015).