10. September 2025
Der Populismusforscher Paolo Gerbaudo erklärt, warum Rechtspopulismus heute besser funktioniert als Linkspopulismus und welche Rolle die digitale Demokratie bei der Wiederbelebung der Parteikultur spielen könnte.
»Das ›Volk‹, fühlt sich nicht mehr vertreten, was einen seltsamen Zwischenraum schafft, der weder links noch rechts ist.«
Ist es wirklich sinnvoll, den allgemeinen Begriff »Populismus« zu verwenden, wenn wir über die disruptiven politischen Umbrüche der letzten Jahre sprechen? Schließlich unterscheiden sich Rechts- und Linkspopulismen in ihrer politischen Substanz doch gewaltig.
Ich denke, der Begriff erfasst eine allgemeine strukturelle Bedingung, nämlich die zerrissene Bindung zwischen den Vertretenen und den Vertretern. Antonio Gramsci nannte dies eine »organische Krise«: Das Repräsentativsystem bricht zusammen, und die Menschen versuchen stattdessen, direkt in die Maschinerie der Politik einzugreifen. Ich messe die Stichhaltigkeit eines Wortes nicht an seiner reinen Semantik oder Theologie, sondern daran, wie Menschen es verwenden, um historische Realität zu verstehen.
Man könnte argumentieren, dass der Begriff »Populismus« zu weit gefasst ist. Aber ich denke, er ist gerade deshalb so attraktiv, weil er dieses weitverbreitete Gefühl der politischen Unzufriedenheit, der Unruhe in der Bevölkerung und der Massenmobilisierung einfängt. Wir befinden uns nicht mehr in jener langen Ära der politischen Apathie, in der soziale Bewegungen schrumpften und die Wahlbeteiligung zurückging.
Wir leben jetzt in einer Zeit wachsender Mobilisierung und Politisierung, aber die Menschen schließen sich immer noch keinen traditionellen Organisationen an. Das kollektive demokratische Subjekt, das »Volk«, fühlt sich nicht mehr vertreten, was einen seltsamen Zwischenraum schafft, der weder links noch rechts ist. Dieses Terrain ist in vielerlei Hinsicht noch für beide Seiten offen.
Du argumentierst, dass der Populismus erst nach der Finanzkrise von 2007/8 entstanden ist. Was machte diesen Moment zu einem so fruchtbaren Nährboden?
Mit der Finanzkrise begann die Destabilisierung des neoliberalen Systems, das sich bis dahin als recht stabil erwiesen hatte. Es herrschte die weitverbreitete Überzeugung, dass der Markt grundsätzlich gut sei und die Politik sich nicht einmischen sollte. Die Krise offenbarte die tiefe Finsternis des Systems: Es war nicht nur die Ökonomie, die nicht funktionierte – auch die Politik versagte, da die politischen Parteien mit der Finanzklasse unter einer Decke steckten.
»Die psychologische Landschaft des Liberalismus und die von ihm geschaffenen Pathologien bieten einen sehr fruchtbaren Boden für nationalistische Populisten.«
Anstatt ihre Fehler einzugestehen, verschlimmerten die Eliten die Lage noch, indem sie ihren Kurs fortsetzten und der Bevölkerung erhebliche ökonomische Schäden verursachten. Diese Sequenz war entscheidend dafür, dass eine neue Form der populistischen Wut, die bis dahin vor allem aus Lateinamerika bekannt war, auch nach Europa kam.
Die Krise der demokratischen Repräsentation, auf die der Populismus reagiert, reicht jedoch weiter zurück als in die 2000er Jahre. Können wir uns den populistischen Moment ohne den Niedergang der Massenparteien und der politischen Teilhabe der Nachkriegszeit vorstellen?
2008 ist der Moment, in dem die Erosion des Systems plötzlich auf katastrophale Weise sichtbar wird, aber dies war nur möglich, weil das Gerüst der politischen Beteiligung bereits von innen ausgehöhlt war und den Menschen damit die traditionellen Mittel genommen waren, ihren Anliegen Ausdruck zu verleihen.
Was zunächst als Wirtschaftskrise erschien, verwandelte sich in eine akute und chronische Systemkrise, gerade weil unter dem Neoliberalismus keine politische Alternative möglich ist. Die Menschen mussten immer wieder feststellen, dass sie zwar wählen konnten, wen sie wollten, die Wirtschaftspolitik aber unverändert blieb.
Es mag etwas weit hergeholt klingen, aber könnten wir Parallelen zwischen unserer heutigen Zeit und dem Aufkommen der demokratischen Massenpolitik im 19. Jahrhundert ziehen?
In gewisser Weise befinden wir uns am anderen Ende dieser historischen Entwicklung, da die demokratischen Strukturen, die unsere Eltern und Großeltern kannten, formal noch vorhanden sind, aber nicht mehr wesentlich – das meinte Colin Crouch, als er den Begriff »Postdemokratie« prägte. Man hat zwar noch seine Grundrechte und kann seine Meinung frei äußern, aber enorme wirtschaftliche Ungleichheiten machen es unmöglich, vollwertiger Bürger zu sein. Wie soll man sich sinnvoll in die Gesellschaft einbringen, wenn man nur ums Überleben kämpft?
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Paolo Gerbaudo ist Senior Researcher für Sozialwissenschaften am Institut für Politikwissenschaft und öffentliche Verwaltung der Universität Complutense in Madrid und Mitglied des Alameda-Instituts. Er ist Autor mehrerer Bücher über den Wandel der zeitgenössischen Politik, zuletzt »The Great Recoil: Politics after Populism and Pandemic«.