06. Mai 2024
Rechtspopulisten verachten Expertenmeinungen, Linke kritisieren Technokratie – das ist nicht dasselbe. Denn demokratische Prinzipien und Massenpolitik sind das einzig wahre Gegenmittel zu übermäßiger Machtaneignung durch Experten.
Mitglieder des National Advisory Committee on Aeronautics, des Vorgängers der heutigen US-Raumfahrtbehörde, bei einer Sitzung im Jahr 1938.
Der Aufstieg populistischer Bewegungen beeinflusst die politischen Kämpfe um große Herausforderungen wie beispielsweise den Klimawandel. Infolgedessen hat die Frage, wo Expertise und »evidenzbasierte Politik« im demokratischen politischen Leben ihren Platz haben und haben sollten, neue Relevanz erlangt.
In Kanada hat die liberale Regierung kürzlich die Preise für CO2-Zertifikate erhöht und damit heftigen Widerstand seitens der Konservativen Partei ausgelöst – was wiederum hunderte Wirtschaftswissenschaftler dazu veranlasste, einen offenen Brief zur Verteidigung der Regierungsmaßnahme zu unterzeichnen. Die Wirtschaftsfachleute nutzten die Gelegenheit, um die Führung des Landes »aufzurufen, ökonomisch vernünftige Maßnahmen zu ergreifen, um die Emissionen zu möglichst geringen Kosten zu reduzieren, die Bedenken der Kanadier hinsichtlich der Finanzierbarkeit zu zerstreuen, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu erhalten und den Übergang Kanadas zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu unterstützen«.
In einer Reaktion darauf betonten die Konservativen ihrerseits, man werde nicht auf die Ratschläge »sogenannter Experten« hören. Sie wiederholten außerdem die altbekannten Slogans, dass Steuern und Abgaben grundsätzlich schlecht und angesichts der anhaltenden Krise im Land noch schlimmer seien – egal, wie bedrohlich der Klimawandel auch sein mag. Die Antwort der Konservativen erinnerte an die Trump’sche MAGA-Rhetorik südlich der Grenze: hämisch, anti-intellektuell, kontraproduktiv.
Es muss betont werden: Die Ökonominnen und Ökonomen, die den Brief unterzeichneten, haben dies nicht als politische Parteigänger oder gar als »Verteidiger« der Regierung getan. Sie unterzeichneten als Fachleute, die ein bestimmtes politisches Instrument befürworten.
Expertenwissen in der öffentlichen Politik – also das Angebot von auf Kommunikation zugeschnittene Daten für Politiker, ihre Mitarbeitenden, den öffentlichen Dienst und/oder ein Massenpublikum – hat mit Blick auf eine möglichst engagierte Bürgerschaft, die diese Informationen verarbeiten und ihnen zustimmen oder sie ablehnen kann, eine besondere Bedeutung: Der Output von Fachleuten ist dort, wo Massenpolitik betrieben wird, das unterfütternde Basismaterial für die Entscheidungsfindung. Ohne ein gesundes, gut funktionierendes demokratisches Ökosystem können Expertenmeinungen aber schnell zu Schwierigkeiten führen.
Die erstarkenden rechtspopulistischen Bewegungen im Westen – die wir je nach ihrer Spielart als künstlich aufgebauscht, als autoritär oder aber auch als Graswurzelinitiativen wahrnehmen – neigen zu einer äußerst misstrauischen Haltung gegenüber Fachwissen und dem Anspruch auf eine »evidenzbasierte« Politik. Schließlich wird eine solche Politik als das Terrain der Eliten wahrgenommen. Und was wissen diese Eliten schon von den Problemen der »normalen« Leute? Zugegeben, die besagten normalen Leute haben jedes Recht, den Eliten zu misstrauen, einschließlich derjenigen in der linken Mitte, die sie angeblich vertreten. Dabei geht diese Vertretung meist nicht über Kurzbesuche in der Provinz und in Fabriken hinaus, verlangt im Gegenzug aber bedingungslose Loyalität gegenüber der jeweiligen Partei.
Die politische Spielart des Populismus trennt die Welt stets in zwei Lager – die allenfalls zwielichtige Elite und die ehrbare Masse. Wer sind erstere, um den Letzteren zu sagen, was sie zu tun haben? Der Populismus hat eine lange Geschichte auch in einer Linken, die der Macht der Eliten und deren Ausdruck in Form von Technokratie überdrüssig ist und sich entsprechend sorgt. Es wäre jedoch ein Fehler, den Linkspopulismus mit dem Rechtspopulismus auf eine Stufe zu stellen. Das würde die Annahme implizieren, dass die Eliten-Kritik auf beiden Seiten identisch sei – und daher auch identisch falsch.
»Der Output von Fachleuten ist dort, wo Massenpolitik betrieben wird, das unterfütternde Basismaterial für die Entscheidungsfindung.«
Tatsächlich können die Kritikkonstruktionen der verschiedenen Gruppen sehr unterschiedlich sein. Nehmen wir zum Beispiel das Weltwirtschaftsforum (WEF), das seit langem von der Linken und in letzter Zeit auch von der Rechten kritisiert wird. Die Rechte mag im WEF eine autoritäre globalistische Verschwörung sehen – was nicht selten auf antisemitischem Denken beruht. Im Gegensatz dazu übt die [populistische] Linke eine banale Wirtschaftskritik, die sich gegen elitäre Institutionen richtet, die versuchen, auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter Regeln aufzustellen, die nur für die Kapitalistenklasse vorteilhaft sind. Der Kritik der Linken fehlt dabei allerdings die ebenso effektheischerische wie paranoide Dramatik der Rechten. In einer wirklich strukturellen Kritik der Machtverhältnisse gibt es keine Verschwörungsmythen und keine Sündenböcke aus Minderheitengruppen.
Derweil hat das Pew Research Center in einer Studie Ende Februar fesgestellt, dass die Demokratie in der ganzen Welt breite Unterstützung findet. Allerdings äußerte sich etwa ein Drittel der Befragten skeptisch gegenüber der Selbstregierung und fand sie »etwas« oder sogar »sehr« schlecht. Gleichzeitig beobachtete Pew auch eine »beträchtliche« Unterstützung für Technokratie, also die Herrschaft von Experten: Im weltweiten Durchschnitt stuften 58 Prozent diese Form der Regierung als »etwas« oder »sehr« gut ein. In Kanada und den USA sahen dies jeweils knapp 50 Prozent so. Das sind beunruhigende Werte.
Diese positive Sichtweise auf Technokratie deutet unter anderem darauf hin, dass viele Menschen sich effektive Problemlösungen wünschen, aber der Fähigkeit der Demokratie, solche effektiven Lösungen auch zu erreichen, misstrauen oder sie gering einschätzen. Der Populismus ist eine Umkehrung dieses Misstrauens. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Aspekten ist wichtig – und mit Blick auf die Demokratiekrise, den Klimawandel, die öffentliche Gesundheitsversorgung, die Wohnungskrise und viele weitere Themen potenziell gefährlich.
Demokratie ist nicht die Herrschaft des Pöbels, und die Wählerschaft ist kein Haufen Dummköpfe. Dennoch scheint die Rolle des Fachwissens bei der politischen Entscheidungsfindung in den fortgeschrittenen Industriestaaten ebenso entscheidend wie heikel zu sein. Die Frage ist: Wie schaffen wir ein gutes Gleichgewicht zwischen dem Bedarf an Fachwissen und der demokratischen Aufgabe, Politik öffentlich zu machen und sie nach dem Willen sowie mit dem Volk zu gestalten?
Wichtig ist, wie der Demokratietheoretiker Mark E. Warren es ausdrückt, dass Fachwissen in einer Demokratie keine prä-politische Autorität hat. Das bedeutet, dass demokratische Entscheidungen immer ein unvermeidlicher Teil der Politikgestaltung sind und die Legitimität dieser Entscheidungen und ihre Ergebnisse erst dann akzeptiert werden können, wenn sie direkt oder indirekt auf den demokratischen Prüfstand gestellt wurden. Anders gesagt: »Vertraut mir, ich bin Experte« ist für eine demokratische Entscheidung schlichtweg nicht ausreichend.
»Demokratie ist nicht die Herrschaft des Pöbels, und die Wählerschaft ist kein Haufen Dummköpfe.«
Darüber hinaus ist Expertise nicht unfehlbar. Fachleute sind sich häufig uneinig. Fachleute können sich irren. Fachleute arbeiten möglicherweise mit unzureichenden Informationen und Daten. Fachleute können ihre Meinung ändern. Die während der Pandemie ergriffenen Maßnahmen lieferten zahlreiche Beispiele für diese Problematik. Außerdem kann es durchaus sein, dass Experten uns zu oder gegen eine bestimmte Maßnahme raten, wir aber ganz oder teilweise anderer Meinung sind, weil wir nun einmal unterschiedliche, vielleicht sogar gegensätzliche Prioritäten oder Wünsche haben.
Wir müssen Fachwissen berücksichtigen und es in unsere Politik einfließen lassen. Wir müssen Fachleute ernst nehmen – vor allem dann, wenn es unter ihnen (Beinahe-)Konsens gibt, wie bei der oben erwähnten Debatte über die CO2-Abgabe. Evidenzbasierte Politik ist gut. Aber die Bevölkerung muss immer noch durch Argumente, Erklärungen, Debatten und andere Formen der Konsultation (mit der ultimativen Konsultation in Form von Wahlen) überzeugt werden. Wenn es Politikerinnen und Politikern nicht gelingt, die Unterstützung der Öffentlichkeit zu gewinnen und aufrechtzuerhalten, kann ihre Politik zum Scheitern verurteilt sein (im Guten wie im Schlechten) – und Wählerinnen und Wähler dürften dann guten Grund haben, Änderungen zu fordern.
Alles in allem spielen Fachleute und Fachwissen eine wesentliche und unschätzbar wichtige Rolle bei der demokratischen Politikgestaltung. Die Missachtung ihrer Ratschläge kann zu suboptimalen – oder einfach schlechten – Ergebnissen führen. Dennoch müssen ihre Ansichten und Ratschläge in der öffentlich-demokratischen Arena bestehen. Das sollten wir begrüßen; das ist der Preis der Demokratie.
Experten einfach zynisch abzulehnen, nur weil sie Experten sind , wie es die MAGA-Trumpisten oder die kanadischen Konservativen tun, ist eine andere Sache: Das ist das Gegenteil einer Technokratie und stellt eine Bedrohung für die Selbstbestimmung und Selbstregierung der Menschen dar. Fachwissen ist eine wichtige Komponente, wenn man herausfinden will, was zu tun ist und wie man zusammenleben soll/will. Wenn man Fachwissen von vornherein außer Acht lässt oder ablehnt, verwehrt man der Bevölkerung die Möglichkeit, alle Informationen zu sammeln, die sie braucht oder haben möchte, wenn sie Entscheidungen darüber trifft, was getan werden sollte.
»Ohne Fachwissen wird uns die Möglichkeit verwehrt, schwierige Fragen zu durchdenken.«
Wir sollten uns sowohl vor denen hüten, die darauf bestehen, dass wir [alles] den Experten überlassen, als auch vor denen, die sie grundsätzlich ablehnen. Politische Entscheidungen sind ein komplizierter Prozess: Sie sind von Natur aus komplex und streitbar; es gibt konkurrierende Gruppen und Einzelpersonen, die um die Zustimmung der breiten Öffentlichkeit buhlen.
Eine intakte Öffentlichkeit ist gut beraten, offen zu bleiben und Fachleuten zuzuhören. Ohne Fachwissen – also ohne Daten über Phänomene in der Welt – wird uns die Möglichkeit verwehrt, schwierige Fragen zu durchdenken. Eine solche intakte Öffentlichkeit setzt aber auch eine Massendemokratie voraus; die Menschen müssen wahrhaftig und tiefgreifend beteiligt sein. Sie sind nicht nur Objekte der Staatsführung, sondern aktiv Teilnehmende an der Selbstverwaltung im Staat.
Das bedeutet freilich auch, dass die Öffentlichkeit das Recht hat, die Augen und Ohren zu verschließen. Dann ist es die Aufgabe anderer, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Das ist einerseits frustrierend und andererseits wundervoll – und es ist zutiefst demokratisch.
David Moscrop ist Autor und politischer Kommentator. Er moderiert den Podcast Open to Debate. Von ihm erschien das Buch Too Dumb for Democracy? Why We Make Bad Political Decisions and How We Can Make Better Ones.