25. April 2024
Vor genau 50 Jahren fegte die Nelkenrevolution Portugals faschistisches Regime hinweg. Heute ist die rechtsextreme Partei Chega auf dem Vormarsch. Sie zehrt auch von einer Sehnsucht nach einer Zeit, als der Diktator Salazar ein portugiesisches Weltreich regierte.
Chega-Präsident André Ventura spricht auf dessen 6. Nationalen Parteitag in Viana do Castelo, Portugal, 14. Januar 2024.
Im Jahr 1965 wurde eine Statue von António de Oliveira Salazar im Herzen von Santa Comba Dão aufgestellt. Die verschlafene, ländlich gelegene Stadt in Zentralportugal ist auch der Ort, an dem Europas am längsten regierender Diktator des 20. Jahrhunderts aufgewachsen war. Die Statue zeigte eine strenge Gestalt, die mit selbstbewusst gespreizten Beinen auf einem Granitsockel saß, unerreichbar für alle ihr Untergeordneten. Die Hände umklammerten die Seiten des steinernen Throns.
Salazars Person stand gleichbedeutend für Portugals faschistisches Regime, den Estado Novo (»Neuer Staat«). Von 1932 bis 1968 herrschte der Premierminister über ein Reich, das von der katholischen Kirche mitgetragen wurde und Unterdrückung institutionalisiert hatte.
Als die Statue aufgestellt wurde, lebte Salazar noch – er war da bereits 33 Jahre lang Portugals Premierminister und De-facto-Diktator. Zur gleichen Zeit führte Portugal drei Kolonialkriege in Afrika (in Angola, Guinea und Kap Verde sowie Mosambik) – obwohl es das ärmste Land Westeuropas war. Finanziert werden konnten die Kriege nur dank der portugiesischen NATO-Mitgliedschaft – und dank Salazars Geschick, die Kämpfe ideologisch zu legitimieren: schließlich ging es darum, die »Ausbreitung des Kommunismus in Afrika« zu verhindern.
Salazar hatte Portugal während des Zweiten Weltkriegs neutral gehalten und sich sowohl gegenüber den Alliierten als auch den Achsenmächten zurückhaltend gezeigt. Nach dem Fall des deutschen Dritten Reichs und des italienischen Faschismus blieb er zusammen mit dem Spanier Francisco Franco der letzte verbliebene Diktator in Westeuropa. Er weigerte sich nicht nur, Portugals Kolonien aufzugeben (nach einer Verfassungsänderung von 1951 wurden diese als »Überseeprovinzen« bezeichnet), sondern schaffte es auch, seine Dienste profitabel an die NATO zu verkaufen. Die Allianz war unter anderem auf die Inselgruppe der Azoren im Atlantik angewiesen.
Portugals »Neuer Staat« war ein rechtes politisches Projekt, in dem jedes Zeichen von Widerspruch – sei es in Bezug auf das Wirtschaftsmodell, die Kolonialpolitik mit ihrer Zwangsarbeit oder das Fehlen elementarer bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte – mit den Worten von Umberto Eco »ein Zeichen von Andersartigkeit« war.
Heute scheint die Erinnerung an das Regime von Salazar zu einem politischen Erfolgsrezept zu werden: Rechtsradikale Bewegungen bieten eine verzerrte und mit reichlich Nostalgie gewürzte Geschichtsdarstellung.
»Chega könnte einen ›Wettlauf nach ganz rechts‹ anführen, wo Stabilität und Kontrolle nurmehr mit autoritären Mitteln möglich wären.«
Mit dieser Strategie konnte sich die Partei Chega (»Genug«) von André Ventura in den vergangenen fünf Jahren aus ihrem Dasein im politischen Brachland für neofaschistische Träumer lösen und in das Herz der politischen Institutionen Portugals vordringen. Chegas rasanter Aufstieg von ein Prozent der Stimmen bei den Wahlen im Jahr 2019 auf heute 18 Prozent ist ein Erfolg, der vor allem darauf beruht, dass die Partei ehemalige Nichtwähler in die Wahlkabinen locken konnte. Ebenfalls anziehend wirken offenbar die Nostalgie und kodierte Narrative, mit denen man sich auf Salazar und seinen Neuen Staat bezieht.
Ricardo Noronha, Historiker an der Universidade Nova de Lisboa, erklärte mir, dass Chega »das kollektive portugiesische Trauma und die verdrängten Gefühle«, die der Estado Novo hinterlassen habe, nun herausgekitzelt hat. »Ich rechne damit, dass die anderen Parteien weiter nach rechts rücken werden, um die Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, die sich bei der letzten Wahl für Chega entschieden haben. Dafür werden sie sich der politischen Sprache und den sozioökonomischen Erzählungen [Chegas] anpassen«, fügte er hinzu.
So könnte Chega einen »Wettlauf nach ganz rechts« anführen, wo Stabilität und Kontrolle nurmehr mit autoritären Mitteln möglich wären.
»Dass die Wählerinnen und Wähler von Chega dem autoritären Regime von Salazar so sehr nachtrauern, lässt keinen Zweifel daran, was sie sich wünschen«, schrieben die Wissenschaftler Luca Manucci und Steven M. Van Hauwaert kurz vor den Wahlen im März.
Tatsächlich ist Chega in den eigenen Botschaften recht eindeutig. So wurde ganz offen Salazars alter Slogan für den Neuen Staat (»Gott, Land, Familie«) übernommen, jedoch um den Begriff »Arbeit« ergänzt. Dieses Motto und sein Zusatz sind eine indirekte Anspielung auf die faschistische Vergangenheit Portugals, aber auch eine Verknüpfung zu modernen Narrativen, denen zufolge die »herrschenden Parteien« die Bürgerinnen und Bürger nicht vor Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung geschützt haben. Während der Herrschaft von Salazar war der Kommunismus die Bedrohung; im Portugal nach 1974 gibt es eine ganze Reihe neuer Bedrohungen: die Brüsseler Institutionen, Korruption im eigenen Land, der Verfall von Recht und Ordnung oder die Auswirkungen der Globalisierung.
Die meisten rechtsradikalen Bewegungen in Europa erzählen eine evangelikale Geschichte von der Genese des jeweiligen Volkes: eine Phase der Reinheit, die es vor äußeren Gefahren zu schützen gilt. In Portugal ist es derweil kein Zufall, dass der charismatische Chega-Chef Ventura – dem es gelungen ist, die weltoffene Metropole Lissabon in eine Chega-Hochburg zu verwandeln, in der sie über 17 Prozent der Stimmen gewinnen konnte (ein Anstieg von neun Prozentpunkten gegenüber 2022) – ein Ex-Sozialdemokrat und Akademiker ist. Ein Jahrzehnt Austeritätspolitik folgend auf die Finanzkrise sowie die Unterwerfung Portugals unter die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, haben das frühere Duopol der Sozialisten und der in der konservativen Mitte anzusiedelnden Sozialdemokraten untergraben.
Nach dem konterrevolutionären Putsch im November 1975, der die im April 1974 begonnene Nelkenrevolution beendete, hatten diese beiden Parteien ein politisches System zementiert, in dem die ideologische Mitte um jeden Preis geschützt werden sollte. Jede Störung wurde als Bedrohung für die Stabilität des Landes angesehen. Die Wahlen 2024 scheinen das Ende dieses Systems zu markieren. Die neuen Spaltungen hatten allerdings auch materielle Ursachen: eine Reihe von Korruptionsskandalen, grassierende Armut, weit verbreitete Obdachlosigkeit und horrende Lebenshaltungskosten, vor allem in Lissabon.
Die zunehmende soziale Unzufriedenheit, die finanzielle Unsicherheit und der Frust mit der Politik haben Chegas populistischem Kreuzzug gegen den angeblichen portugiesischen »Deep State« neuen Auftrieb gegeben. Kaum mehr wahrnehmbar ist die »vorgeschriebene Vergesslichkeit«, die jahrelang in Portugal galt, als das Land der Europäischen Union beitrat und seine Nationalgeschichte in Einklang mit dem Neoliberalismus der 1980er Jahre umschrieb. In jenen Jahren verschwand die kollektive Erinnerung an ein ehemals großes Imperium und galt nur noch in der extremen Rechten als salonfähig. Ebenfalls marginalisiert oder ignoriert wurden die Retornados (»Rückkehrer«) – jene 500.000 bis 800.000 Menschen, die im Zuge der Unabhängigkeit der ehemaligen afrikanischen Kolonien Portugals »in die Heimat zurückkehrten«.
Viele von ihnen hatten vor ihrer Flucht noch nie einen Fuß auf portugiesischen Boden gesetzt. Andere waren im Rahmen von Salazars Auswanderungsprogramm in den 1950er Jahren zur Migration ins portugiesische Kernland gezwungen worden – doch am Ende wurde ihnen allen vom Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) und der post-revolutionären portugiesischen Regierung der Flüchtlingsstatus verweigert. Sie wurden als Menschen betrachtet, die freiwillig umgezogen waren und dabei nie eine internationale Grenze überschritten hatten.
»Der Erfolg von Chega bei den Wahlen im März 2024 widerspricht der Vorstellung, Portugal habe mit der Nelkenrevolution im Jahr 1974 sein früheres Selbstverständnis als stolzes und globales Imperium einfach aufgegeben.«
Die Retornados blieben in der Folge in einer Zwischenposition, in der ihr besonderer portugiesischer Akzent – in Kombination mit ihren sozialen und kulturellen Wurzeln weit weg vom imperialen Zentrum – sie zu ewigen Fremden machte. Die Anthropologin Elsa Peralta erklärt, dass die portugiesische Identität in der demokratischen Periode von zwei großen Erzählungen untermauert und gestützt wurde: »Erstens das Narrativ des Imperiums und der Entdeckungen, das noch aus der Kolonialzeit stammt und in der postkolonialen Periode bald wieder aufgegriffen wurde. Demnach war Portugal der Entdecker der Neuen Welt und der Urheber eines außergewöhnlichen Kolonialismus, der toleranter und humaner war als der anderer Kolonialmächte. Zweitens kommt die Erzählung von der Nelkenrevolution hinzu, die das Land vom Joch des Diktators sowie die unterdrückten Völker von der Geißel der Kolonisatoren befreit hat.«
Ein gewisser Geschichtsrevisionismus, so Peralta weiter, schuf in Portugal ein Narrativ, laut dem das Land seine koloniale und undemokratische Vergangenheit hinter sich gelassen hatte, um eine europäische Nation zu werden, »die sich von seiner Geschichte distanziert, die in der ganzen Welt, insbesondere in Europa, zunehmend abgelehnt wird«.
Der Erfolg von Chega bei den Wahlen im März 2024 – die Zahl ihrer Abgeordneten stieg von 12 auf 50 – widerspricht jedoch der Vorstellung, Portugal habe mit der Nelkenrevolution im Jahr 1974 sein früheres Selbstverständnis als stolzes und globales Imperium einfach aufgegeben. Nostalgie und eine gewisse Sehnsucht nach »Stabilität und Stolz« der Salazar-Ära traten bereits 2007 offen zutage: In jenem Jahr wurde der Ex-Diktator in einer Sendung des öffentlichen Rundfunksenders RTP mit 41 Prozent zur »größten portugiesischen Persönlichkeit aller Zeiten« gewählt. Er rangierte damit vor früheren Königen, beliebten Dichterinnen und Dichtern sowie Sportstars.
In Salazars Heimatstadt Santa Comba Dão ist sein Stern nie wirklich untergegangen. Im Gegenteil: Die offizielle Tourismusbehörde der Stadt sowie die noch lebenden Verwandten des Diktators haben aktiv versucht, Salazars Namen und seine politischen Taten reinzuwaschen.
Ich schreibe gerade von der anderen Seite des Flusses Dão, in dem schönen Dorf Vimieiro. Hier wacht Salazars Neffe Rui Salazar noch immer über das Geburtshaus des verstorbenen Diktators – ein einstöckiges Gebäude am Stadtrand, nicht weit vom Fluss entfernt. 2014 konnte ich Rui Salazar interviewen; just zu der Zeit, als die Austeritätspolitik der Troika in Folge der portugiesischen Finanzkrise ihren Höhepunkt erreichte. Wie sein Onkel war Rui Salazar ein ernster Mann, der mehr als nur ein paar Ketten am Tor lösen musste, bevor er mich an einer Schar von Wachhunden vorbei hineinwinkte.
Rui Salazar war sehr direkt: Portugal sei seit dem Sturz des von seinem Onkel gegründeten Estado Novo am Boden (das Regime hatte zwar noch einige Jahre überlebt, nachdem Salazar 1968 ins Koma gefallen war, wurde aber 1974 mit der Nelkenrevolution gestürzt).
»Schauen Sie sich nur die Länder an, die Portugal verlassen haben und unabhängig wurden«, beklagte Rui Salazar. »Nachdem wir weg waren, brach dort alles zusammen. Die afrikanischen Kolonien hätten das gleiche Schicksal haben können wie die Azoren und Madeira; sie hätten Autonomie erhalten sollen, und wir hätten Präsenz und Einfluss behalten. All das ging in der sogenannten Revolution von 1974 aber verloren.«
Was Rui Salazar als »sogenannte« Revolution bezeichnet, war in Wirklichkeit die letzte echte soziale Revolution, die Westeuropa erlebt hat – und eines der historisch wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts, wie die Historikerin Raquel Varela befindet.
»Lohngleichheit und Gleichberechtigung wurden plötzlich zu ganz realistischen politischen Zielen.«
Zwischen Ende April 1974 und November 1975, so Varela, »streikten Hunderttausende Arbeiterinnen und Arbeiter, hunderte Betriebe wurden teilweise monatelang besetzt und wohl bis zu drei Millionen Menschen beteiligten sich an Demonstrationen, Besetzungen und Übernahmen«.
Über Nacht wurde die portugiesische Bevölkerung befreit. So endete beispielsweise die strikt patriarchalische Herrschaft des Estado Novo über die Frauen des Landes. Lohngleichheit und Gleichberechtigung wurden plötzlich zu ganz realistischen politischen Zielen.
Rui Salazar gehört dennoch zu denjenigen, die die damalige Revolution für einen großen Fehler halten. Nicht nur das; sie habe auch den Grundstein für »eine Art von Gesellschaft« gelegt, die keine Ähnlichkeit mehr mit dem Land hat, in dem er aufgewachsen ist. »Unter dem Estado Novo konnte man sich wenigstens sicher fühlen und nach Einbruch der Dunkelheit unbekümmert durch die Straßen gehen«, klagte er damals. Er verabschiedete mich, und mit den Torketten in der Hand überreichte er mir eine Flasche Portwein und ein laminiertes Foto eines jungen, lächelnden António de Oliveira Salazar. Darauf stand in kursiver Schrift: »Salazar: Arbeiter für das Vaterland.«
Dann ging Rui Salazar zurück in sein Haus, wo über 60.000 Habseligkeiten seines verstorbenen Onkels – darunter Briefe, persönliche Gegenstände und Dokumente, von denen der Neffe hofft, dass sie eines Tages in einem Salazar-Museum ausgestellt werden – von einer Vergangenheit erzählten, der sich immer mehr Menschen (und nicht nur die engsten Verwandten des verstorbenen Diktators) mit Nostalgie zuwenden.
Laut Elsa Peralta war die Finanzkrise ein Wendepunkt. Inmitten der von der Troika eingeleiteten Sparpolitik versuchte die damalige Mitte-Rechts-Regierung, den Druck der Opposition und der Kritiker zu mildern, indem sie den Weg für eine neue Geschichtsschreibung ebnete: Demnach seien die Retornados und die sozialen Minderheiten Portugals aufgrund des politischen Chaos, das die revolutionären Bewegungen der »extremen Linken« nach 1974 verursachten, im Stich gelassen worden. Dieser Ansatz, die demokratische Revolution der 1970er Jahre im Prinzip als Keimzelle für die spätere Finanzkrise auszumachen, führte zum »Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen des Landes und das europäische Projekt als Ganzes«, so die Anthropologin. Diese Situation führt heute, erklärt Peralta weiter, »zu einer nostalgischen Sehnsucht nach der imperialen Vergangenheit«.
In Santa Comba Dão ist die Geschichte der Salazar-Statue ein weiteres gutes Beispiel für das generationsübergreifende Überleben des verstorbenen Diktators und seines Neuen Staates. Am 17. Februar 1975 – nicht einmal ein Jahr nach der Nelkenrevolution – sahen sich die Bürgerinnen und Bürger einer ganz eigenen Version der Legend of Sleepy Hollow gegenüber: Die Salazar-Statue war in einer nächtlichen Aktion enthauptet worden.
In Santa Comba Dão verspürten aber viele eine gewisse Entfremdung von der neuen politischen Lage. Sie fühlten sich benommen, wie Passagiere auf einem Segelboot, das ohne Kompass und Orientierung dahinschipperte. In der Kleinstadt wurde deshalb umgehend Geld gesammelt, um den Kopf von Salazar zu ersetzen. Der verstorbene Diktator war schließlich ihr Kapitän, ein Einheimischer und ein Symbol des Stolzes in dieser ansonsten weitgehend vergessenen Stadt im portugiesischen Hinterland.
Die Enthauptung Salazars trug so zu einem nostalgischen Dunst bei, der sich in einem Portugal am Rande des Bürgerkriegs auszubreiten begann. Im November 1975 wurde die Nelkenrevolution mit ihren sozialen Programmen und ihrem direktdemokratischen Ansatz ihrerseits durch einen militärischen Gegenputsch »geköpft«. Dieser Putsch wurde von den USA und mehreren westeuropäischen Ländern unterstützt, deren Staatsoberhäupter sich offenbar beunruhigt fühlten, dass Portugal den eingeschlagenen Weg fortsetzen könnte – weiter weg von NATO und Kapitalismus, hin zum Sozialismus.
»Dank« des Gegenputsches vom November 1975 und des anschließenden Systems, das von den Parteien der linken und rechten Mitte gemeinsam geführt wurde, kam es in Portugal nie zu einem sozialistischen System – und auf den verstümmelten steinernen Körper von Salazar wurde einfach ein neuer Kopf gesetzt. Im Jahr 1978 fand tatsächlich eine »Kopffeier« statt, womit Salazar auch ein Platz im modernen liberal-demokratischen Portugal sicher war. Die Ortschaft Santa Comba Dão war bereits zu einem obskuren Touristenziel für Menschen geworden, die einen Blick auf die zerstückelte Gestalt des gefallenen Diktators werfen wollten. Andere kamen gerne, um dem letzten Diktator Portugals ihre Ehre zu erweisen.
2010 wurde die Salazar-Statue endgültig entfernt, zum Entsetzen vieler Anwohner.
Die Ladenbesitzerin María erinnert sich an ihre Kindheit in Mosambik. Die Retornada spricht von ihrer »afrikanischen Heimat« und hält dabei an Portugals imperialem Vokabular fest. Die Stadt Lourenço Marques sei nun einmal »etwas anderes« gewesen als das moderne Maputo – wie die Hauptstadt seit der Unabhängigkeit Mosambiks im Jahr 1975 heißt.
»Da unten in den Provinzen funktionierten die Dinge, die Menschen waren glücklich und arbeiteten hart«, erzählt María. Einwände, beispielsweise mit Blick auf die Zwangsarbeit in den afrikanischen Kolonien, weist sie zurück, als wären sie Teil einer Hetzkampagne. »Das ist eine Vereinfachung der Wahrheit – es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch Grauzonen. Es gibt immer eine Mitte, vergiss das nicht«, mahnt sie mir gegenüber.
Chega steht für – und befeuert – eine solche postkoloniale Nostalgie, die inzwischen nicht nur Teil, sondern ein einflussreicher Aspekt des politischen Diskurses in Portugal ist. Diese Entwicklung hat tief liegende strukturelle Wurzeln, »die sich aus der langen Geschichte des Landes ergeben, das eine Randposition innehat – sowohl in Europa als auch mit Blick auf das moderne kapitalistische System«, schreiben Elsa Peralta und Lars Jensen.
Portugals Kolonialbesitz, fügen die beiden hinzu, kompensierte die wirtschaftliche und politische Schwäche des Landes innerhalb Europas lange Zeit. Die Revolution von 1974 brachte der portugiesischen Bevölkerung dann die Demokratie – allerdings um den Preis wirtschaftlicher Unabhängigkeit: das westlichste Land Europas war nun auf Kooperation mit größeren Wirtschaftsmächten wie Deutschland und Frankreich angewiesen. Heute, im Jahr 2024, ist es bereits ein Jahrzehnt her, dass Portugal aus den Rettungsprogrammen aussteigen konnte. Dennoch haben die sozialpolitischen Narben der von der Troika initiierten Austeritätspolitik vor allem die Sehnsucht nach einem nationalen Narrativ verstärkt, in dem Portugal eine starke, stolze und einflussreiche Nation ist. Es ist eine Flucht in die Vergangenheit und aus einer Realität, die unter anderem von wachsender Armut, explodierenden Lebenshaltungskosten und anhaltend hoher Jugendarbeitslosigkeit (20,3 Prozent im Dezember 2023) geprägt ist.
»Dank des Gegenputsches vom November 1975 und des anschließenden Systems, das von den Parteien der linken und rechten Mitte gemeinsam geführt wurde, kam es in Portugal nie zu einem sozialistischen System.«
Die Salazar-Statue in Santa Comba Dão mag längst verschwunden und durch einen Gedenkbrunnen für das verlorene portugiesische Imperium ersetzt worden sein, aber der Geist des langlebigen Diktators bleibt. Lange Zeit wurde die Erinnerung hinter verschlossenen Türen und nur am heimischen Küchentisch gepflegt. Heute ist der Neo-Salazarismo nicht nur in der Form, im Diskurs und im politischen Programm von Chega sichtbar, sondern auch in der offiziellen Lokalpolitik von Santa Comba Dão. Die Stadt will sich als Pilgerstätte für diejenigen etablieren, die um den letzten starken Mann Portugals trauern.
Chega-Chef André Ventura und seine Anhänger kommen ebenso wie die Kritiker von Salazars Neuem Staat zu dem Schluss, dass Portugal jahrelang in einem politischen System existierte, das es schaffte, den Lauf der Zeit aufzuhalten und eine Gesellschaft zu errichten, die auf dem Patriarchat, der Kirche und der Gewalt basierte. Wenn eine Bewegung wie Chega nun der Nostalgie die Tür öffnet und die Geschichte umschreibt, kann sie durchaus das Tor in eine unkontrollierbare Zukunft aufstoßen.
In einem Interview mit der Wochenzeitung Sabado warnt der Schriftsteller Joaquim Vieira daher vor Nostalgie ohne persönliche Erfahrung. Der historische Kontext dürfe nicht ignoriert werden: »Es ist eine Sache, nachträglich eine Erzählung darüber zu schreiben, wie das Regime war; und eine andere, während der Zeit des Regimes gelebt zu haben [...], denn keine Erzählung, wie getreu, realistisch und authentisch sie vielleicht sein mag, kann die Erfahrung dessen ersetzen, was der Salazarismo war.«
Klas Lundström ist Investigativjournalist und Reporter aus Stockholm.