15. August 2024
Der Tourismusboom in Lissabon hat dazu geführt, dass es inzwischen mehr Airbnbs als Wohnungen für die Menschen der Stadt gibt. Inspiriert von Deutsche Wohnen und Co. Enteignen, wollen die Lissabonner ihren Wohnraum per Volksentscheid zurückgewinnen.
Demonstration der Bewegung Movimento Referendo pela Habitação, die Airbnb per Volksentscheid verbieten möchte.
António Melo hat seine gesamten 71 Lebensjahre im Lissabonner Stadtteil Alfama verbracht. Doch nachdem der Hauseigentümer das Gebäude an ein Unternehmen für Touristenunterkünfte verkauft hatte, weigerten sich die neuen Eigentümer, seinen Mietvertrag zu verlängern. »Ich fürchte, dass ich jeden Moment rausgeschmissen werde«, so Melo. »Ich kann nirgendwo anders hin.«
Seine Geschichte ist kein Einzelfall unter den rund 546.000 Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt, die pro Tag 30.000 bis 40.000 Touristen willkommen heißen. Ältere Menschen wurden aus den Vierteln vertrieben, in denen sie ihr ganzes Leben verbracht haben. Dieser Exodus »hindert uns daran, ein wirklich nachbarschaftliches Gemeinschaftsleben aufzubauen«, warnt Ana Gago, eine Geografin der Universität Lissabon, die vor Ort in Alfama geforscht hat. Das sei eine gefährliche Entwicklung.
In den 1980ern hatte Alfama noch 20.000 Einwohnerinnen und Einwohner, heute sind es nur noch rund 1.000 Personen. Das Ungewöhnliche an der Entwicklung ist, dass die Miet- und Kaufpreise in die Höhe geschossen sind, während die Gesamtbevölkerung Lissabons immer kleiner wird. Luís Mendes, ein Wohnberater der Stadtverwaltung, sagt: »Die Mietpreise sind wirklich hoch; weit über einem Drittel der Einkommen. Diese Schwelle gilt als nachhaltiges Mietniveau.«
»Als ich mit Immobilieninvestoren sprach, lautete ihre Botschaft an die Einheimischen: ›Zieht aus dem Stadtzentrum weg. Nehmt endlich hin, dass ihr hier nicht mehr leben könnt.‹«
Im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten ist der Anstieg der Lebenshaltungskosten in Lissabon relativ neu – doch er vollzieht sich rasend schnell. Gleichzeitig sind die portugiesischen Löhne die niedrigsten in Westeuropa. Die Wohnungssuchende in Lissabon gleicht daher einem Alptraum.
Einige Einwohnerinnen und Einwohner wehren sich nun: Sie machen mobil und wollen von der Stadtverwaltung ein Referendum erzwingen, mit dem die Verdrängung und der Missbrauch von Wohnraum durch Dienste wie Airbnb gestoppt werden soll.
Die aktuelle Mietpreiskrise begann mit der Wirtschaftskrise 2007/8. Die sogenannte Troika tilgte die Staatsschulden Portugals unter der Bedingung, dass das Land Austeritätsmaßnahmen durchführt und seine Wirtschaft dereguliert, um ausländische Investitionen anzuziehen. Die portugiesische Regierung – die gerade im direkten Vergleich zu Griechenland als neoliberaler »Musterschüler« galt – ließ sich auf den Deal ein. Simone Tulumello von der Universität Lissabon erklärt, was dies in der Praxis bedeutete: »Es wurde sich auf Investitionen und Entwicklungsaktivitäten mit geringer Wertschöpfung konzentriert; allen voran Tourismus«. Portugal führte auch »Goldene Visa« ein, mit denen Investoren quasi gegen Bezahlung eine EU-Aufenthaltsgenehmigung erhielten. Dafür musste beispielsweise »nur« eine Immobilie im Wert von 500.000 Euro gekauft werden. Darüber hinaus wurden europäische Investoren durch ein ähnliches Programm für EU-Unternehmen angelockt.
»In einigen Lissabonner Stadtvierteln waren bis zu 60 Prozent der Wohnungen nicht mehr für normale Mieter vorgesehen.«
Die Stadtverwaltung bewarb außerdem die Marke Lissabon, bis sie in verschiedenen Touristen-Rankings ganz oben stand und zu dem europäischen Hotspot wurde, den man als Tourist, digitaler Nomade oder Startup-Gründerin unbedingt besucht haben sollte. Eine Reihe von Prominenten wie Madonna zog es ebenfalls in die Stadt.
Einheimische Immobilienbesitzer und ausländische Investorinnen wurden schnell hellhörig. Tulumello fasst lapidar zusammen: »Mit dem Lissabon-Boom und der veränderten Selbstwahrnehmung der Stadt haben die Leute gemerkt: ›Ach, mit Mieten lässt sich ja ganz schön viel Geld verdienen‹.«
Mehrere Vermieter nutzten ein neues nationales Mietgesetz, das Zwangsräumungen erleichterte, und verwandelten ihre Immobilien in lukrativere Ferienunterkünfte. Seit 2014 kann man eine Registrierungsnummer für touristische Vermietungen erhalten, indem lediglich ein Online-Formular ausgefüllt werden muss. 2020 waren 20.000 Wohnungen in der Stadt als Touristenunterkünfte registriert; in einigen Stadtvierteln waren bis zu 60 Prozent der Wohnungen nicht mehr für »normale« Mieter vorgesehen.
Trotz eines großen Bau- und Sanierungsprogramms hat Lissabon in einem Jahrzehnt netto 6.000 Wohnungen verloren, wofür vor allem die Touristenunterkünfte verantwortlich sind. » [Die Stadtverwaltung] renoviert, verliert aber gleichzeitig Menschen«, kritisiert Tulumello. »Das ist absolutes Versagen.«
Während der portugiesische Arbeits- und Lohnmarkt stagniert, spiegelte der Wohnungsmarkt im Laufe der Zeit die globalen Entwicklungen wider. Alteingesessene Geschäfte in der Stadt veränderten sich oder verschwanden. Die neue (und zahlungskräftigere) Zielgruppe: Touristen und Expats.
Maria, die seit 78 Jahren im Stadtteil Chiado lebt, hat das Gefühl, in den neuen, internationalisierten Läden nicht zurechtzukommen. »Ich schäme mich, in diese Lokale zu gehen. Ich weiß nicht einmal, was ich da bestellen soll«, sagt sie mit einem Fingerzeig auf ein Brunch-Café, wie es so viele gibt. Diese haben nach und nach die traditionellen Lokale im Viertel ersetzt.
»Das Leben verschwindet aus der Stadt«, meint auch Agustín Cocola-Gant, ein Geograf an der Universität Lissabon. »Als ich mit Immobilieninvestoren sprach, lautete ihre Botschaft an die Einheimischen: ›Zieht aus dem Stadtzentrum weg. Das ist eine Zukunftschance für uns, kein Wohngebiet mehr. Lasst uns in Ruhe machen und nehmt endlich hin, dass ihr hier nicht mehr leben könnt.‹«
Anstatt etwas dagegen zu unternehmen, setzten die Landes- und Kommunalregierungen auf das Leugnen des Problems und der weiteren Förderung von Immobilieninvestitionen. Während in Berlin, Paris und London die Anzahl der Tage, die Eigentümer ihre Wohnungen kurzfristig vermieten dürfen, begrenzt wurde und Barcelona und New York die Vermietung an Touristen explizit einschränken, haben die Behörden in Lissabon bis zum vergangenen Jahr keine vergleichbaren Maßnahmen ergriffen.
»Die Zahl der Wählerinnen und Wähler, die ihr Geld in Immobilien angelegt haben, ist inzwischen so groß, dass die Stadtverwaltung verzweifelt versucht, die Preise weiter steigen zu lassen.«
Eine politische Reaktion gab es trotzdem: Nachdem die Pandemie abgeflaut war und die Touristenzahlen schnell auf ein neues Rekordniveau stiegen, führte die Frustration zur Entstehung einer sozialen Bewegung. Dazu gehörten neugegründete Organisationen wie Vida Justa, Porta a Porta und Casas Para Viver, letzteres eine Dachorganisation für über hundert Initiativen. Die massiven Proteste führten zu einigen verheißungsvollen Worten, aber wenig Taten der Regierung. Bei den Kommunalwahlen 2021 in Lissabon sowie 2024 auf nationaler Ebene ging die Macht an die Sozialdemokraten über. Der Name ist irreführend, denn die Partei ist inzwischen in der rechten Mitte zu verorten. Anders als die vorherige sozialistische Regierung geben die Sozialdemokraten »nicht einmal mehr zu, dass es ein Problem [mit Wohnraum und Mietpreisen] gibt«, sagte mir eine Forscherin.
Dementsprechend betont der amtierende Bürgermeister Carlos Moedas von den Sozialdemokraten: »Ich denke, wir sind noch weit davon entfernt, dass der Tourismus überhand nimmt [...] Wir sollten weiterhin auf Tourismus setzen, auf Qualitätstourismus.« Unter den großen Parteien ist dies nach wie vor die herrschende Meinung – ungeachtet der offensichtlichen Krise.
Ein Grund dafür ist auch, dass die Zahl der Wählerinnen und Wähler, die ihr Geld in Immobilien angelegt haben, inzwischen so groß ist, dass die Stadtverwaltung verzweifelt versucht, die Preise weiter steigen zu lassen, so wenig tragfähig und nachhaltig das auch sein mag. Und selbst wenn die Wählerschaft eine Änderung der Politik wünschen würde, haben die jüngsten Skandale gezeigt, dass eine geradezu inzestuöse Verflechtung zwischen dem Kapital und den Parteien häufig über das Interesse des Wahlvolkes gestellt wird.
Eine Gruppe aus Aktivisten und Akademikerinnen, die von diesem politischen Konsens des Nichtstuns frustriert sind, hat sich zusammengeschlossen und die sogenannte Bewegung für ein Wohnungsreferendum (MRH) gegründet. Die MRH ist inspiriert von Deutsche Wohnen & Co. enteignen in Berlin und der dortigen Volksabstimmung 2021. Sie ist eine breit angelegte (und sich ständig wandelnde) Bewegung, mit der die Kommunalverwaltung dazu gebracht werden soll, ein Referendum zum Thema Wohnen abzuhalten.
»Die Wohnungskrise trifft die Schwächsten ebenso wie die Mittelschicht und sogar die Wohlhabenderen, die vor zwanzig Jahren ins Zentrum gezogen sind und sich inmitten der Touristenmassen und Tattooläden jetzt kaum noch ein gutes Leben leisten können.«
»Wir haben Berufstätige, Arbeitslose, Mieterinnen, Hauseigentümer, Menschen, die rechte, zentristische oder linke Parteien wählen«, erklärt der Geograf Cocola-Gant. »Die Wohnungskrise und der Tourismus in der Stadt berühren mehrere Themenfelder. Und sie betreffen die Schwächsten ebenso wie die Mittelschicht und sogar die Wohlhabenderen, die vor zwanzig Jahren ins Zentrum gezogen sind und sich inmitten der Touristenmassen und Tattooläden jetzt kaum noch ein gutes Leben leisten können.«
Die MRH will erstmalig ein portugiesisches Gesetz nutzen, laut dem Gemeinden ein verbindliches Referendum abhalten können, wenn genügend registrierte Einwohner eine Petition für eine entsprechende Abstimmung unterzeichnen. Im Juli gab die Bewegung bekannt, dass sie inzwischen die in Lissabon erforderlichen 5.000 Unterschriften gesammelt hat. Die Listen sollen dem Stadtrat im Oktober vorgelegt werden.
Der Stadtrat muss das Thema dann debattieren, ist aber gesetzlich nicht verpflichtet, eine Abstimmung anzuberaumen. Die MRH hofft jedoch, dass der Druck der Öffentlichkeit und der Medien so groß wird, dass es für die Kommune politisch heikel wäre, den Menschen ihre Mitbestimmung in dieser wichtigen Frage zu verweigern.
»Wir werden am Ende mehr als das Doppelte der erforderlichen Unterschriften haben«, sagt Gago, die ebenfalls bei der MRH aktiv ist. »Es gibt also einen klaren Willen in der Bevölkerung, dieses Referendum abzuhalten. Wenn [der Stadtrat] das ablehnt, würde nicht weniger als unsere Demokratie in Frage gestellt« – und das in diesem Jahr, in dem Portugal fünfzig Jahre Sturz der Diktatur feiert.
Wenn es nach der MRH geht, könnte es im Frühjahr 2025 schon ein Referendum geben, das – anders als in Berlin – rechtlich bindend wäre. Wenn dann mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja stimmen, hätte die Stadtverwaltung sechs Monate Zeit, alle bestehenden sowie neuen Airbnbs und ähnliche touristische Vermietungen in Wohnhäusern zu verbieten.
Doch auch in diesem Falle wäre nicht ausgeschlossen, wie Cocola-Gant erklärt, dass der Stadtrat ein neues Gesetz erlässt, mit dem die Auswirkungen des Referendums konterkariert werden, so dass sich »faktisch nichts ändert«. Der Geograf hofft aber: »Wenn viele Menschen abstimmen und sagen: ›Wir wollen das nicht‹, bleibt der politische Druck hoch.«
Ein weiteres potenzielles Problem könnten die Gerichte sein. Als Städte wie Edinburgh und Berlin versuchten, Airbnb & Co. Einhalt zu gebieten, starteten die Plattformen juristische Auseinandersetzungen, mit denen die ursprünglichen Pläne oft verwässert oder komplett zunichte gemacht wurden.
Sollte es trotz aller Widrigkeiten tatsächlich zum Airbnb-Verbot kommen, wären die Auswirkungen gewaltig. Während der Pandemie waren bereits 4.000 vormalige Touristenunterkünfte wieder auf den normalen Mietmarkt gekommen. Dies hatte einen spürbaren Einfluss auf die Miet- und Immobilienpreise in Lissabon. Gago kommentiert: »Und jetzt stell dir mal vor, wir könnten alle 20.000 Wohnungen zurückholen [...] Ich denke, das würde nicht nur Lissabon, sondern die gesamte Metropolregion erheblich beeinflussen.«
»Die Stadt ist weit mehr als nur ein Ort, an dem Investoren Geld verdienen können.«
»Es würde sicherlich zu einer Enttouristisierung der Stadtviertel führen. Häuser könnten wieder von den Einwohnern Lissabons bewohnt werden«, hofft sie. »Dann würden die Läden und Geschäfte, die heute nur auf Touristinnen ausgerichtet sind, ihre Geschäftsmodelle überdenken und sich wieder auf die eigentlichen [Anwohner] einstellen.« Die Nachbarschaft würde florieren, meint Gago.
Letzten Endes geht es um die Frage, wer die Stadt prägt. »Die Stadt ist weit mehr als nur ein Ort, an dem Investoren Geld verdienen können. Sie muss eine [vielfältige] Mischung mit diversen Menschen bleiben«, so Cocola-Gant. »Das Zentrum ist das Ergebnis kollektiver Arbeit; es ist ein gemeinsames Erbe. Die Investoren wollen dieses kollektive Erbe nutzen, um Deals [zu ihrem Vorteil] zu machen, und dafür müssten wir eben abhauen. Wir sagen ›nein‹ dazu.«
Vor einem halben Jahrhundert kam es von Lissabon ausgehend zur Nelkenrevolution gegen eine der am längsten regierenden rechten Autokratien in Europa. Das Jubiläum hat in diesem Jahr aber einen bitteren Beigeschmack, denn auch in Portugal legt die radikale Rechte zu. Initiativen wie die Bewegung für ein Wohnungsreferendum lassen hoffen, dass die Menschen die demokratischen Mechanismen, die sie in den vergangenen fünfzig Jahren aufgebaut haben, nutzen, um einen Wandel herbeizuführen, der der breiten Masse zugutekommt.
Derweil ist Lissabon nicht der einzige Teil Portugals, in dem die Wohnungsnot durch die Vermietung an Touristen verschärft wird. Die Algarve, Porto, Coimbra, Madeira und die Trabantenstädte von Lissabon leiden ähnlich. Der Referendumsmechanismus gilt für das ganze Land: Wohnungsbauaktivisten in anderen Teilen Portugals werden genau beobachten, wie sich die Dinge in der Hauptstadt entwickeln.
Wenn es ideal läuft, sagt Gago, werde es einen »Hauch von Hoffnung geben, dass wir unser Leben ändern können, wenn wir uns mobilisieren, gemeinsam planen und organisieren. Es wäre ein Hoffnungsschimmer für dieses System, für die Demokratie.«
Richard Matoušek ist Journalist mit Fokus auf sozialpolitische Themen in Südeuropa und Lateinamerika. Er ist außerdem Sozialwissenschaftler bei Kantar Public.