19. Februar 2024
In Debatten um Israel und Palästina ist die postkoloniale Theorie in Verruf geraten, sie sei antisemitisch. Der Soziologe Vivek Chibber erklärt im Interview, warum dieser Vorwurf fehlgeht – und was das wirkliche Problem mit dem Postkolonialismus ist.
Palästinensische Kinder demonstrieren gegen Segregation und ungleiche Behandlung im Westjordanland, 18. September 2017.
Insbesondere seit dem Hamas-Anschlag auf Israel am 7. Oktober ist die postkoloniale Theorie zu einem umstrittenen Thema in deutschen Feuilletons geworden. Slogans wie »Decolonize Palestine« werden gedeutet als Aufrufe, die jüdische Bevölkerung Israels zu vertreiben. Zugleich wird die weit verbreitete Sympathie für die palästinensische Bevölkerung als Unterstützung von Terrorismus ausgelegt. Und ihre allgemeine Ablehnung westlicher Werte wird postkolonialen Theoretikerinnen und Theoretikern als in der Konsequenz antisemitisch angekreidet.
Inzwischen hat sich die Debatte zu einer regelrechten moralischen Panik ausgeweitet. Sie erinnert bisweilen an Diskurse aus den USA über die Gefahr, die von »woken« Aktivistinnen und Aktivisten an Elite-Universitäten ausgehe. Entsprechend finden pro-israelische Talking Points von Rechtsaußen-Journalisten wie David Horowitz oder Douglas Murray zunehmend Eingang in die deutsche Debatte, vor allem über Social Media und oft geteilt von Mitte-links-Politikerinnen wie Sabine Döring oder Karl Lauterbach, denen die politischen Hintergründe der Urheber vermutlich unbekannt sind – Hauptsache gegen die Hamas.
Doch trotz des tobenden Kulturkampfs der letzten Monate könnten wohl die wenigsten Kritikerinnen und Kritiker definieren, was sie mit postkolonialer Theorie genau meinen. Auch auf der pro-palästinensischen Seite herrscht oft Unklarheit darüber, was Begriffe wie »decolonize« genau bedeuten.
Der US-amerikanische Soziologe Vivek Chibber hat mit seinem Buch Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals eine marxistische Kritik am Postkolonialismus verfasst, die dafür plädiert, sozialistische Politik wieder ins Zentrum subalterner Befreiungsstrategien zu rücken. Im JACOBIN-Interview mit Bafta Sarbo spricht er darüber, worin seine Kritik am Postkolonialismus besteht und welche Haltung Marxisten im laufenden Konflikt einnehmen sollten.
In Deutschland wird seit einigen Jahren über angebliche Zusammenhänge zwischen postkolonialer Theorie und Antisemitismus diskutiert. Die Debatte wurde im Jahr 2020 entfacht, als Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, dem kamerunischen Intellektuellen Achille Mbembe vorwarf, den Holocaust zu relativieren. Die Debatte nahm nach dem Hamas-Anschlag am 7. Oktober allerdings nochmal richtig an Fahrt auf. Was genau mit »Postkolonialismus« gemeint ist, variiert jedoch stark. Kannst Du erst einmal erklären, was postkoloniale Theorie ist – und was nicht?
Postkoloniale Theorie kann viele verschiedene Dinge sein, denn sie ist eine ziemlich vage Ansammlung von Ideen. Es gibt aber einige Grundprinzipien. Die wichtigsten sind eine politische Gegnerschaft zu Kolonialismus und Imperialismus sowie das intellektuelle Streben, ihre Grundlagen zu klären. Postkoloniale Theorie dreht sich um die neuzeitliche Expansion Europas in den Globalen Süden, die Kräfte, die diese Expansion vorangetrieben haben, und eine Analyse ihrer Folgen. Im weitesten Sinne sind diese Ziele allen ihren Strömungen gemein.
Die postkoloniale Theorie entstand in Auseinandersetzung mit der marxistischen und der liberalen Tradition, die sie wegen ihrer Grundannahmen über die europäische Aufklärung als mangelhaft ansieht. Die meisten postkolonialen Theoretikerinnen und Theoretiker behaupten, dass die Aufklärung selbst zum Teil für den Kolonialismus verantwortlich und der aus ihr hervorgegangene begriffliche Rahmen daher nicht brauchbar sei, um das Joch des Kolonialismus abzuwerfen. Weil Marxismus und Liberalismus in der Tradition der Aufklärung stehen, gelten sie als zumindest teilweise mitschuldig an dem kolonialen Unterfangen und jedenfalls unfähig, sich aus diesem Rahmen zu befreien.
»Postkoloniale Theorie ist das Produkt akademischer Ambitionen und Modeerscheinungen, beansprucht aber gleichzeitig den Mantel radikaler Kritik.«
Das ist die einfache und weit gefasste Definition der postkolonialen Theorie. Aber was auch immer sie sein mag – von einem systematischen Antisemitismus ist bei ihr keine Spur. Ich denke, diesen Vorwurf kann nur erheben, wer Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetzt, was in jeder erdenklichen Weise absurd ist.
Viele der Angriffe auf die postkoloniale Theorie in Deutschland beziehen sich vor allem darauf, dass in ihrer Analyse Imperialismus oder Neokolonialismus weiterhin als lebendige Verhältnisse gelten, die die Welt spalten – ein Standpunkt, den auch die marxistische Tradition vertritt. Dabei werden oft postkoloniale Theorie, Antiimperialismus und Marxismus vermischt und gelten kollektiv als antiliberale, antiuniversalistische und damit von Natur aus antisemitische Weltanschauungen. Was unterscheidet den Marxismus von diesen anderen Ansätzen?
Rechte Erklärungsmodelle und die postmoderne Theorie des Postkolonialismus haben eine Sache gemeinsam – ihr Verständnis von Marxismus. Postkoloniale Theoretikerinnen und Theoretiker lehnen die marxistische Tradition zwar ab, sie bestehen aber immer wieder darauf, das Erbe dieser Tradition zu repräsentieren. Sie tun das, weil die postkoloniale Theorie in der Weltgeschichte nie Teil einer relevanten sozialen Bewegung war. Sie ist das Produkt akademischer Ambitionen und Modeerscheinungen, beansprucht aber gleichzeitig den Mantel radikaler Kritik.
Wenn eine Theorie, die in Elite-Universitäten geboren und von aufstrebenden Akademikerinnen und Akademikern entwickelt wurde, den Anspruch erhebt, eine politische Tradition und Perspektive darzustellen, dann ist das problematisch. Um Legitimität zu erlangen, sagt man gewissermaßen: »Wir sind die Erben der radikalen Tradition, die durch Marxismus und Sozialismus angestoßen wurde. Wir haben zwar das Brauchbare übernommen, aber den Ballast der Aufklärung – Rassismus, Eurozentrismus und kulturellen Essentialismus – abgeworfen.«
Dieses Selbstverständnis als direkte Nachfolgerin der marxistischen Tradition wird dann von Rechten aufgegriffen, die meinen, der Marxismus sei zwar im Kalten Krieg besiegt, aber in der sogenannten postkolonialen Theorie wiedergeboren worden. Wenn sie dann diese haarsträubenden Behauptungen der postkolonialen Theorie sehen, können sie einerseits dieser Theorie vorwerfen, vom kompromittierten Marxismus herzukommen, aber andererseits auch den Rest der Linken beflecken, indem sie sie mit der Absurdität der postkolonialen Theorie in Verbindung bringen. Das ist das Grundproblem.
Die Ironie liegt natürlich darin, dass die postkoloniale Theorie zwar Teile ihrer politischen Kritik des Kolonialismus mit der marxistischen Tradition teilt, aber mit dem Marxismus völlig unvereinbar ist. Das liegt vor allem daran, dass der Marxismus auf einer Reihe universalisierender Prinzipien und kausaler Thesen aufbaut, die nach Ansicht der postkolonialen Theorie abzulehnen sind. Zu diesen Ansprüchen gehören universelle menschliche Grundbedürfnisse und Menschenrechte, die sich aus diesen Bedürfnissen ergeben, universelle Eigenschaften von Kapitalismus und Klasse, sowie universelle Kämpfe, die Menschen verbinden, im Globalen Norden wie im Globalen Süden. Dies alles sind Annahmen, denen die postkoloniale Theorie ausdrücklich widerspricht.
»Es ist wichtig, zu verstehen, dass diese Theorie in den 1980er und 90er Jahren an Bedeutung gewann, nicht obwohl, sondern weil sie antimarxistisch ist.«
Die schärfsten Kritiker des Postkolonialismus waren immer Marxisten. Deswegen ist sich die postkoloniale Theorie nie zu schade für einen Seitenhieb auf den Marxismus. Ihre Vertreterinnen und Vertreter sind sich darüber im Klaren, dass der Marxismus, auch wenn sie behaupten, auf dieser Tradition aufzubauen, dennoch ihr größter intellektueller Gegenspieler bleibt. Daher ist die Behauptung von Rechten, dass postkoloniale Theorie und Marxismus irgendwie miteinander verbunden seien, Unsinn.
Sozialistinnen und Sozialisten müssen verstehen, dass der Fortschritt des sozialistischen Kampfes keine Chance hat, wenn er sich an dem Rahmen orientiert, den die postkoloniale Theorie vorschlägt. Dieser ist nicht vereinbar mit den fortschrittlichen Ideen, die die sozialistische Tradition seit 150 Jahren beleben.
Es ist tatsächlich auffällig, wie viele postkolonialistische Theoretikerinnen und Theoretiker den Marxismus angreifen, wo dieser doch die zentrale radikale Theorie in Befreiungskämpfen des Globalen Südens während des 20. Jahrhunderts war.
Sie müssen es tun, weil sie behaupten, radikal zu sein, und wie Du sagst, bedeutet Radikalismus im Globalen Süden seit mehr als einem Jahrhundert Marxismus. Wenn sie nun in einem Kontext, in dem der Marxismus bereits hegemonial ist, behaupten, die wirklich Radikalen zu sein, dann müssen sie ihn kritisieren.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass diese Theorie in den 1980er und 90er Jahren an Bedeutung gewann, nicht obwohl, sondern weil sie antimarxistisch ist. Für die Akademikerinnen der Babyboomer-Generation hatte diese Abgrenzung die Funktion, Radikalismus mit beruflichem Aufstieg zu vereinen.
Wenn man in den USA ein erfolgreicher »radikaler« Akademiker sein will, kann man nicht gleichzeitig auch Marxist sein. Der Radikalismus muss so umgestaltet werden, dass er nicht mit dem Marxismus in Verbindung gebracht wird, denn was die US-amerikanische Wissenschaft sonst auch alles zu bieten hat – der Marxismus gilt immer noch als die eine Grenze, die man nicht überschreiten darf.
Wie, wenn überhaupt, sollten Marxistinnen und Marxisten reagieren, wenn die postkoloniale Theorie Ad-hominem-Angriffen von rechts ausgesetzt ist?
Ich denke, es ist wichtig, mit der eigenen Kritik immer akkurat zu sein. Nur weil postkoloniale Theorie mit vielen Fehlern behaftet ist, heißt das nicht, dass man ihr Vorwürfe machen sollte, die man nicht belegen kann.
»Der Antisemitismus-Vorwurf ist der einzige Pfeil im Köcher der Israel-Verteidiger – und indem sie ihn so inflationär verwenden, untergraben sie die historische Bedeutung des Antisemitismus als reale Bedrohung.«
Sie hat viele Mängel – unter anderem, dass sie tatsächlich ziemlich rassistische Annahmen über den Globalen Süden verbreitet –, aber sie ist nicht antisemitisch. Man muss verstehen, warum diejenigen, die Israel verteidigen, zu solchen Absurditäten greifen müssen wie dem Vorwurf, eine Theorie sei »objektiv« antisemitisch: Sie können nämlich keine direkten Beweise für Antisemitismus finden. Genauso beschuldigten Stalinisten die Sozialdemokraten früher, »objektiv« faschistisch zu sein.
Meiner Ansicht nach ist es wichtig, dass die Linke die postkoloniale Theorie ablehnt, aber es ist ebenso wichtig, alle falschen Vorwürfe des Antisemitismus abzulehnen, denn die gleichen Vorwürfe werden gegen Sozialistinnen, Liberale und Juden erhoben, die Israel kritisch gegenüberstehen. Und davon gibt es viele. Der Antisemitismus-Vorwurf ist der einzige Pfeil im Köcher der Israel-Verteidiger – und indem sie ihn so inflationär verwenden, untergraben sie, so muss ich leider feststellen, die historische Bedeutung des Antisemitismus als reale Bedrohung.
Das klingt sehr nach dem deutschen Diskurs, in dem es immer wieder heißt, Israel wissenschaftlich oder politisch als Siedlerkolonie einzuordnen, sei antisemitisch. Es gibt unterschiedliche Varianten dieses Arguments, aber der Kern ist, dass Israel mit anderen Siedlerkolonien, wie den USA oder Australien, nicht vergleichbar sei, weil die jüdischen Siedlerinnen und Siedler in Palästina keine Staatsangehörigen oder im Dienst einer Kolonialmacht waren. Viele von ihnen waren außerdem selbst Überlebende von Genozid und Gewalt in Europa.
Die israelische Erfahrung mag einzigartig in der Geschichte der geografischen Expansion sein, aber die Tatsache, dass dieser Fall sich von anderen unterscheidet, bedeutet noch nicht, dass es sich um etwas anderes als Siedlerkolonialismus handelt. Es handelt sich immer noch um Siedlerkolonialismus, aber seine Dynamik ist eine spezifische.
Es stimmt, dass die Ankunft europäischer Jüdinnen und Juden in Israel in der Zwischenkriegszeit nicht Ausdruck der Expansion eines Nationalstaates nach Palästina war. Man muss jedoch verstehen, dass sie von einem der wichtigsten imperialen Zentren dieser Zeit unterstützt wurden. Großbritannien unterstützte die Balfour-Erklärung, die die Ausbreitung der jüdischen Bevölkerung in Palästina vorsah.
»Seit 1967 tritt Israel nun ziemlich offensichtlich als eine Kolonialmacht gegenüber Gaza und dem Westjordanland auf. Es hat sie illegal besetzt.«
Zweitens war die Ideologie, die die Anführer der jüdischen Auswanderung motivierte, weitestgehend eine Siedlerideologie. Sie sahen sich als Siedler. Sie waren sich darüber im Klaren, dass sie die einheimische Bevölkerung entwurzeln und vertreiben mussten, und sie sahen sich als Erben einer europäischen Tradition, die genau so vorging.
Was Israel von anderen Ländern unterscheidet, ist, dass es nicht ein einzelner Nationalstaat war, der dies tat, sondern Menschen, die einem Völkermord entkamen. Das unterscheidet sich stark von den Erfahrungen Großbritanniens und der USA oder Frankreichs, als es in den Globalen Süden expandierte. Aber aus Sicht der indigenen arabischen Bevölkerung wurden sie genauso vertrieben wie die indigenen Bevölkerungen in anderen Siedlerkolonien.
Nach 1948, als Großbritannien nicht mehr die globale Supermacht war, sprangen sehr schnell die USA als Schirmherr für Israel in die Bresche. Obwohl die Siedlungsbewegung also nicht zu einem expandierenden Reich gehörte, wurde sie sehr aktiv von imperialistischen Kräften unterstützt. Ich denke deshalb, dass die Kritik der arabischen Bevölkerung, die Siedlerexpansion sei eine Art imperialer Expansion, durchaus berechtigt ist.
Seit 1967 tritt Israel nun ziemlich offensichtlich als eine Kolonialmacht gegenüber Gaza und dem Westjordanland auf. Es hat sie illegal besetzt. Die Bürgerinnen und Bürger in diesen Gebieten haben nicht die gleichen Rechte und sind einer langsamen ethnischen Säuberung durch Siedlungserweiterungen ausgesetzt. Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll, wenn nicht Siedlerkolonialismus.
Aber ist die koloniale Erfahrung der israelischen Siedler wirklich so einzigartig? Ich denke zum Beispiel an Liberia, wo Schwarze Amerikaner, die sich auf Abstammung beriefen, auf den afrikanischen Kontinent »zurückkehrten« und ein System aufbauten, in dem sie die lokale Bevölkerung dominierten.
Das ist ein sehr guter Punkt. Der Fall von Liberia kommt dem Israels tatsächlich relativ nahe. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ihre Behauptungen, sie seien Indigene, illegitim waren, während Israel zumindest einen historischen Zusammenhang für sich beanspruchen kann. Bei Liberia glaube ich, dass dieser erfunden ist. Aber das sind nur kleine Unterschiede – die Gemeinsamkeiten, auf die du hinweist, sind hier relevanter und machen Israel eben doch nicht völlig einzigartig.
Eine weitere Kritik an der postkolonialen Theorie, die in Deutschland in diesem Zusammenhang auftaucht, ist die Vorstellung, dass sie Antisemitismus »nur« als eine andere Art von Rassismus und nicht als eine spezifische, schädlichere Ideologie oder Weltanschauung behandelt. Hältst Du diese Unterscheidung für sinnvoll?
Es gibt Elemente des Antisemitismus, die ihn von anderen Formen des Rassismus unterscheiden, aber das bedeutet noch nicht, dass Antisemitismus kein Rassismus ist. Darüber hinaus spielt es keine Rolle, ob er einzigartig ist oder nicht. Wenn man genau hinschaut, könnte man behaupten, dass sich jede Art von Rassismus von den anderen unterscheidet, ohne dass dieser Unterschied per se irgendeine moralische oder analytische Relevanz hätte.
»Said vertrat in seiner Arbeit über Israel-Palästina genau die Prinzipien der Aufklärung, die seine Anhängerinnen und Anhänger heute ablehnen.«
Der Grund, warum die Linke den Antisemitismus ablehnt, liegt darin, dass er so viele Merkmale rassistischer Ideologien aufweist und zur Rechtfertigung der schrecklichen Misshandlung einer Gruppe herangezogen wurde und wird. Das ist der springende Punkt. Das ist es, was unsere moralische Abneigung gegen den Antisemitismus begründet.
Die Tatsache, dass er sich von anderen Rassismen unterscheidet, macht ihn zu einem interessanten Forschungsgegenstand, aber das bedeutet keineswegs, dass ihm eine eigene moralische Wertigkeit verliehen werden muss. Ich sehe keinen Grund, davor zurückzuschrecken, den Antisemitismus als eine Art von Rassismus zu bezeichnen, der jedoch historisch einzigartige Merkmale aufweist, die eine Analyse verdienen.
Edward Said, der Literaturtheoretiker, dessen Buch Orientalismus für den Postkolonialismus und dessen Kritik am Marxismus grundlegend ist, war nicht nur Palästinenser, sondern äußerte sich immer wieder sehr lautstark zur palästinensischen Sache. Glaubst Du, dass seine Analyse der Situation in Israel-Palästina uns heute weiterbringt?
Man muss die zwei Seiten von Saids Werk getrennt betrachten: seine theoretische Arbeit zu den Ideen der Aufklärung und des Marxismus einerseits und zu Israel-Palästina andererseits. Ich denke, Said war einer der eloquentesten Verteidiger der palästinensischen Rechte. Seine Arbeit zu Israel-Palästina ist immer noch ein sehr wichtiger Beitrag, insbesondere seine Kritik an der Dynamik nach dem Oslo-Abkommen.
Bemerkenswert ist, dass die theoretische Tradition, die er begründet hat, viele der Annahmen ablehnt, die er selbst bei der Verteidigung der Rechte der palästinensischen Bevölkerung verwendet. Die postkoloniale Theorie besteht darauf, dass die Idee von Rechten eine westliche Vorstellung ist, dass es keine universellen Interessen gibt und dass Kulturen anhand interner Normen dieser Kulturen beurteilt werden müssen. Diese Ideen machen es aber unmöglich, die Grundrechte der Palästinenserinnen und Palästinenser zu verteidigen.
Said vertrat damit in seiner Arbeit über Israel-Palästina genau die Prinzipien der Aufklärung, die seine Anhängerinnen und Anhänger heute ablehnen. Daher liegt in seinem Werk nicht nur eine Spannung, sondern auch eine tiefe Ironie. Wenn man Saids Rahmen zur Verteidigung des palästinensischen Kampfes akzeptiert, muss man die Gesellschaftstheorie ablehnen, der er so viel Aufwind gab. Wenn man die Grundlagen der postkolonialen Theorie akzeptiert, kann man Saids eigene Grundannahmen zur Verteidigung der Kämpfe der Palästinenser nicht verwenden.
Welcher Ansatz erfasst die palästinensische Lage dann am besten?
Ich glaube nicht, dass es eines neuen, innovativen Ansatzes bedarf. Der grundlegende liberale Rahmen – Repräsentation, Menschenrechte, nationale Souveränität und Autonomie – reicht hin, um die palästinensischen Bestrebungen zu rechtfertigen.
Die Ziele sind das eine. Eine Strategie zu entwickeln, um diese Ziele zu erreichen, ist etwas anderes. Ein großes Problem der postkolonialen Theorie besteht darin, dass sie die Vorstellung von Grundinteressen und gemeinsamen menschlichen Bedürfnissen ablehnt. Ein noch größeres Problem ist jedoch, dass sie keine effektive politische Strategie entwickeln kann.
»Die materialistische Analyse ist der einzige Weg, eine Strategie zu entwickeln.«
Sie weist nämlich die Konzepte zurück, anhand derer wir politische Analysen durchführen, etwa die materiellen Interessen der Menschen, die Art und Weise, wie sie in Klassen eingeteilt werden, und wie Nationalstaaten Gruppeninteressen organisieren. Die postkoloniale Theorie propagiert routinemäßig ethnische Identitäten als nicht nur aussagekräftigere, sondern auch legitimere Quellen für Politik im Globalen Süden – und darauf lässt sich einfach keine wirksame Befreiungsstrategie aufbauen.
Will man verstehen, worum es im palästinensischen Kampf geht, reicht der grundlegende liberale Rahmen des letzten Jahrhunderts aus. Aber will man verstehen, warum der Kampf so wenig Erfolg hatte, was seine internen Spaltungen sind oder wie sich tragfähige Bündnisse aufbauen ließen, führt kein Weg an einem materialistischen Rahmen vorbei. Sozialistische Bewegungen der letzten hundert Jahre haben dies etabliert, aber die postkoloniale Theorie kann diesem Ansatz nicht zustimmen, wenn sie ihrem Wort treu bleiben will.
Die materialistische Analyse ist der einzige Weg, eine Strategie zu entwickeln, die die Kräfte zusammenbringt, die sowohl das Interesse als auch die Macht haben könnten, den Palästinenserinnen und Palästinensern eine Art Staatlichkeit und Autonomie zu ermöglichen. Die grundlegenden Kategorien der postkolonialen Theorie sind kulturelle, rassische und ethnische. Diese können nicht nur nicht erklären, was vor sich geht, sie werden auch überhaupt nicht in der Lage sein, eine Vision und Strategie zu entwickeln, die zum Erfolg führen könnte.
Stellt die Anklage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof im Kontext dieses traditionellen liberalen Rahmens und in Ermangelung tragfähiger Alternativen einen Fortschritt für die Palästinenser dar?
Südafrika war eine der letzten Siedlerkolonien, in denen die indigene Bevölkerung wirkliche Souveränität erlangte. Es ist auf ewig beschämend, dass sich so wenige Länder der Anklage angeschlossen haben – wobei die Zahl mittlerweile wächst.
Südafrika sollte für das, was es getan hat, gelobt werden, und ich denke, unabhängig vom Urteil ist die Tatsache, dass Israels Verbrechen nun erzwungenerweise öffentlich bekannt werden, ein Fortschritt, der Israel isoliert und jede Behauptung untergräbt, die USA würden eine Art regelbasierter Ordnung vertreten.
Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der New York University. Sein Buch Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals ist 2019 im Dietz Verlag erschienen. Im selben Jahr haben wir im Brumaire Verlag sein dreiteiliges ABC des Kapitalismus veröffentlicht.