10. April 2024
Der jugoslawische Sozialismus war demokratischer und liberaler als der sowjetische – und ließ doch zu wünschen übrig. Ein Kreis marxistischer Intellektueller kritisierte die autoritäre Staatsführung und forderte weitere Demokratisierung: die Gruppe Praxis.
Ein Treffen der Praxis-Redaktion in Zagreb im Jahr 1964.
praxis.memoryoftheworld.org / Asja PetrovićEnde der 1980er Jahre, zur Zeit des aufkommenden toxischen Nationalismus in Jugoslawien, gab der hohe Parteifunktionär des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens Gojko Nikoliš nach fünfzig Jahren revolutionärer Arbeit sein Parteibuch zurück. Ein junger Kommunist traf ihn in einem Café und klagte: »Was soll mit uns Jungen geschehen, wenn die wahren Sozialisten, die bewährten Kämpfer, die besten Köpfe die Partei verlassen? Ihnen, Genosse Doktor, konnte ich folgen. Jetzt habe ich kein Vorbild mehr.«
»Das ist gut so«, meinte der Alte, »gerade so soll es sein. Solange du ein Vorbild nötig hast, bist du kein Marxist. Jetzt musst du selber herausfinden, was richtig und was falsch ist. Du allein musst deine Wahrheit vertreten.« Diese Anekdote zeigt wunderbar die Essenz des jugoslawischen Sozialismus und seiner marxistischen Kritikerinnen und Kritiker. Sie ist genau das: Eine Geschichte des selber Herausfindens.
Der Neomarxismus der 68-er lüftete so manchen Muff unter den Talaren. Auch in Titos Jugoslawien begann ein neuer Wind zu wehen. Um die Gruppe Praxis scharten sich marxistische Dissidentinnen und Dissidenten und schufen die renommierteste neomarxistische Zeitschrift Europas. Heute in Vergessenheit geraten, formulierte die kritische jugoslawische Intelligenzija neue Gedanken zu Stalin, Tito und zum Sozialismus an sich. Der bekannteste unter ihnen ist Slavoj Žižek, doch der wohl bedeutendste war Svetozar Stojanović.
Aber beginnen wir am Anfang. Josip Broz Tito wurde im Juni 1934 Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Jugoslawiens. Im Sommer 1937 hielt er sich in Moskau auf, als Stalins große Säuberungen begannen, in deren Verlauf die gesamte Führungsriege der KPJ exekutiert wurde – bis auf Tito. Stattdessen ernannte der Henker seiner Genossen ihn zum geschäftsführenden Generalsekretär der KPJ.
Zurück in Jugoslawien gelang es Tito mit seinen Partisanen, in den Jahren 1941–45 die Vorherrschaft in Jugoslawien zu erringen, die Nazis zu besiegen und 1945 die Föderative Volksrepublik Jugoslawien zu gründen. Die erfolgreiche Partisanentätigkeit der KPJ wurde zum Gründungsmythos des neuen Jugoslawien und verschaffte Tito ein hohes Maß an Prestige.
Im Verlauf der nächsten drei Jahre verschlechterte sich das Verhältnis zur Sowjetunion drastisch. Für Stalin war es unerhört, dass Tito es wagte, eigenständige Interessen zu vertreten, so etwa die geplante Gründung eines Bundes der Balkan- und Donaustaaten. Die stalinistische Diagnose der jugoslawischen Position war klar: Agententum und ideologische Verirrung. Jugoslawien wurde somit 1948 aus der Kominform ausgeschlossen und Ziel enormer Wirtschaftssanktionen.
»Einerseits öffnete das jugoslawische System viele Räume, um Individualismus ausleben und Kritik äußern zu können, andererseits herrschte die politische Führungsriege autoritär und repressiv.«
Der Ausschluss traf in Jugoslawien auf Unglauben, da man bis zuletzt davon überzeugt war, dass Stalin lediglich einer Reihe von Missverständnissen unterliege. Das Ansehen der Sowjetunion war in Jugoslawien sehr hoch und die Funktionäre um Tito waren allesamt Stalinisten. Es war für die KPJ unerklärlich, wie ihr gesamtes bisheriges revolutionäres Streben nur durch die Weigerung, sich unterzuordnen, mit dem schlimmsten Verrat am Kommunismus gleichgesetzt werden konnte. Dies wurde der zweite Gründungsmythos Jugoslawiens: die imperialistische Einmischung Stalins in jugoslawische Angelegenheiten.
Auch wenn Stalin seinen Antagonismus mit Ideologie begründete, ging es dabei in Wahrheit einzig und allein um die autonome Haltung Jugoslawiens. Er verlangte die Hegemonie über alle Kommunistischen Parteien der Welt und fürchtete, in der Selbstbestimmung Jugoslawiens liege der Keim einer Konkurrenz im sozialistischen Pantheon und in der Kontrolle über die osteuropäischen Satellitenstaaten. Ironischerweise erschuf Stalins vorgeschobener Grund einer ideologischen Abweichung der KPJ eine selbsterfüllende Prophezeiung. Erst durch seine Aggression entstand das, worauf er zu reagieren vorgab: ein eigener jugoslawischer Weg zum Sozialismus – der Titoismus.
Der Titoismus ergab sich aus der Notwendigkeit, Kritik am Stalinismus zu üben. Er war der Versuch, in der sozialistischen Tradition eine neue Identität zu finden und zugleich die eigene Herrschaft zu legitimieren. Stalins aggressive Hegemonialpolitik drängte die Köpfe der KPJ dazu, Marx und Lenin einer eigenständigen Exegese zu unterziehen. Denn sie wollten zwar einerseits den Stalinismus kritisieren, aber andererseits doch Kommunisten bleiben. Was sie brauchten, war eine eigene Strömung – und was sie erzeugten, war eine Welle der Demokratisierung des stalinistisch geprägten Systems. Die Phase zwischen 1949 und 1953 bildet den Beginn der jugoslawischen marxistischen Philosophie.
Über die Zeit veränderte sich der Titoismus durch verschiedene Reformen stetig, wobei zentrale Charakteristika und Narrative jedoch gleich blieben. Geboren aus der Selbstbehauptung gegenüber Stalin war das erste essenzielle Narrativ die Selbstbestimmung der sozialistischen Länder und die Legitimität unterschiedlicher Wege zum Kommunismus. Aufgrund des Ausschlusses aus dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), des drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der daraus folgenden Annäherung an den Westen ergab sich zweitens die Theorie der friedlichen Koexistenz sozialistischer und kapitalistischer Länder.
Und im Zusammenhang mit der Kritik am stalinistischen Bürokratismus, Dirigismus und Zentralismus entstand drittens das wohl bedeutsamste Charakteristikum des Titoismus – sein Antizentralismus. Dieser äußerte sich im stark ausgeprägten Föderalismus Jugoslawiens und auf wirtschaftlicher Ebene in der Arbeiterselbstverwaltung durch Arbeiterräte, dem Produzentenrat und letztlich in der sozialistischen Marktwirtschaft.
Ein weiteres Charakteristikum des Titoismus war sein Anspruch, freiheitlicher zu sein als der Stalinismus und den Schrecken des Terrors von sich zu weisen. Das Ergebnis war jedoch letztlich eine Ambivalenz aus Autoritarismus und Liberalisierungsbestrebungen: Einerseits öffnete das jugoslawische System seinen Bürgerinnen und Bürgern viele Räume, um ihren Individualismus ausleben und Kritik äußern zu können, andererseits herrschte die politische Führungsriege um Tito autoritär und repressiv. Der Entstalinisierungsprozess blieb im Widerspruch zwischen Demokratisierung und Herrschaftssicherung stecken. Dieser Widerspruch zwischen Theorie und Praxis bildete bis in die 68er-Bewegung den zentralen Kritikpunkt.
Stalins Tod im Jahr 1953 stellte Jugoslawien vor eine neue Situation. Die mehrheitlich serbischen Konservativen unter ZK-Mitglied Aleksandar Ranković, die die ideologische Neuausrichtung Jugoslawiens lediglich als propagandistische Herrschaftslegitimation sahen, sehnten sich nach einer Annäherung an die Sowjetunion und einem Stalinismus ohne Stalin.
Für die mehrheitlich kroatischen und slowenischen Liberalen um die ZK-Mitglieder Edvard Kardelj und Milowan Djilas, war die neue Linie jedoch nicht einfach nur Propaganda, sondern eine bedeutende neue sozialistische Strömung. Da die Drucksituation des direkten Konflikts mit Stalin vorerst mit diesem gestorben war, schien es ihnen möglich, nun auch das eigene System zu kritisieren, ohne in Gefahr zu geraten, als Verräter dargestellt zu werden.
»Djilas forderte, eine konkurrierende linkssozialistische Partei zu bilden oder gar die Partei an sich aufzulösen.«
Als Erster machte Djilas, Titos Liebling im ZK, auf die Kluft zwischen Theorie und Praxis in Jugoslawien aufmerksam. Er verdammte den Bürokratismus als Hauptmerkmal des Stalinismus und kritisierte auch den Bürokratismus und Dogmatismus in Jugoslawien. Djilas forderte, die 1952 beschlossenen Demokratisierungsmaßnahmen auch wirklich umzusetzen, und darüber hinaus eine konkurrierende linkssozialistische Partei zu bilden oder gar die Partei an sich aufzulösen. So wurde er für die anderen Parteioligarchen untragbar.
1954 wurde Djilas sämtlichen Partei- und Regierungsämtern enthoben. Im selben Zeitraum näherte sich Chruschtschow wieder an Jugoslawien an und legitimierte in der Belgrader Deklaration von 1955 unterschiedliche Wege zum Sozialismus. Dies war der Startschuss für eine neue Phase in den Beziehungen zwischen beiden Ländern, die von einem stetigen Auf und Ab geprägt sein würden. Djilas ließ jedoch nicht von seiner Kritik ab und verbrachte insgesamt fast fünf Jahre im Gefängnis. In Die Neue Klasse, einem seiner bedeutendsten Bücher, analysierte er die Gesamtheit der Parteimitglieder der jeweils herrschenden KP eines Landes als neue dominante Klasse.
1963 traf sich die kritische Intelligenzija Jugoslawiens auf der Adria-Insel Korčula. Aus dieser Versammlung entwickelte sich anschließend die Gruppe Praxis mitsamt ihrer gleichnamigen Zeitschrift, die nun jährlich eine Sommerschule auf Korčula organisierte, auf der jugoslawische Studierende mit den renommiertesten marxistischen Denkerinnen und Denkern ihrer Zeit diskutieren konnten.
Die bekanntesten Köpfe der Gruppe Praxis waren Gajo Petrović, Milan Kangrga, Danko Grlić, Svetozar Stojanović und Mihailo Marković. Auch der damals unbekannte Slavoj Žižek schrieb einige Artikel für die Praxis. Das Schicksal von Djilas lehrte sie jedoch, das eigene System nicht direkt anzugreifen. Daher verwendeten sie ihre Kritik am Stalinismus stets auch als einen Code für die Kritik am Titoismus.
Parallel zur internationalen 68er-Bewegung gärten auch in Jugoslawien Studierendenproteste. Vermittelt nicht zuletzt durch die Gruppe Praxis waren die Protestierenden mit den Ideen der Neuen Linken ausgestattet und verlangten, dass sich das Regime in seiner Praxis der eigenen Theorie annähern solle. Auch forderten sie die Verbesserung der ökonomischen Situation der immer wieder schwächelnden jugoslawischen Wirtschaft und kritisierten soziale Probleme wie den Zug junger Jugoslawinnen und Jugoslawen nach Westeuropa.
Tito verfolgte zur Eindämmung der Proteste eine Doppelstrategie: Einerseits betonte er die Legitimität der studentischen Kritik, um die moderaten Kritiker zu besänftigen, andererseits ging er besonders ab dem Prager Frühling repressiv gegen sie vor, da der Fokus der Mehrheit der jugoslawischen Bevölkerung mit Sorge auf die Außenpolitik wechselte. In diesem Kontext veröffentlichte Svetozar Stojanović 1969 sein Erstlings- und Hauptwerk Kritik und Zukunft des Sozialismus.
Svetozar Stojanović, Jahrgang 1931, erhielt 1962 seinen Doktor in Philosophie an der Universität Belgrad. Der Serbe war einer der führenden Köpfe der Gruppe Praxis. Kritik und Zukunft des Sozialismus lässt sich treffend mit Erich Fromms Worten beschreiben, als: »die Rückkehr zum wahren Marx, im Gegensatz zu dem von rechten Sozialdemokraten und Stalinisten gleichermaßen verzerrten Marx.«
Stojanović kritisiert die Gesellschaftsordnung des Ostblocks als eine neue Produktionsweise, die weder kapitalistisch noch sozialistisch ist, und wählt dafür den Namen Etatismus – von französisch l´état für »der Staat«. Vor Stojanović benutzten viele den Begriff des Etatismus, meinten aber einfach nur einen starken Staat oder den bürokratisierten Sozialismus. Doch Stojanovićs Verständnis unterscheidet sich klar von solchen Ansichten. Für ihn basiert der Etatismus auf der Allmacht der stalinistischen Apparatschiks in der Sowjetunion, die mittlerweile eine neue Klasse darstellten, die den Rest der Gesellschaft ausbeute.
»Im Etatismus gilt: Je mehr politische Macht, desto mehr Kapitalien, während im Kapitalismus umgekehrt mehr Kapitalien mehr politische Macht bedeuten.«
Das Staatseigentum der Sowjetunion sei demnach der kollektive Klassenbesitz einer neuen Bürokratenklasse, da die KP mit dem Staat der Sowjetunion verschmolzen sei und die Arbeitskraft des Proletariats ausbeute, um sich den erzeugten Reichtum selbst einzuverleiben. Die Angehörigen dieser neuen herrschenden Klasse erhalten nach Stojanović den Teil des gesamtgesellschaftlich erwirtschafteten Mehrwerts, der proportional zu ihrer Stellung in der staatlichen Hierarchie steht. In diesem Etatismus gilt: Je mehr politische Macht, desto mehr Kapitalien, während im Kapitalismus umgekehrt mehr Kapitalien mehr politische Macht bedeuten. Vergleichbar sei dies mit dem Kirchenbesitz des Mittelalters im Verhältnis zu einem Priester, Bischof oder Papst.
Die Arbeiterklasse, so Stojanović, sei im stalinistischen Etatismus schlechter gestellt als im westlichen Kapitalismus, da sie dort nicht einmal Gewerkschaften gründen, über den Lohn verhandeln und ihre Arbeit frei wählen könne. Der Etatismus sei oligarchisch organisiert und die Bürokratenklasse herrsche total über Wirtschaft, Politik, Kultur und Moral. Dieses primitiv-politokratische System sei jedoch mit der Zeit in eine Krise geraten – das oligarchische Element hindere die Wirtschaft, weshalb es sich stufenweise in einen technokratischen Etatismus verwandle.
Auf Ebene der Ideologie erklärte Stojanović, dass sich der Marxismus als »Theorie des praktischen Humanismus« schon immer fragen musste, wie er der Praxis gegenüber autonom und kritisch bleiben könnte. Als die leninistische Avantgarde in der Oktoberrevolution an die Macht gelangte, habe die revolutionäre Praxis die Form von Organisationen und Institutionen angenommen und damit die Herausforderungen eine neue Höhe erreicht. Wenn dann wiederum in der KP keine Demokratie existiert, so Stojanović, »verurteilt sich der Marxismus im Namen der Einheit von Theorie und Praxis zum intellektuellen Niveau der Parteispitze.«
Die Institutionalisierung des Marxismus begann aus seiner Sicht bereits vor Stalin, doch mit diesem »stürzte der Marxismus von den kosmopolitischen Höhen in einen primitiven Provinzialismus herab. Parallel zur oligarchisch-etatistischen Degeneration der kommunistischen Partei und der Revolution in einer solchen Gesellschaft vollzog sich der Verwandlungsprozess des Marxismus von einer revolutionär-kritischen in eine konservativ-apologetische Ideologie der neuen herrschenden Klasse«.
Stojanović kritisierte die verschiedenen Deutungsversuche des Stalinismus als bürokratisierter oder degenerierter Sozialismus trocken: »Leider geben einige radikale Kritiker des Stalinismus zur Antwort, dies sei, zum Beispiel, der vollständig degenerierte Sozialismus. Doch wenn eine Entität vollkommen degeneriert, wird sie dann nicht zu etwas anderem als dem, was sie war?« Sozialismus und Stalinismus seien zwei verschiedene Dinge, die sich diametral gegenüberstünden.
Dies untermauerte Stojanović, indem er aufzählte, was am Stalinismus der Essenz des Sozialismus widerspreche: »Ein Sozialismus, für den Entbürokratisierung, Demokratisierung, Überwindung der zentralistisch-distributiven Wirtschaft, Eliminierung des Polizeiterrors und der Zensur, Einführung der Arbeiterselbstverwaltung, Erreichung der nationalen Souveränität und ähnliches mehr, Konterrevolution bedeuten, kann unter keinen Umständen Sozialismus im Marxschen Sinne des Wortes sein.« Im Stalinismus gebe es somit eben keine Missbräuche im Rahmen des Sozialismus, sondern eine neue, nicht-sozialistische Realität – den Etatismus. »Die Akkumulierung der Mißbräuche hat eine Grenze, über die hinaus sie vollständig den Charakter der Entitäten verändert, die mißbraucht werden. Deshalb ist es höchste Zeit, daß man nicht mehr vom Mißbrauch, sondern vom systematischen Gebrauch der Mittel zur Erreichung nichtsozialistischer Ziele spricht.«
Ein Staatssozialismus, der das Privateigentum an Produktionsmitteln beenden und die Verwaltung und das gesellschaftliche Leben beherrschen würde, könne jedoch durchaus legitim und sozialistisch sein, sofern er die Interessen des Proletariats vertreten und das Staatseigentum in Gesellschaftseigentum verwandeln würde. In der Sowjetunion habe sich der Staat als Klassenorganisation der Apparatschiks jedoch von der Gesellschaft verselbstständigt und zu ihrem Herren gemacht, der zuvorderst seine eigenen Interessen durchsetze.
»Die Lehre aus dem Stalinismus besteht darin, dass die sozialistische Bewegung die Demokratie stets erhalten muss und niemals auch nur aussetzen darf, wenn sie den Sozialismus je vollenden will.«
Um das antietatistische Erbe des wahren Marxismus zu verdeutlichen, berief sich Stojanović auf Schriften von Marx, Engels und Lenin. Seine Auslegung des Marxismus war frei von Teleologie, Geschichtsdeterminismus oder Ökonomismus, sondern bezog sich mehr auf Marx’ Humanismus und die Bedeutung des Marxismus als »kritisches Bewußtsein unserer Epoche«. Lenins Staat und Revolution entnahm er die These des Absterbens des Staates:
Der alte Staat dient demnach der Bourgeoisie zur Unterdrückung der proletarisch-bäuerlichen Mehrheit. Nach der Revolution übernimmt der proletarische Staat dessen Funktion als Machtwerkzeug, um den Sozialismus zu etablieren und hebt den alten Staat somit auf. Mit dem Verschwinden der Klassen und Klassengegensätze wird der Staat jedoch überflüssig und stirbt ab.
Stojanović kontrastiert dieses Streben nach dem Absterben des Staates mit der Bürokratisierung in Jugoslawien und der Sowjetunion. Die Lehre aus dem Stalinismus besteht aus seiner Sicht darin, dass die sozialistische Bewegung die Demokratie stets erhalten muss und niemals auch nur aussetzen darf, wenn sie den Sozialismus je vollenden will.
Nachdem der jugoslawische Staat die Aufstände von 1968 zerschlagen und eine neue Welle der Repression angestoßen hatte, erklärte Tito in einer Ansprache die »Philosöphchen« der Gruppe Praxis als für die Unruhen verantwortlich. Sie würden danach trachten, die Jugend zu verderben. Gleichzeitig wurde die Parteiorganisation der philosophischen Fakultät in Belgrad aus dem BdKJ ausgeschlossen.
Eine lange Phase der Repression gegenüber der Praxis-Gruppe kulminierte 1974/75: – Die Sommerschule auf Korčula und die Zeitschrift Praxis wurden verboten und ihre Redakteure als professionelle Antikommunisten gebrandmarkt. Acht Professoren der Universität Belgrad, die Teil der Gruppe waren, erhielten ein Lehrverbot. Unter ihnen war auch Svetozar Stojanović, der daraufhin, wie einige seiner Kollegen, Lehraufträge an Universitäten im Ausland erhielt. 1981 wurde die Zeitschrift Praxis als Praxis International in Oxford unter Mitarbeit Stojanovićs, neu herausgegeben.
Nach Titos Tod 1980 wurde der seit Jahren gärende Nationalismus in den einzelnen Teilstaaten immer stärker. In diesem Kontext spaltete sich besonders die Belgrader Praxis-Gruppe in einen antinationalistischen und einen ultranationalistischen Flügel. Zum letzteren zählten Mihailo Marković, Ljubomir Tadić, Zagorka Golubović und Dobrica Ćosić.
Allen voran Marković stach mit nationalistischer Rhetorik hervor und unterzeichnete 1986 das SANU-Memorandum, das das Wiederaufkommen des serbischen Nationalismus befeuerte. Abermals wurde von der Viktimisierung und Diskriminierung Serbiens unter Tito gesprochen, gar vom Genozid an der serbischen Bevölkerung im Kosovo. Im Gefolge dieses nationalistischen Diskurses wurde Slobodan Milošević 1989 zum Präsidenten Serbiens gewählt. Während der Jugoslawienkriege wurde Marković gar Vize-Präsident und Chefideologe von Miloševićs Sozialistischer Partei Serbiens.
Stojanović beteiligte sich nicht öffentlich am nationalistischen Diskurs der 1980er und 90er Jahre, arbeitete aber 1992/93 als Berater für Ćosić, der zu dieser Zeit Präsident war. Andererseits war er – besonders Ende der 1990er – ein vehementer Kritiker Miloševićs und wurde nach dessen Sturz im Jahr 2000 Mitglied der Kommission für Wahrheit und Versöhnung. Das Magazin Praxis International nannte sich 1994 in Constellations um, nachdem es zum Zerwürfnis mit den Belgrader Nationalisten kam und erscheint heute noch. Der nationalistische Turn in Jugoslawien begrub unter sich eine der bedeutendsten Strömungen des Sozialismus nach 1945.
Patrick Lempges ist Historiker mit einer Spezialisierung auf der Ideengeschichte des Sozialismus und vergleichender Faschismusforschung. Er hat unter anderem für ND.Die Woche geschrieben.