03. August 2020
Trump ist das Poster Child einer globalen Krise. Lösen kann sie nur die Linke.
Die Gesichter des progressiven Neoliberalismus: dazu gehören die Clintons ebenso wie Justin Trudeau oder Robert Habeck.
Man muss befürchten, als Schwätzerin abgetan zu werden, wenn man heute von »der Krise« spricht. Zu sehr wurde dieser Begriff durch endloses Gerede banalisiert. Und doch haben wir es in einem ganz präzisen Sinne mit einer Krise zu tun, deren Ende wir einen Schritt näher kommen, wenn es uns gelingt, ihren Eigencharakter und ihre Dynamik genau zu bestimmen. Vielleicht erhaschen wir gar einen Blick auf Auswege aus der gegenwärtigen Sackgasse: durch politische Neuaufstellung hin zur gesellschaftlichen Transformation.
Wir haben es auf den ersten Blick mit einer politischen Krise zu tun, eine Krise, die ihre spektakulärste Form wohl in den USA angenommen hat: Donald Trump, die Umstände seiner Wahl, seine Präsidentschaft und die Konflikte, die sie umgeben. Doch fehlt es auch anderswo nicht an Entsprechungen: das britische Brexit-Debakel; der Legitimitätsverlust der Europäischen Union und der Absturz der sozialdemokratischen und Mitte-Rechts-Parteien, auf die sie sich stützte und weiterhin stützt; der grassierende Erfolg rassistischer und fremdenfeindlicher Parteien in Ost- und Mitteleuropa sowie autoritärer, teils proto-faschistischer Kräfte in Lateinamerika, Asien und im Pazifikraum. Träfe es der Begriff der politischen Krise, so wäre sie keine amerikanische, sondern eine globale.
Für diese Annahme spricht, dass die genannten Entwicklungen bei allen Unterschieden einen gemeinsamen Kern aufweisen: Sie verweisen allesamt auf eine dramatische Schwächung, gar den Zusammenbruch der Autorität etablierter politischer Schichten und Parteien. Es scheint, als hätten Massen an Menschen rund um den Globus plötzlich aufgehört, an die Selbstverständlichkeiten zu glauben, auf die sich politische Herrschaft in den letzten Jahrzehnten gestützt hatte. Es scheint, als hätten diese Massen das Vertrauen in die guten Absichten der Eliten verloren und sich auf die Suche nach neuen Ideologien, Organisationen und Führerinnen begeben. Zu umfassend ist dieser Bruch, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Nehmen wir stattdessen an, dass wir es tatsächlich mit einer globalen politischen Krise zu tun haben.
»Der politische Strang der allgemeinen Krise gründet auf einer Krise der Hegemonie.«
Auch wenn das bereits groß anmutet, ist es erst ein Teil der Geschichte. Denn die zitierten Geschehnisse stellen nur einen, den politischen Strang der Krise dar, der, verwoben mit anderen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Strängen, erst das Geflecht einer allgemeinen Krise bildet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die politische Krise die Grenzen des politischen Systems übersteigt; dass sie eine Reaktion auf Blockaden in anderen, scheinbar unpolitischen Institutionen ist. In den USA bestehen diese im Metastasieren des Finanzsektors; der Verbreitung prekärer »McJobs« in der Dienstleistungsbranche; in der aufgeblähten Privatverschuldung, die den Konsum anderswo produzierter Billig-Güter am Laufen hält; im gleichzeitigen Anstieg des CO²-Ausstoßes, extremen Wetterverhältnissen und öffentlichem ‚Klimaskeptizismus‘; rassistisch strukturierter Masseninhaftierung und systematischer Polizeigewalt; den wachsenden Zumutungen, die Familien und lokalen Gemeinschaften durch steigende Arbeitsstunden und den Abbau sozialer Unterstützung aufgebürdet werden. All diese Kräfte unterhöhlen die Ordnung der Gesellschaft seit geraumer Zeit, bislang ohne zum politischen Bruch zu führen. Doch jetzt ist mit allem zu rechnen. In der gegenwärtigen Ablehnung von »politics as usual« hat eine objektive Systemkrise ihre subjektive Stimme gefunden. Der politische Strang der allgemeinen Krise gründet auf einer Krise der Hegemonie.
»Trump ist das Vorzeigekind dieser Hegemoniekrise, doch seinen Aufstieg können wir nur verstehen, indem wir die Bedingungen, die diesen Aufstieg ermöglichten, klären.«
Donald Trump ist das Vorzeigekind dieser Hegemoniekrise, doch seinen Aufstieg können wir nur verstehen, indem wir die Bedingungen, die diesen Aufstieg ermöglichten, klären. Das bedeutet, das Weltbild, das der Trumpismus verdrängt und die Desintegration dieses Weltbildes nachzuzeichnen. Unverzichtbare Begrifflichkeiten für dieses Unterfangen entwickelt Antonio Gramsci: Hegemonie nennt er den Prozess, im Zuge dessen eine herrschende Klasse ihre Herrschaft als natürlich und legitim erscheinen lässt, indem sie die Grundannahmen ihres eigenen Weltbildes zum Common Sense, zum ‚gesunden Menschenverstand‘ der Gesamtgesellschaft, erklärt. Ihre organisierte Entsprechung ist der hegemoniale Block, eine Koalition verschiedener sozialer Kräfte, die die herrschende Klasse vereint, um den eigenen Führungsanspruch durchzusetzen. Wollen sie dieses Arrangement herausfordern, müssen die beherrschten Klassen einen neuen, überzeugenderen Common Sense herausbilden, eine Gegenhegemonie mitsamt entsprechendem gegenhegemonialen Block.
Diesen Ideen Gramscis müssen wir nun noch eine weitere hinzufügen. Jeder hegemoniale Block verkörpert Vorstellungen dessen, was richtig und gerecht ist. Und spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts stützt sich kapitalistische Hegemonie in Europa und den USA auf die Kombination zweier Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit: Einerseits Ideen legitimer Verteilung, andererseits Erwartungen der Anerkennung. Verteilungsvorstellungen betreffen die Frage, wie Güter, vor allem Einkommen, gesellschaftlich aufzuteilen sind. Dieser Aspekt korrespondiert mit der wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft und, wie auch immer vermittelt, mit ihren Klassenspaltungen. Der Aspekt der Anerkennung bezieht sich darauf, wem und was gesellschaftlich Respekt und Wertschätzung zukommen sollte. Basierend auf Status und moralischen Markern von Zugehörigkeit verweist dieser Aspekt auf gesellschaftliche Statushierarchien.
Verteilung und Anerkennung bilden die entscheidenden normativen Bestandteile von Hegemonie. In Verbindung mit den Begriffen Gramscis lässt sich sagen, dass Trump und der Trumpismus das Ergebnis eines Auseinanderbrechens des vorangegangenen hegemonialen Blocks sind – sowie der Diskreditierung der spezifischen Verknüpfung von Verteilung und Anerkennung, die diesen Block zusammenhielt. Wie diese Verknüpfung entstand und wieder zerfiel, klärt nicht bloß unser Bild des Trumpismus, sondern eröffnet auch den Ausblick auf einen gegenhegemonialen Block, der auf Trump folgen könnte. Lassen Sie mich erklären.
Der hegemoniale Block, der die US-amerikanische Politik vor Trump dominierte, war der des progressiven Neoliberalismus. Was klingt wie ein Widerspruch in sich, war die höchst reale, mächtige Allianz zweier seltsamer Gefährten: Auf der einen Seite der liberale Mainstream der Neuen Sozialen Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus, Ökologie und Lesben- und Schwulenbewegung), auf der anderen Seite die dynamischsten, kulturell einflussreichsten und am stärksten finanzialisierten Sektoren der amerikanischen Wirtschaft (Wall Street, Silicon Valley und Hollywood). Was dieses eigenartige Paar zusammenhielt, war eine charakteristische Verquickung von Verteilungs- und Anerkennungsvorstellungen.
Der progressiv-neoliberale Block verband ein ökonomisches Programm von Geldherrschaft und gesellschaftlicher Enteignung mit einer liberalen und meritokratischen Anerkennungspolitik. Die Verteilungskomponente dieser Verbindung war neoliberal. Entschlossen, die Kräfte des Marktes von den Ketten des Staates, von Steuern und Abgaben zu befreien, setzten die Klassen, die diesen Block anführten, alles daran, die kapitalistische Wirtschaft zu liberalisieren und zu globalisieren. In erster Linie bedeutete das Finanzialisierung: Barrieren und Schutzvorkehrungen gegen unumschränkte Kapitalflüsse wurden abgeschafft, Banken dereguliert und räuberische Formen privater Verschuldung befördert. Der Deindustrialisierung, dem Niedergang von Gewerkschaften und der Ausbreitung prekärer, schlecht entlohnter Arbeitsplätze wurde nichts entgegengesetzt. Obwohl im Allgemeinen mit Ronald Reagan assoziiert, wurden substanzielle Teile dieses Programms von Bill Clinton durchgesetzt und konsolidiert. Diese Politik unterhöhlte den Lebensstandard von Arbeiterinnen und Teilen der Mittelschicht und verteilte den gesellschaftlichen Reichtum nach oben um – in allererster Linie sicherlich an das reichste Prozent der Bevölkerung, aber auch an die oberen Riegen der leitenden Angestellten, Selbstständigen und des Managements
Die progressiven Neoliberalen sind nicht die eigentlichen Visionäre dieser politischen Ökonomie. Diese Ehre gebührt der Rechten, ihren intellektuellen Fackelträgern Friedrich Hayek, Milton Friedman und James Buchanan, ihren politischen Visionären Barry Goldwater und Ronald Reagan sowie zahlungskräftigen Spendern wie den Brüdern Koch. Doch in einem Land, dessen Common Sense immer noch geprägt war von der sozialdemokratischen Ideologie des New Deal, der ‚Bürgerrechtsrevolution‘ und den Bewegungen der Neuen Linken, konnte die scharf rechte, ‚fundamentalistische‘ Variante des Neoliberalismus allein nicht hegemonial werden. Um siegreich zu werden, musste sich das neoliberale Projekt in einem ganz neuen Gewand präsentieren, ein breiteres Publikum ansprechen und sich mit nicht-ökonomischen Vorstellungen von Befreiung und Emanzipation verbinden. Nur verkleidet als progressives Projekt konnte eine zutiefst regressive politische Ökonomie das dynamische Zentrum eines neuen hegemonialen Blocks werden.
So war es an den New Democrats die entscheidende Zutat beizutragen: eine progressive Politik der Anerkennung. Unter Rückgriff auf fortschrittliche Kräfte der Zivilgesellschaft propagierten sie einen, dem Anschein nach, egalitären und emanzipatorischen Ethos der Anerkennung. Im Herzen dieses Ethos standen Ideale der »Vielfalt«, des »Empowerment« von Frauen und der »Befreiung« von Lesben, Schwulen und Transsexuellen; eines »post-ethnischen« Multikulturalismus, und des Umweltschutzes. Diese Ideale wurden in einer eng umgrenzten Weise verstanden, die mit der Goldman-Sachsifizierung der amerikanischen Wirtschaft gänzlich kompatibel war. Umweltschutz hieß CO²-Handel. Privaten Hausbesitz zu fördern, hieß subprime-Kredite zu vergeben, die gebündelt und als hypothekarisch abgesicherte Wertpapiere weiterverkauft werden konnten. Und Gleichheit hieß Meritokratie.
Besonders schicksalhaft war dabei letztere Verkürzung von Gleichheit zu Meritokratie. Das progressiv-neoliberale Ideal einer gerechten Statusordnung zielte nicht auf die Abschafftung von Hierarchien ab, sondern wollte diese lediglich »diversifizieren« – indem »begabte« Frauen und Mitglieder ethnischer und sexueller Minderheiten »empowert« wurden, nach Spitzenpositionen zu greifen. Im Effekt war dieses Ideal ganz und gar klassenspezifisch: Es war darauf ausgerichtet, besonders »verdienten« Mitgliedern »unterrepräsentierter Gruppen« die Möglichkeit zu verschaffen, Positionen und Einkommen auf einer Stufe mit denen heterosexueller weißer Männer ihrer Klasse zu erlangen. Die feministische Variante dieses Ideals ist bedauerlich, aber keineswegs einzigartig: Mit ihrem Fokus auf »leaning in«, sich »reinhängen«, um die »gläserne Decke« zu durchbrechen, konnte dieser Feminismus nur denen nützlich sein, die bereits über das nötige soziale, kulturelle und ökonomische Kapital zu einem solchen Durchbruch verfügten. Alle anderen steckten weiterhin im Keller fest.
So verdreht sie auch war, gelang es dieser Politik der Anerkennung doch, wichtige Strömungen progressiver Bewegungen auf ihre Seite und in einen neuen hegemonialen Block zu holen. Nicht alle Feministinnen, Antirassisten, Multikulturalistinnen usw. sprangen auf den neoliberalen Zug auf. Aber jene, die es – wissentlich oder nicht – taten, stellten die größten und sichtbarsten Segmente ihrer Bewegungen dar, während die, die sich verweigerten, an den Rand gedrängt wurden. Innerhalb der progressiv-neoliberalen Allianz waren die fortschrittlichen Kräfte natürlich durchweg die Junior-Partner und weniger mächtig als ihre Kompagnons in Wall Street, Hollywood und Silicon Valley. Doch sie brachten einen entscheidenden Beitrag in diese gefährliche Liaison ein: Das Charisma eines »neuen Geistes des Kapitalismus«. Dieser spirit nutzte die Ausstrahlung von Emanzipationsversprechen, um neoliberales Wirtschaften den Anstrich eines gesellschaftlichen Aufbruchs zu geben. Assoziiert mit dem Vorwärtsdenken, der Befreiung, Kosmopolitismus und moralischem Fortschritt, wurde das Trostlose mit einem Mal aufregend. Dieser Ethos war zu großen Teilen verantwortlich dafür, dass sich eine Politik der massiven Umverteilung von Reichtum und Einkommen von unten nach oben als legitim präsentieren konnte.
Doch um hegemonial zu werden, musste der entstehende progressiv-neoliberale Block zunächst zwei Rivalen bezwingen. Erstens waren die nicht unbedeutenden Überbleibsel der sozialdemokratischen Koalition zu bezwingen, die der New Deal versammelt hatte. In Vorwegnahme von Tony Blairs New Labour-Modell löste der Clintonsche Flügel der US-amerikanischen Demokraten diese Allianz klammheimlich auf. Anstelle des historischen Blocks, der für mehrere Jahrzehnte Gewerkschaften und Arbeiterinnen, Migrantinnen, Schwarze, die städtische Mittelschicht und Teile des großen Industriekapitals vereint hatte, organisierte dieser Flügel eine neue Allianz von Unternehmerinnen, Bankern, der Mittelschicht aus den Vororten, »symbolischen Arbeiterinnen und Arbeiter«, Neuen Sozialen Bewegungen, Latinos und der Jugend, wobei sie auch die Schwarzen bei der Stange hielten, die nirgendwohin hätten abwandern können. Im Wahlkampf um die Präsidentschaftsnominierung 1991/92 sprach Bill Clinton viel über Vielfalt, Multikulturalismus und Frauenrechte, um im Anschluss ganz im Sinne von Goldman Sachs zu handeln.
Der zweite Rivale, den der progressive Neoliberalismus besiegen musste, war ihm ähnlicher, als er hätte zugeben können: der reaktionäre Neoliberalismus. Beheimatet hauptsächlich in der Republikanischen Partei und weniger kohärent als sein dominanter Rivale, stand dieser zweite Block für einen anderen Nexus von Verteilung und Anerkennung. Er verband eine ähnliche neoliberale Verteilungspolitik mit einer reaktionären Politik der Anerkennung. Der reaktionäre Neoliberalismus gab vor, Kleinunternehmer und den produzierenden Sektor zu fördern, doch sein wahres ökonomisches Projekt war eine Stärkung des Finanzsektors, der Rüstungsindustrie und der extraktiven Stromproduktion, allesamt zugunsten der globalen 1%. Was der anvisierten Basis dieses Projekt schmackhaft machen sollte, war das Ideal einer Statusordnung, die auf Ausschluss basierte: ethno-nationalistisch, migrationsfeindlich und christlich-fundamentalistisch, wenn nicht gleich offenem rassistisch, homophob und patriarchal.
Diese Formel ermöglichte für zwei Jahrzehnte eine – wenn auch nicht ganz behagliche – Allianz von Evangelikalen, Weißen aus den Südstaaten, Bewohnerinnen von ländlichen Regionen und Kleinstädten sowie desillusionierten Arbeiterinnen mit Libertären, Tea Party-Verfechterinnen, der Handelskammer und den schwerreichen Koch-Brüdern, zusammen mit einigen Bankern, Immobilienmagnaten, Hedge Fund-Spekulanten und Kapitalanlegern. Abgesehen von kapitalfraktionsspezifischen Interessen unterschied sich die politische Ökonomie des reaktionären Neoliberalismus kaum von der des progressiv-neoliberalen Rivalen. Die Parteien fochten von Zeit zu Zeit über ‚Reichensteuern‘, wobei die Demokraten meist klein beigaben. Doch über Parteigrenzen hinweg war man sich einig über die Vorzüge des ‚freien Handels‘, niedriger Körperschaftssteuern für Unternehmen, immer weiter beschränkter Arbeitnehmerinnenrechte, des Primats der Anlegerinteressen, Kompensationen nach dem ‚winner takes all‘-Prinzip und der Deregulierung des Finanzwesens. Beide Blöcke wählten Anführer (und manchmal Anführerinnen), die einen großflächigen Abbau von Sozialansprüchen anvisierten. Was sie unterschied, war ihre Haltung zu Anerkennungs-, nicht zu Verteilungsfragen.
»Der progressive Neoliberalismus gewann diese Schlacht, doch zu einem hohen Preis.«
Der progressive Neoliberalismus gewann diese Schlacht, doch zu einem hohen Preis. Die verfallenden Industriezentren, besonders im sogenannten ‚Rust Belt‘, wurden aufgegeben. Diese Regionen, wie auch die jüngeren Industriezentren im Süden des Landes, wurden besonders von drei zentralen wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Clinton-Administration getroffen: dem Freihandelsabkommen NAFTA, dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation WTO und der Aufhebung der Glass-Steagall-Gesetze zur Bankenregulierung, die die Trennung von Kredit- und Investmentbanking vorgeschrieben hatten. Alle drei waren Schachzüge Bill Clintons. Zusammengenommen hatten diese und nachfolgende Entscheidungen verheerende Wirkungen für Landstriche, die vom Produktionssektor abhängig waren. Während der zwei Jahrzehnte, in denen der progressive Neoliberalismus hegemonial war, scherte sich keiner der beiden Blöcke ernsthaft um diese Gegenden. Den Neoliberalen erschien ihre Wirtschaftsform als nicht wettbewerbsfähig und fällig für eine ‚Marktkorrektur‘. Die Progressiven sahen in ihnen eine überholte und provinzielle Kultur, die die kosmopolitische Befreiung überflüssig machen würde. Auf keiner der beiden Achsen – Verteilung und Anerkennung – konnten progressive Neoliberale Gründe finden, den ‚Rust Belt‘ und die industriellen Zentren der Südstaaten zu verteidigen.
Das politische Universum, das Trump hochkant stellte, war äußerst begrenzt. Es basierte auf der Opposition zweier Versionen des Neoliberalismus, die sich hauptsächlich durch ihre Position in Anerkennungsfragen unterschieden. Es blieb die Wahl zwischen Multikulturalismus und Ethno-Nationalismus, doch Finanzialisierung und Deindustrialisierung waren hinzunehmen, so oder so. Auf der derart eingeschränkten Palette von progressiven und reaktionären Schattierungen des Neoliberalismus blieb kein Platz für Kräfte, die sich gegen die fallenden Lebensstandards in der Arbeiterinnen- und Mittelschicht hätten zur Wehr setzen können. Anti-neoliberale Projekte blieben marginalisiert oder waren ganz aus der Öffentlichkeit verbannt.
Diese Konstellation beraubte einen beträchtlichen Teil der amerikanischen Wählerschaft – jenen Teil, der Opfer von Finanzialisierung und Deindustrialisierung geworden war – einer politischen Heimat. Da keiner der beiden zentralen Blöcke für diese Menschen sprach, entstand eine Lücke im politischen Universum der USA: eine Leerstelle, in der eine anti-neoliberale Politik für arbeitende Familien hätte Wurzeln fassen können. Angesichts des zunehmenden Tempos, in dem sich Deindustrialisierung, Niedriglohnjobs und Verschuldung ausbreiteten und den Lebensstandard der unteren zwei Drittel der Bevölkerung drückten, war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand diese Lücke füllen würde.
Viele gingen 2007 und ‘08 davon aus, man habe diesen Moment erreicht. Eine Welt, die sich gerade von einem der schlimmsten außenpolitischen Desaster der US-Geschichte erholte, war plötzlich mit der heftigsten Finanzkrise seit den 1920er-Jahren und einem Beinahe-Zusammenbruch der globalen Wirtschaft konfrontiert. »Politics as usual« kam in dieser Situation nicht in Frage. Und ein Afroamerikaner, der von »Hope« und »Change« sprach, übernahm die Präsidentschaft mit dem Versprechen, nicht bloß einige Gesetze, sondern die gesamte »Mentalität« der amerikanischen Politik umzuwälzen. Selbst gegen den Widerstand des Kongresses hätte Barack Obama den Moment nutzen können, um massenhafte Unterstützung für eine Abkehr vom Neoliberalismus zu mobilisieren. Stattdessen vertraute er die Wirtschaft eben jenen Kräften der Wall Street an, die sie gerade um ein Haar zugrunde gerichtet hätten. Mit einer Rhetorik, die auf die »Erholung« der Wirtschaft und nicht auf strukturelle Reformen zentriert war, überhäufte Obama die Banken mit gigantischen Summen an Rettungsgeldern. Doch er versäumte es, ein auch nur annähernd gleichrangiges Engagement für die Opfer dieser Banken aufzubringen: den zehn Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern, die in der Krise ihr Haus an die Zwangsvollstreckung verloren hatten. Die einzige Ausnahme war die Ausweitung des Krankenversicherungssystems durch den Affordable Care Act, die echte materielle Zugewinne für einen Teil der Arbeiterinnenklasse bedeutete. Doch diese Ausnahme bestätigte letztlich die Regel. Anders als die voll- oder teilstaatlichen Modelle, die Obama bereits ausschloss, bevor die Debatte um die Krankenversicherungsgesetze überhaupt begonnen hatte, vertiefte der von ihm verfolgte Ansatz Gräben zwischen verschiedenen Segmenten der Arbeiterinnenschaft, die sich schließlich als politisch verhängnisvoll herausstellen sollten. Alles in allem war seine Präsidentschaft in erster Linie darauf bedacht, den bereits ins Schwanken gekommenen progressiv-neoliberalen Status quo aufrechtzuerhalten.
Barack Obama, Zerstörte Hoffnung (Flickr / Nathan Rupert)
Eine weitere Chance, das Hegemonievakuum zu füllen, kam 2011 in Form der Eruption von Occupy Wall Street. Entnervt vom Warten auf Abhilfe von Seiten des politischen Systems nahmen zivilgesellschaftliche Gruppen die Dinge selbst in die Hand und besetzten im Namen der »99%« öffentliche Plätze im ganzen Land. Mit ihrem Protest gegen ein System, das die Mehrheit der Bevölkerung zugunsten der Allerreichsten ausplündert, gewannen eine anfänglich kleine Gruppe junger Aktivistinnen schnell die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten – einigen Umfragen zufolge 60% der US-Bevölkerung –, insbesondere von bedrängten Gewerkschafterinnen, verschuldeten Studierenden, abgekämpften Mittelschichtsfamilien und dem wachsenden »Prekariat«.
Doch Occupys Auswirkungenblieben begrenzt und dienten in erster Linie der Wiederwahl Obamas 2012. Indem Obama sich der Rhetorik der Bewegung bediente, gewann er viele jener Wählerinnen, die 2016 Trump wählten, und siegte so gegen Mitt Romney. Doch Obamas Klassenbewusstsein verpuffte, nachdem er sich vier weitere Jahre im Amt gesichert hatte, schnell. Seine Vision von ‚Veränderung‘ beschränkte sich auf präsidentielle Verordnungen; er machte weder Anstalten, die Krisenverantwortlichen unter den Superreichen zu verfolgen, noch nutzte er seine hervorgehobene Position für eine Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Wall Street. Unter dem Eindruck, aus dem Gröbsten heraus zu sein, hielt sich die politische Klasse der USA kaum mit dem auf, was heute, im Rückblick, als erste Erschütterung vor dem Beben erscheint.
»Auf beiden Seiten warfen Außenseiter das herkömmliche Skript über den Haufen, indem sie es verstanden, das Hegemonievakuum mit neuen Symbolen zu füllen.«
Dieses Beben erreichte das Land schließlich 2015/16, als die lange unterschwellig aufgestaute Unzufriedenheit sich mit einem Mal in eine ausgewachsene Krise politischer Autorität entlud. Im Vorfeld dieser Wahl war es, als brächen beide großen Blöcke zusammen. Auf der republikanischen Seite besiegte Trump recht mühelos ein Feld von 16 teils vom Partei-Establishment handverlesenen zumeist männlichen Rivalen (wie er nicht müde wird uns zu erinnern). Auf Seiten der Demokraten präsentierte der offen als demokratischer Sozialist kandidierende Bernie Sanders eine so erstaunlich ernsthafte Herausforderung gegen die zur Nachfolgerin Obamas gesalbte Hillary Clinton, dass diese sich zuletzt aller möglichen parteitaktischen Tricks bedienen musste, um ihn auszuschalten. Auf beiden Seiten warfen Außenseiter das herkömmliche Skript über den Haufen, indem sie es verstanden, das Hegemonievakuum mit neuen Symbolen zu füllen.
Sanders und Trump einte eine scharfe Kritik der neoliberalen Verteilungspolitik, doch ihre Anerkennungspolitik hätte unterschiedlicher nicht sein können. Während Sanders die ungerechte »rigged economy« in egalitären und universalistischen Tönen skandalisierte, lieh sich Trump das Schlagwort und gab ihm einen dezidiert nationalistischen und protektionistischen Einschlag. Er griff zugleich auf das rechte Repertoire politisch unkorrekter Doppeldeutigkeiten und Tabubrüche zurück und verstärkte sie zu unmissverständlichen Ausbrüchen von Rassismus, Misogynie, Islamo-, Homo- und Transphobie, sowie der Feindseligkeit gegen Migrantinnen. Die »Arbeiterklasse«, die seine Rhetorik heraufbeschwor war weiß, heterosexuell, männlich und christlich, angesiedelt in der Minen-, Bohr-, Bau- und Schwerindustrie. Sanders dagegen wandte sich an eine breitere Arbeiterinnenschaft, bestehend nicht bloß aus den Fabrikarbeiterinnen der traditionellen Industrieregionen, sondern auch den Beschäftigten des öffentlichen und Dienstleistungssektors, inklusive Frauen, Migranten und People of Color.
Zugegeben, Kontrast zwischen beiden Vorstellungen der Arbeiterklasse war zu großen Teilen rhetorisch, denn in beiden Fällen unterschieden sich die angerufene und die reale Wählerbasis. Obwohl Trumps dünner Vorsprung letztendlich von jenen abgeschlagenen ex-industriellen Landstrichen getragen wurde, die vier Jahre zuvor Obama und in den demokratischen Vorwahlen Sanders gewählt hatten, bestand seine Wählerschaft auch aus den üblichen Verdächtigen der Republikaner: Libertäre, Geschäftseigentümerinnen und andere mit wenig Neigung für wirtschaftlichen Populismus. Umgekehrt waren die verlässlichsten Sanders-Wähler junge Amerikanerinnen mit Universitätsabschluss. Doch das ist nicht der entscheidende Punkt. Als rhetorische Projektion einer möglichen Gegenhegemonie war es Sanders expansive Sicht der Arbeiterinnenklasse, die seinen ökonomischen Populismus am deutlichsten von dem Trumps absetzte.
Beide Außenseiter entwarfen die groben Umrisse eines neuen Common Sense, doch auf ganz verschiedene Weise. In seinen stärksten Momenten enthielt Trumps Wahlkampfrhetorik den Impuls für einen neuen reaktionären Populismus, der auf einer Kombination von ultra-reaktionärer Anerkennungs- und populistischer Verteilungspolitik zu basieren schien: die Mauer an der Grenze zu Mexiko plus Infrastrukturmaßnahmen im großen Stil. Der von Sanders projizierte Block andererseits war ein progressiver Populismus. Er vertrat eine inklusive Anerkennungspolitik mit einer Verteilungspolitik im Sinne arbeitender Familien, die Reform des rassistischen Justizsystems mit einer Ausdehnung des Krankenversicherungsschutz auf alle BürgerInnen, LGBTQ-Rechte mit der Zerschlagung der Großbanken.
Doch materiell nahm weder die eine noch die andere Vision Gestalt an. Sanders’ wenig überraschende Niederlage gegen Clinton entfernte die progressiv-populistische Wahloption vom Stimmzettel. Unerwarteter für viele war das Nachspiel von Trumps Sieg. Weit davon entfernt, als reaktionärer Populist zu regieren, fügte er sich in die Tradition politischer Lockvogel-Taktiken ein und vergaß von einem Moment zum nächsten die populistischen Verteilungsforderungen, die er im Wahlkampf verkündet hatte. Zwar beendete er die Verhandlungen zum Transpazifischen Partnerschafts-Abkommen TPP. Doch bezüglich NAFTA tat Trump nichts, außer Zeit zu schinden; und er schickte sich weder an, die Wall Street in ihre Schranken zu weisen, noch großformatige Infrastrukturprogramme zu implementieren. Seine Bemühungen um den produzierenden Sektor beschränken sich auf energische Gesten und Lockerungen der Regulierung zum Kohleabbau, die beide keinerlei greifbaren Ergebnisse zeitigten. Und statt eine Steuerreform zugunsten von Arbeiterinnen- und Mittelschichtsfamilien einzubringen, übernahm Trump die republikanische Standardversion, also eine, die das Geld verlässlich in die Taschen des reichsten Prozent der Bevölkerung umverteilt (zu der auch die Trump-Familie gehört). Wie gerade letzteres Beispiel zeigt, weisen die distributiven Geschäfte des Präsidenten eine gute Dosis von Selbstbereicherung und Nepotismus auf. Doch selbst wenn Trump sich persönlich immer wieder Hayekschen Vorstellungen ökonomischer Rationalität als unwürdig erweist, stellt die Ernennung des nächsten Goldman-Sachs-Alumnus zum Finanzminister doch sicher, dass der Neoliberalismus dort in Ehren gehalten wird, wo es wirklich zählt.
Vote to Make America Great Again (Wikimedia)
Nun da die populistische Verteilungspolitik außen vor war, wandte sich Trump umso intensiver und bösartiger der reaktionären Anerkennungspolitik zu. Die Liste der Provokationen und Interventionen zur Absicherung ungerechter Statushierarchien ist lang und unerquicklich: Der Einreisestopp gegen muslimische Länder (schlecht versteckt durch die späte und zynische Ergänzung Venezuelas), die Unterminierung der Bürgerrechte von Seiten des Justizministeriums (das den Gebrauch von internen Mechanismen zu Kontrolle von Polizeibehörden gänzlich eingestellt hat) sowie des Arbeitsministeriums (das keine Überprüfung von Diskriminierung durch öffentliche Auftragnehmer mehr durchführt); die Weigerung, LGBTQ-bezogene Justizfälle zu verteidigen; die Aufhebung verpflichtender Kassenleistungen zu Verhütungsmitteln; die Einschränkung der Rechte von Frauen und Mädchen durch die Kürzung von Personal in der Durchsetzung von Antidiskriminierungsverordnungen; öffentliche Aufforderungen zum brutaleren Umgang der Polizei mit Verdächtigen; Sheriff Joe Arpaios’ Missachtung der Grundrechte; und die ‚very fine people‘, die Trump unter den amoklaufenden Nazi-Demonstranten von Charlottesville ausmachte. Das Resultat ist nicht einfach eine weitere Version ‘Republikanischen Konservatismus‘, sondern eine hyperreaktionäre Politik der Anerkennung.
Alles in allem entfernt sich die Politik des Präsidenten Trump zunehmend von den Wahlkampfversprechen des Kandidaten Trump. Nicht nur sein ökonomischer Populismus ist verdampft, auch seine Jagd auf Sündenböcke hat sich entschieden verschärft. Was seine Unterstützerinnen bekommen, ist nicht, was sie gewählt haben, nicht reaktionärer Populismus, sondern hyperreaktionärer Neoliberalismus.
»Doch Trumps hyperreaktionärer Neoliberalismus konstituiert keinen neuen hegemonialen Block. Ganz im Gegenteil erweist sich dieses Projekt als chaotisch, instabil und brüchig.«
Doch Trumps hyperreaktionärer Neoliberalismus konstituiert keinen neuen hegemonialen Block. Ganz im Gegenteil erweist sich dieses Projekt als chaotisch, instabil und brüchig. Das liegt teils an der eigenartigen psychologischen Verfassung seines obersten Bannerträgers, teils an dessen dysfunktionaler Abhängigkeit vom republikanischem Establishment, das ohne Erfolg versucht hat, seine Kontrolle wiederherzustellen und nun in Wartestellung liegt und nach einer Exit-Strategie sucht. Es ist zur Zeit nicht abzuschätzen, wie sich dieses Verhältnis entwickelt, doch auch eine Spaltung der Republikanischen Partei ist nicht auszuschließen. So oder so verspricht der hyperreaktionäre Neoliberalismus keine sichere Hegemonie.
Doch das Problem liegt tiefer. Indem Trumps hyperreaktionärer Neoliberalismus sich der wirtschaftspopulistischen Züge seiner Wahlkampfkampagne entledigt, eröffnet er die hegemoniale Lücke wieder, die er 2016 zu füllen versprach. Mit dem Unterschied, dass es heute nicht mehr möglich ist, über diese Lücke hinweg zu gehen. Nun, da die populistische Katze aus dem Sack ist, darf bezweifelt werden, dass das Arbeiterinnensegment von Trumps Basis sich lange mit (Nicht-)Anerkennung allein wird abspeisen lassen.
Auf der anderen Seite organisiert sich derweil »the resistance«, der Widerstand. Doch auch diese Opposition – bestehend aus eingeschworenen Clintonites, engagierten Sanderistas und einer Menge Leute, die für beide Richtungen zu überzeugen wären – ist brüchig. Das ganze wird zusätzlich verkompliziert durch einen Haufen neu gegründeter Gruppen, deren militante Posen die Unterstützung großer Spenderinnen gewinnen konnten, obwohl (oder weil) ihre programmatische Ausrichtung oft extrem vage bleibt.
Besonders beunruhigend ist dabei die alte Tendenz der amerikanischen Linken, »race« gegen Klasse auszuspielen. So schlagen Teile des Widerstands vor, die Demokratische Partei zum Bollwerk gegen den weißen Rassismus umzurüsten und alle Anstrengungen auf die Mobilisierung von Latinos und Schwarzen zu konzentrieren. Andere verteidigen eine klassenbasierte Strategie, die darauf abzielt, Teile jener weißen Arbeiterinnenmilieus zurückzugewinnen, die zu Trump übergelaufen sind. Beide Ansichten sind problematisch, insofern sie Klasse und ‚Rasse‘ als antithetisch oder als Nullsummenspiel begreifen. Beide Achsen der Ungleichheit müssen – und können nur – zusammen angegangen werden. Keine der beiden Ungleichheiten kann überwunden werden, während die andere floriert.
»Die Katze des Populismus ist aus dem Sack und wird sich nicht so schnell wieder davonschleichen.«
Im heutigen Kontext sind jedoch besonders solche Vorstöße riskant, die darauf abzielen, Klassenbelange hintanzustellen: Denn sie spielen dem Clinton-Flügel in die Karten, der vorhat, den Status quo ante wiederherzustellen. Dies würde in eine erneuerte Version des progressiven Neoliberalismus münden, diesmal in der Kombination neoliberaler Verteilungs- mit militant antirassistischer Anerkennungspolitik. Diese Aussicht sollte Trump-Gegnerinnen zu denken geben. Denn einerseits würde dies eine Schar potenzieller Verbündeter in die entgegengesetzte Richtung, d.h. in Trumps Arme, treiben, dessen Narrativ und Basis dadurch maßgeblich gestärkt wären. Andererseits würde ein solcher Schwenk effektiv bedeuten, mit Trump darin gemeinsame Sache zu machen, Alternativen zum Neoliberalismus klein zu halten und die hegemoniale Lücke zu erneuern. Doch gilt auch hier, was gerade über Trump gesagt wurde: Die Katze des Populismus ist aus dem Sack und wird sich nicht so schnell wieder davonschleichen. Den progressiven Neoliberalismus – in welcher Form auch immer – wieder aufzurichten, heißt nichts anderes, als die Bedingungen wiederherzustellen oder sogar weiter zu verschärfen, die Trump erschaffen haben. Und das bedeutet auch, zukünftigen, noch bösartigeren und gefährlicheren Trumps den Boden zu bereiten.
Weder ein wiederbelebter progressiver, noch der hyperreaktionäre Neoliberalismus Trumpscher Couleur haben gute Aussichten, in der näheren Zukunft politische Hegemonie zu organisieren. Die Fäden, die beide Blöcke zusammen hielten, sind dünn geworden. Und keiner der beiden ist derzeit imstande, einen neuen Common Sense zu artikulieren, d.h. ein verbindliches Bild der sozialen Wirklichkeit zu entwerfen, in dem sich ein breites Spektrum gesellschaftlicher Akteure wiederfindet. Ebenso sind sie als Spielarten des Neoliberalismus beide außerstande, die objektiven systemischen Blockaden zu überwinden, die der derzeitigen Hegemoniekrise zugrundeliegen. Denn beide sind so eng mit dem Finanzkapital liiert, dass es ihnen unmöglich ist, Finanzialisierung, Deindustrialisierung und die Globalisierung der Konzerne herauszufordern. Beide können nichts ausrichten gegen sinkende Lebensstandards, steigende Verschuldung, Klimawandel, Defizite im Sorgebereich und die wachsende Belastung des gemeinschaftlichen Lebens. Beide Machtblöcke stehen nicht bloß für eine Fortsetzung, sondern für eine Intensivierung der gegenwärtigen Krise.
»In Abwesenheit einer soliden Hegemonie sind wir mit einer instabilen Übergangszeit und einer beharrlichen politischen Krise konfrontiert.«
Was also können wir von der näheren Zukunft erwarten? In Abwesenheit einer soliden Hegemonie sind wir mit einer instabilen Übergangszeit und einer beharrlichen politischen Krise konfrontiert, die durch Antonio Gramscis Beobachtung beschrieben scheinen, dass »das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann; in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen«.
Dies würde sich nur dann ändern, wenn Mittel der Gegenhegemonie zur Verfügung stünden. Der wahrscheinlichste Anwärter hierauf ist die eine oder andere Variante des Populismus. Stellt dieser weiterhin eine Option dar, wenn nicht auf kurze, dann vielleicht auf längere Sicht? Was dafür spricht, ist, dass 2015 und ’16, mit den Unterstützerinnen von Trump und Sanders zusammengenommen, eine kritische Masse von US-Wählerinnen der neoliberalen Verteilungspolitik eine Absage erteilt hat. Die drängendste Frage ist, ob sich diese Masse zu einem gegenhegemonialen Block zusammenschweißen lässt. Damit das passiert, müssten die Arbeiterinnen in der Basis von Trump und Sanders sich gegenseitig als Verbündete begreifen – unterschiedlich situierte Opfer ein und derselben Wirtschaftsordnung, die systematisch zu ihren Ungunsten manipuliert ist und die sie gemeinsam umwälzen könnten.
Auch ohne Trump bietet der reaktionäre Populismus hierfür keine realistische Basis. Denn seine hierarchische und ausgrenzende Anerkennungspolitik sind ein »deal killer« für weite Teile der amerikanischen Arbeiterinnen- und Mittelschicht. Das betrifft insbesondere Familien, die auf Einkommen aus Dienstleistungen, Landwirtschaft, Hausarbeit und dem öffentlichen Dienst angewiesen sind, allesamt Sektoren, in denen Frauen, vor allem Einwanderinnen und nicht-Weiße in großer Zahl vertreten sind. Nur eine inklusive Anerkennungspolitik vermag diese unverzichtbaren gesellschaftlichen Kräfte mit anderen Milieus der Arbeiterinnen- und Mittelschicht zusammenzubringen, zum Beispiel jenen, deren Geschichte mit der Minen-, Industrie- oder Baubranche verbunden ist.
So ist ein progressiver Populismus der vielversprechendste Anwärter auf einen gegenhegemonialen Block. Die Verbindung von Umverteilung und nicht-hierarchischer Anerkennung verschaffen dieser Option zumindest eine gewisse Chance, die Arbeiterinnenklasse zu vereinen. Mehr noch, sie könnte diese – expansiv verstandene – Arbeiterinnenklasse an die Spitze einer Koalition stellen, die sie mit wesentlichen Teilen der Jugend, der Mittelschicht und der Expertinnen- und Führungsmilieus verbände.
Zugleich spricht vieles dagegen, dass sich die Möglichkeit einer Allianz von progressiven Populisten und Arbeiterinnen, die 2016 Trump wählten, in näherer Zukunft realisieren wird. Hürden bestehen zuvorderst in den schon lange köchelnden Abneigungen und Spaltungen, ja dem Hass, der unter dem Einfluss der Trumpschen Rhetorik ihren Siedepunkt erreichen. Wie David Brooks hellsichtig bemerkt, verfügt Trump über »eine Nase für alle offenen Wunden im Gesellschaftskörper« und scheut sich nicht, »sie mit glühenden Schürhaken weiter aufzustochern«. Das Ergebnis ist ein dermaßen vergiftetes Klima, dass sich fortschrittliche Beobachterinnen in dem Vorurteil bestätigt sehen, die Trump-Wählerschaft bestehe aus jenen rückständigen Rassisten, Homophoben und Frauenfeinden, die Hillary Clinton als beklagenswerten Haufen von »deplorables« (Anteillosen) verunglimpfte. Die Gegenseite sieht sich derweil in der Vorstellung bestärkt, Progressive seien selbstgefällige Moralapostel und Elitisten, die Geld scheffelten und dabei noch über den Rand ihres Latte Macchiato-Glases auf sie herab schauten.
Um einem progressiven Populismus in der Vereinigten Staaten Aussichten zu verschaffen, müssen beide Ansichten bekämpft werden. Wir brauchen eine Strategie der Spaltung, die zwei große Bruchlinien befördert: Erstens gilt es, unterprivilegierte Frauen, Migrantinnen und Migranten und People of Color von den individualisierten Mantras des »Lean in-Feminismus« abzuwerben, von den meritokratischen Antirassisten und Homophobie-Gegnerinnen, den Konzernvisionen von Diversity und »grünem Kapitalismus«, die die Anliegen der Unterpriviligierten an sich gerissen und mit neoliberaler Politik kompatibel gemacht haben. Dies ist das Anliegen einer kürzlich gestarteten feministischen Initiative, die darauf abzielt, den »Lean in«-Feminismus mit einem »Feminismus der 99%« zu ersetzen. Andere emanzipatorische Bewegungen sollten diese Strategie übernehmen.
Zweitens gilt es, Arbeiterinnen im »Rust Belt«, den Südstaaten und ländlichen Gebieten dazu zu bewegen, ihren gegenwärtigen krypto-neoliberalen Verbündeten die Gefolgschaft aufzukündigen. Der Trick besteht darin, sie davon zu überzeugen, dass Militarismus, Fremdenhass und Ethnonationalismus ihnen die nötigen materiellen Bedingungen für ein gutes Leben weder verschaffen wollen noch können, während ein progressiver Block eben dazu imstande wäre. Auf diese Weise können Trump-Wählerinnen, die so einer Ansprache gegenüber aufgeschlossen sind, von rassistischen Überzeugungstätern und wirklichen Rechtsradikalen getrennt werden, die zu überzeugen aussichtslos ist. Die Feststellung, dass die potenziell erreichbare Gruppe unter der Trumpschen Wählerschaft überwiegt, bedeutet nicht zu verneinen, dass sich rechtspopulistische Bewegungen einer ethnisch aufgeladenen Rhetorik bedienen und dabei auch den wirklichen Rassistinnen das Wort reden. Doch es bedeutet, die Vorstellung zu begraben, die überwältigende Mehrheit der reaktionär-populistischen Gefolgschaft sei für die Ansprache als erweiterte Arbeiterinnenklasse im Sanderschen Sinne für immer verloren. Diese Vorstellung ist nicht nur empirisch falsch, sondern auch kontraproduktiv insofern sie droht, zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden.
Um es ganz klar zu sagen: Ich schlage nicht vor, dass ein progressiv-populistischer Block zu den drängenden Probleme von Rassismus, Sexismus, Homophobie, Islamophobie und Transphobie schweigen sollte. Ganz im Gegenteil muss der Kampf gegen diese Übel Kernstück einer progressiv-populistischen Allianz sein. Doch es ist wenig hilfreich, sie – in der Art des progressiven Neoliberalismus – mit moralisierender Herablassung anzugehen. Ein solcher Ansatz basiert auf einem oberflächlichen und inadäquaten Verständnis der genannten Ungerechtigkeiten, ein Ansatz, der grob übertreibt, zu welchem Grad das Problem seinen Ursprung in den Köpfen der Leute hat, und dabei die strukturell-institutionellen Säulen aus dem Auge verliert, auf denen diese Ungerechtigkeiten sich stützen.
Dieser Punkt wird vor allem mit Bezug auf ‚Rasse‘ deutlich. Im Kern der Sache beruht rassistische Ungerechtigkeit in den Vereinigten Staaten nicht auf abwertenden Einstellungen und schlechtem Verhalten, obwohl beide selbstverständlich weit verbreitet sind. Die Krux liegt stattdessen im spezifisch ethnischen Einschlag jener Deindustrialisierung und Finanzialisierung, die die Periode progressiv-neoliberaler Hegemonie kennzeichneten; vermittelt durch eine lange Geschichte systematischer Unterdrückung: Afro- und Hispanic-Amerikanerinnen, zuvor weitgehend ausgeschlossen von Kreditleistungen, abgeschoben in segregierte Viertel mit minderwertiger Bausubstanz und zu schlecht bezahlt, um Sparvermögen anzulegen, wurden in dieser Periode systematisch von Bankvertretern heimgesucht, die ihnen zweitklassige subprime-Kredite andrehten. In der Konsequenz erlebten diese Gruppen die höchsten Raten von Zwangsvollstreckungen auf Häuser.
Zugleich ließen Fabrikschließungen und industrieller Verfall insbesondere jene von Minderheiten dominierten Nachbarschaften und Städte bluten, denen man bereits über lange Zeit systematisch öffentliche Gelder vorenthalten hatte. Da sich der Niedergang nicht nur im Verlust von Arbeitsplätzen, sondern auch von Steuereinnahmen ausdrückte, fehlte diesen Orten in der Folge das Geld für Schulen, Krankenhäuser und die grundlegende Instandhaltung der Infrastruktur. Desaster wie die Bleivergiftung des Trinkwassers in Flint, Michigan und, in anderem Kontext, die Überflutung der Lower Ninth Ward-Nachbarschaft von New Orleans zählen zu den Konsequenzen.
Zuletzt fielen schwarze Männer, die von Polizei und Strafbehörden seit eh und je diskriminierenden Urteilen, unangemessenen Haftbedingungen, Zwangsarbeit und sozial tolerierter Gewalt ausgesetzt waren, verstärkt in die Hände des »industriellen Gefängnis-Komplexes«. Am Laufen gehalten wurde dieser Komplex durch das harte Durchgreifen gegen den Besitz von Crack-Kokain im Rahmen des ‚war on drugs‘ und die überproportionale Arbeitslosigkeit unter Minderheiten, ‚Errungenschaften‘ überparteilicher Gesetzgebung, größtenteils orchestriert von Bill Clinton. Und muss erwähnt werden, dass die Ankunft eines Afroamerikaners im Weißen Haus, so inspirierend sie war, diese Entwicklungen um keinen Deut veränderte?
Wie hätte sie auch. Die gerade beschriebenen Phänomene verdeutlichen, wie tief der Rassismus in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft verankert ist – und die Unfähigkeit progressiv-neoliberalen Moralisierens, dieses Problem ernsthaft anzugehen. Die strukturellen Basen des Rassismus haben ebensoviel mit Klasse und politischer Ökonomie zu tun, wie mit Status und Anerkennung. Und die Kräfte, die die Lebenschancen von nicht-weißen Minderheiten zerstören, sind Teil desselben dynamischen Komplexes, der die Lebenschancen Weißer zerstört – auch wenn Details sich unterscheiden. Die fundamentale Einsicht ist die der unauflöslichen Verstrickung von »Rasse« und Klasse im finanzialisierten Kapitalismus der Gegenwart.
»Die fundamentale Einsicht ist die der unauflöslichen Verstrickung von ›Rasse‹ und Klasse im finanzialisierten Kapitalismus der Gegenwart.«
Ein progressiv-populistischer Block muss derartige Einsichten zu seinen Leitsternen machen. Er muss die neoliberal-progressive Betonung persönlicher Haltungen über Bord werfen und seinen Fokus auf die institutionellen Strukturen der gegenwärtigen Gesellschaft legen. Und – besonders zentral – er muss aufzeigen, dass Klassen- und Statusungerechtigkeit eine gemeinsame Wurzel im finanzialisierten Kapitalismus haben. Indem er dieses System als eine integrierte Totalität begreift, muss er die Frauen, Migranten, ethnischen Minderheiten, Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen angetanen Beschädigungen mit jenen der Arbeiterschichten verbinden, die nun ins rechtspopulistische Lager gezogen werden. Auf diese Weise kann ein solcher Block den Grundstein für eine neue Koalition aller derzeit von Trump und seinen auswärtigen Ebenbildern verratenen legen – nicht bloß den Migrantinnen, Feministinnen und Minderheiten, die seinen hyperreaktionären Neoliberalismus bereits ablehnen, sondern auch auch die weißen Arbeiterinnen, die ihn bislang unterstützen. Wenn es ihm gelingt, zentrale Teile der gesamten Arbeiterinnenklasse zu gewinnen, hat der progressive Populismus zumindest prinzipiell das Potenzial in der Zukunft ein relativ stabiler gegenhegemonialer Block zu werden.
Doch der progressive Populismus hat nicht nur den Vorzug seiner subjektiven Machbarkeit. Im Gegensatz zu seinen wahrscheinlichen Rivalen ist er zumindest prinzipiell auch imstande, die reale, objektive Seite der Krise anzugehen. Was ist damit gemeint?
Wie anfangs bemerkt, ist die hier sezierte Hegemoniekrise nur ein Strang im Gesamtgeflecht einer größeren Krise, das auch andere, ökologische, ökonomische und soziale Stränge umfasst. Die Hegemoniekrise ist die subjektive Antwort auf eine objektive Systemkrise. Beide Seiten sind untrennbar miteinander verbunden, stehen oder fallen zusammen: Keine noch so überzeugende subjektive Antwort kann eine dauerhafte Gegenhegemonie schaffen, wenn sie nicht zugleich Lösungen für die tiefer liegenden objektiven Probleme bereitstellt.
Die objektive Seite der Krise ist mehr als eine Vielzahl vereinzelter, unverbundener Funktionsfehler. Die Aspekte der Systemkrise sind miteinander verbunden und speisen sich aus ein und derselben Quelle. Der Gegenstand, der unserer allgemeinen Krise und ihren Instabilitäten zugrunde liegt, ist die gegenwärtige Form des Kapitalismus – globalisiert, neoliberal, finanzialisiert. Wie jede Form des Kapitalismus ist die gegenwärtige Form mehr als ein Wirtschaftssystem; sie ist ein institutionalisierte Gesellschaftsordnung. Als solche basiert sie auf einer Reihe nicht-wirtschaftlicher Bedingungen, die für das Funktionieren des kapitalistischen Wirtschaftens unverzichtbar sind: Unbezahlte soziale Reproduktion, zum Beispiel, sorgt für die stetige Wiederherstellung der Lohnarbeit, auf der Kapitalakkumulation beruht. Ein organisierter Apparat öffentlicher Macht (Justiz, Polizei, Instanzen der Regulierung und Steuerung) stellt die Ordnung, Berechenbarkeit und Infrastruktur andauernder Akkumulation bereit. Und eine mehr oder weniger nachhaltige Weise, den menschlichen Stoffwechsel mit der Natur zu organisieren, sichert die Zufuhr von Energie und Rohstoffen für die Warenproduktion, den Erhalt eines bewohnbaren Planeten einmal ausklammernd.
Der finanzialisierte Kapitalismus ist eine geschichtlich spezifische Weise, in der sich die kapitalistische Wirtschaft zu diesen unverzichtbaren Hintergrundbedingungen in Beziehung setzt. Diese Beziehung ist eine der Plünderung und sie ist instabil, insofern die Kapitalakkumulation von eben den politischen, ökologischen, sozialen und moralischen Begrenzungen befreit wird, die nötig sind, um die Akkumulation auf Dauer aufrechtzuerhalten. Befreit von diesen Begrenzungen beginnt die kapitalistische Wirtschaft, die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu verbrauchen. Sie ist wie ein Tiger, der seinen eigenen Schwanz verschlingt. Indem der gegenwärtige Kapitalismus das gesellschaftliche Leben mehr und mehr ökonomisiert, destabilisiert er die Formen sozialer Reproduktion, ökologischer Nachhaltigkeit und öffentlicher Macht, von denen er selbst lebt. In diesem Sinne ist der finanzialisierte Kapitalismus eine inhärent krisenhafte gesellschaftliche Formation. Und das Krisengeflecht, mit dem wir es heute zu tun haben, ist ein akuter Ausdruck dieser eingebauten Tendenz zur Selbst-Destabilisierung.
»Der Neoliberalismus, mit welchem Anstrich auch immer, ist nicht die Lösung, sondern das Problem.«
Das also ist das objektive Gesicht der Krise, der strukturelle Gegenpart zu den hier diskutierten hegemonischen Auflösungserscheinungen. Beide Pole der Krise, der subjektive wie der objektive, stehen heute in voller Blüte. Eine Lösung der objektiven Krise bedarf der grundlegenden, strukturellen Transformation des finanzialisierten Kapitalismus, einer neuen Weise, Wirtschaft und politische Rahmung zu verbinden, Produktion mit Reproduktion, die Gesellschaft mit dem nichtmenschlichen Teil der Natur. Der Neoliberalismus, mit welchem Anstrich auch immer, ist nicht die Lösung, sondern das Problem.
Die Veränderung, die wir brauchen, kann nur von anderswo herkommen, von einem Projekt das anti-neoliberal, wenn nicht antikapitalistisch ist. Solch ein Projekt kann nur dann geschichtliche Macht entfalten, wenn es von einem gegenhegemonialen Block verkörpert wird. So weit hergeholt es derzeit erscheinen mag: Ein progressiver Populismus ist die beste Aussicht auf eine subjektive wie auch objektive Lösung. Doch selbst das mag sich als bloße Übergangsphase zu einer ganz neuen, post-kapitalischen Gesellschaftsform herausstellen.
So groß unsere Unsicherheit auch sein mag, eines ist gewiß: Verpassen wir es heute, diese Option zu verfolgen, verlängern wir das gegenwärtige Interregnum. Und das bedeutet, arbeitende Menschen jeglicher politischer Haltung und Hautfarbe dem Schicksal von Stress und gesundheitlichem Verfall, steigenden Schulden und Überarbeitung, Klassen-Apartheid und sozialer Unsicherheit zu überlassen. Es bedeutet, die Krankheitserscheinungen des Ressentiments und der Suche nach Sündenböcken ebenso gewähren zu lassen, wie das periodische Hin-und-her von Gewaltausbrüchen und Repressionen, das Ausfahren der Ellenbögen, das Verschwinden der Solidarität. Wollen wir all das verhindern, gilt es ebenso endgültig mit dem neoliberalen Wirtschaften zu brechen, wie mit den politischen Anerkennungsformeln, die dieses Wirtschaften zuletzt begleiteten; nicht bloß den ethno-nationalistischen Ausschluss über Bord zu werfen, sondern ebenso den liberal-meritokratischen Individualismus. Nur durch die Verbindung einer robusten, auf Gleichheit gepolten Verteilungspolitik mit einer substanziell einschließenden, für Klassenfragen sensibilisierten Anerkennungspolitik können wir den hegemonialen Block zusammensetzen, der uns aus der heutigen Krise hinaus- und einer besseren Welt entgegen führt.
Der Text erschien zuerst in American Affairs (1. Jahrgang, Heft 4, Winter 2017).