16. November 2020
Der Herbst 1989 war eine Zeit des demokratischen Aufbruchs. Dass auch kritische SED-Mitglieder und Intellektuelle eine Demokratisierung und Erneuerung der DDR forderten, weiß heute kaum noch jemand. Höchste Zeit für einen Rückblick.
Bleiglasfenster des sozialistischen Künstlers Walter Womacka an der Humboldt-Universität.
In Politik und Gesellschaft reicht es nicht aus, nur das Richtige zu wollen, man muss auch die Kraft haben, es durchzusetzen. Das können Linke aus der eigenen Geschichte lernen.
Zwischen den Jahren 1987 und 1990 gab es an der Berliner Humboldt-Universität ein Forschungsvorhaben mit praktischer Wirkung, das von einer Gruppe überwiegend junger Sozialwissenschaftler vorangetrieben wurde. Sie waren damals zwischen 20 und 35 Jahre alt. Ich war Mitglied dieser Gruppe. Das Projekt ist im Herbst 1989 als »Sozialismusprojekt« an der Humboldt-Universität bekannt gewesen, aber mittlerweile in Vergessenheit geraten.
Das gesellschaftliche Erinnern ist bekanntermaßen ein kulturell-politischer Prozess, der durch Machtverhältnisse reguliert wird. Bezogen auf die »friedliche Revolution«, wie die Ereignisse des Machtumbruchs in der DDR allgemein genannt werden, wird die Erinnerung seit nunmehr drei Jahrzehnten durch die hegemoniale Öffentlichkeit und die Feierrituale des deutschen Staates bestimmt. Und dabei ist einiges aus dem Blick geraten.
Ich habe vor kurzem eine Leipzigerin, die 1989 26 Jahre alt war, gefragt, wer die »Leipziger Sechs« waren. Das war eine Gruppe, die am eigentlichen Beginn der friedlichen Revolution, dem 9. Oktober 1989, den Staat wie auch die Demonstrierenden über den örtlichen Rundfunk zur Gewaltfreiheit aufgerufen hatten. »Na, das war Kurt Masur«, war ihre Antwort. Und nach kurzem Nachdenken fügte sie noch hinzu: »Ein Kabarettist, Bernd-Lutz Lange, und ein Pfarrer, Peter Zimmermann, waren auch dabei«. Die anderen drei waren aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie alle waren Sekretäre der Bezirksleitung der SED. Sie agierten gegen die Absicht ihres Parteichefs Honecker, der dafür gesorgt hatte, dass Armeeeinheiten, Polizei und Kampfgruppen für eine gewaltsame Auseinandersetzung mit den Demonstrierenden zusammengezogen worden waren. Der Nachfolger Honeckers, Egon Krenz, verzichtete schließlich auf den Einsatz der Gewalt, wohl weil zu viele Leipzigerinnen und Leipziger auf den Ring um die Innenstadt zogen. Aber sicher hatte auch das Auftreten der drei leitenden Leipziger SED-Funktionäre seine Rolle gespielt, hatte es doch einen Riss im SED-Machtapparat gezeigt.
Dass das kritische Auftreten der SED-Mitglieder im Herbst 1989 vergessen wird, ist kein Zufall, sondern Ergebnis der Erinnerungspolitik, der inszenierten Gedenkritualen im vereinigten Deutschland. Wenn man aber verstehen will, was damals passierte, muss man das gesamte Tableau der Akteure der Herbstrevolution in den Blick nehmen.
Die »friedliche Revolution« war möglich geworden, weil die Diktatur der SED zu bröckeln begann. Die Versprechen der Parteiführung wurden Ende der 1980er Jahre von vielen Bürgern nicht mehr geglaubt. Die in der Gesellschaft mehrheitlich unterstützten wirtschaftlichen und sozialen Ziele erschienen in Gefahr. Der westliche Konsumkapitalismus überzeugte mehr als die soziale Absicherung der DDR-Politik. Die staatlichen Reisebeschränkungen wurden von einer großen Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern abgelehnt. Die Anzahl der eingereichten Ausreiseanträge sowie die ab Mai 1989 einsetzende große Fluchtbewegung belegt das eindringlich.
Die Demonstrationen in Leipzig wurden anfangs durch zwei unterschiedliche Gruppen geprägt: diejenigen, die endlich raus wollten, sowie diejenigen, die bleiben und den Staat zum Besseren wenden wollten. Es gab im Herbst der DDR kleine, aber sehr aktive Bürgerrechtsgruppen, wie das im September gegründete Neue Forum um die Malerin Bärbel Bohley oder die Gruppe »Demokratie Jetzt« um den Theologen Wolfgang Ullmann oder die Sozialdemokraten. Viele dieser Oppositionellen waren aus der unabhängigen DDR-Friedensbewegung wie dem Pankower Friedenskreis hervorgegangen.
Das alles wäre aber wahrscheinlich nicht ausreichend gewesen, um den Panzer der Macht zu durchbrechen. Widerstand musste auch aus dem Innern der Festung kommen. Im Herbst 1989 schwoll die vereinzelt geäußerte Kritik von SED-Parteimitgliedern zu einem Sturm an. Künstler, Wissenschaftler und Arbeiter, Menschen aus allen Berufsgruppen hatten genug von ihrer Führung. Es war eine Minderheit, aber sie äußerte sich deutlich, trat aus ihrer selbstgewählten Isolation heraus und bahnte sich den Weg in eine unabhängige Öffentlichkeit. Der Berliner Schriftstellerverband, Rockmusiker, wie auch Wissenschaftler der Humboldt-Universität äußerten harsche Kritik an der Politik der SED-Führung außerhalb des Schutzes ihrer Parteiorganisationen. Bis Ende November entwickelte sich daraus eine Basisbewegung in der SED, welche die Abdankung der Führung und einen Sonderparteitag der SED im Dezember erzwang.
Die vier genannten Gruppen waren die wichtigen Akteure der Herbstrevolution. In der deutsch-bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wird aber der Beitrag der Letzteren immer wieder ausgeklammert. Außerdem wurden die Ziele der Kritiker der SED-Politik umgebogen, jedes Jahr ein Stückchen weiter, bis die heutige vorherrschende Vorstellung schließlich alle anderen Erinnerungen verdrängt hatte. Vom Herbst 1989 werden heute mehrheitlich nicht der 9. Oktober in Leipzig, nicht die große Demonstration am 4. November in Berlin, sondern nur der Mauerfall, erinnert. Von den damaligen Zielen übertönt im inszenierten Gedächtnis der Ruf nach der deutschen Einheit alles andere: »Wir sind ein Volk!« und »Kommt die DM nicht hierher, gehen wir zu ihr!«
Das Sozialismusprojekt an der Humboldt-Universität zielte auf einen umfassenden Wandel des eigenen Gesellschaftsmodells, eine Modernisierung des sowjetischen Sozialismus, eine Überwindung seiner historisch verwurzelten Deformationen. Dabei war den Wissenschaftlern bewusst, dass sich nicht nur der Staatssozialismus – also jene Staaten, die mit der russischen Revolution 1917 und nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg 1945 als weltweites Bündnissystem um die Sowjetunion entstanden waren – grundlegend verändern muss. Selbiges galt auch für den Konkurrenten, die kapitalistische Welt. Man war überzeugt, dass eine sozial und ökologisch gerechte Ordnung nur durch einen Wandlungsprozess der ganzen Menschheit entstehen könne. Sie sprachen von einer »Globalisierung der Reproduktionsbedingungen der Menschheit«, die schon damals in der Krise steckten. Ohne hier den gesamten Text des Sozialismusprojektes referieren zu können, will ich auf einige der damit verbundenen programmatischen Ziele verweisen, um die Aktualität des Programms zu verdeutlichen.
Die Krise konnte aus unserer Sicht nur durch Veränderungen auf folgenden Gebieten überwunden werden:
- Die Ziele, mit denen die Staaten Sicherheitspolitik betrieben, sollten grundlegend verändert werden. Anstatt sich gegeneinander abzusichern, sollte ein globales System gemeinsamer Sicherheit entstehen.
- Es wurde eine ökologische Reorganisation der gesamten Technik-, Wirtschafts- und Konsumentwicklung gefordert.
- Die Überwindung der Armut in der »dritten Welt« sollte durch ein demokratisches Weltwirtschaftssystem erreicht werden. Dabei galt es die traditionellen Wirtschaftsweisen jener Gesellschaften nicht durch Weltmarktdominanz zu zerstören, sondern zu integrieren.
- Durch ein neues Wirtschaftssystem sollte der Produktivitätsgewinn nicht durch die Ersetzung, sondern die Qualifikation menschlicher Arbeit geschaffen werden.
- Angestrebt wurde außerdem ein gesellschaftlicher Fortschritt, der nicht auf eine quantitative Ausweitung der Masse von Konsumgütern und den Konsum vorgefertigter Lebensprozesse zielt, sondern auf die Entwicklung von Individualität, Kollektivität und Solidarität. Weg von der »Produktion des sachlichen Reichtums als Selbstzweck« (Marx), hin zu gemeinsamer Gestaltung der Technik- und Wirtschaftsentwicklung als Mittel der sozial-progressiven Entwicklung aller Subjekte.
Die damalige Sprache wirkt aus heutiger Sicht ein wenig eingezwängt in die Begrifflichkeit des marxschen Denkens, aber die vorgeschlagenen Ziele sind durchaus heutig. Es fehlt darin eigentlich nur das Bewusstsein der globalen Klimakrise. Dieses Problem stand damals noch nicht im Zentrum des kritischen Denkens.
Was den Entwicklungsbedarf der eigenen Gesellschaft und des sowjetischen Sozialismus betrifft, so wurden hierfür die folgenden Prozesse als wichtig erachtet: Die Modernisierung der Gesellschaft erfordere eine Überwindung des bürokratisierten Leitungssystems der Wirtschaft. Es müsse zudem der Übergang zu einer Pluralität von Eigentumsformen vollzogen werden. Die umfassende Verstaatlichung sollte dadurch zu solidarischem Besitz aller Eigentümer gewandelt werden. In dieser Hinsicht müssten kooperative, staatliche, kommunale, aber auch private Eigentümer zusammenwirken. Im Kern ging es um den Abbau der übermäßigen Zentralisierung der politischen Macht. An deren Stelle sollte eine Politik treten, die durch öffentlichen politischen Widerstreit und ein öffentliches wissenschaftliches Leben, sowie vor allem durch eine offene Austragung von Interessenswidersprüchen und eine breite Diskussion über Alternativen getragen werden würde. Durch diese andere Politik sollte der Sozialismus grundlegend erneuert werden. Der alte Typus des Politikers, dessen Handeln auf dem exzessiven Einsatz von administrativen Zwangsmitteln beruhte, sollte durch eine aktivere politische Gesellschaft überwunden werden, wobei diese wiederum den staatlichen Zwangsapparat begrenzen und kontrollieren sollte. So der Stand der Debatte im Sozialismusprojekt Ende 1988.
Im Sommer und Herbst 1989 wurden weitere Texte erarbeitet und Vorschläge in eine breitere Öffentlichkeit gebracht, die auf eine andere Politik in der DDR zielten, auf eine andere Wirtschaft und auch eine umfassende Verbreiterung der öffentlichen Debatten über staatliche Politik, und letztlich auch auf die Entwicklung eines Rechtsstaates. Daneben wurden Sofortmaßnahmen gefordert wie die Anerkennung des Bedürfnisses nach privaten Auslandsreisen oder die staatliche Anerkennung der durch Vertreter der Bürgerbewegungen gebildeten neuen politischen Gruppierungen, sowie die Aufhebung der Zensur in den Medien.
Die Papiere des Sozialismusprojekts an der Humboldt-Universität stärkten das Selbstbewusstsein der kritischen SED-Mitgliedschaft, unterstützten ihre Forderung nach einer Neubestimmung der Funktion der SED innerhalb des Staates DDR, einschließlich der Forderung nach Parlamentswahlen. Die Vorschläge waren vor allem darauf gerichtet, eine interne Demokratisierung der eigenen Partei zu ermöglichen, deren starre und zentralistische Strukturen als Haupthemmnis einer Demokratisierung der DDR angesehen wurden. Umfangreich wurde ausgehend von Reformversuchen in anderen Ländern des sowjetischen Sozialismus die überfällige Reform der staatlichen Wirtschaft in Grundzügen skizziert. Sie wurden schließlich Teil des Erneuerungsprozesses der SED, aus dem die PDS und schließlich die Partei DIE LINKE hervorgingen.
Ungeachtet dessen, dass die notwendigen politischen Veränderungen richtig erfasst worden waren, scheiterte das Projekt eines modernen Sozialismus damals. Die Bemühungen um einen erneuerten Sozialismus und eine Zusammenführung der Reformbestrebungen der unterschiedlichen Systeme, so wie es auch die sowjetische Reformpolitik unter Gorbatschow anstrebte, wurden nicht fruchtbar. Wichtiger als die Erinnerung an jene vergessenen Texte und Interventionen von kritischen Gruppen innerhalb der SED, die im hegemonialen Diskurs unsichtbar bleiben obwohl die Zahl der Beteiligten nicht gering war, ist das Nachdenken darüber, warum die Texte des Projekts so wenig nachhaltige Wirkung hinterlassen haben. Schlimmer noch: An Stelle eines erneuerten Sozialismus in der DDR trat die Stärkung der Macht konservativer Politik in ganz Deutschland. Soziale Fortschritte, die in der DDR trotz der Deformation des politischen und wirtschaftlichen Systems erreicht worden waren, wurden rückgängig gemacht. Selbiges gilt für ganz Osteuropa. Die Beseitigung der Diktaturen jener kommunistischen Staatsparteien führte in eine stärkere Abhängigkeit Osteuropas von westlichen Hauptmächten.
Tragen diejenigen, die damals von einer demokratischen, ökologischen und sozial gerechteren Gesellschaft träumten und dafür kämpften, die Verantwortung für diese neoliberale Transformation? So wurde es mir einmal in einem Gespräch von einem englischen Linken vorgeworfen. Nein, ich denke, es war nicht falsch, sich der überlebten Politik der stalinistischen Parteiführungen entgegenzustellen. Der Widerstand mag zu spät begonnen haben, aber die Richtung stimmte. Welche Lehren lassen sich aus dem Scheitern der kritischen SED-Mitglieder für die heutigen Auseinandersetzungen um eine solidarische Wende ziehen?
Ich will versuchen diese Frage auf Grundlage meiner Einsichten als Politikwissenschaftler, der sich mit dem neuzeitlichen Osteuropa intensiv beschäftigt hat, zu beantworten: Richtige Ziele in der Politik zu formulieren, ist ein erster Schritt, reicht aber bei weitem nicht aus. Einsichten setzten sich nicht von selbst durch. Sie benötigen eine bestimmte Handlungsmacht, über deren Entstehen wir ebenso intensiv miteinander reden müssen, wie über die richtigen Ziele.
Die Sozialismusgruppe an der Humboldt-Universität hatte damals Einfluss auf Teile der SED-Mitgliedschaft und solange die Macht der SED existierte, war das auch wichtig. Unsere Bemühungen um eine Kooperation mit anderen politischen Kräften im Land waren hingegen nicht erfolgreich. Um diese Beziehungen zu anderen Gruppen aufbauen zu können, ist es erforderlich, deren Programm und deren Erfahrungen ernst zu nehmen. Wir haben jene Bürgerbewegungen zwar nicht ignoriert, aber es gab aufgrund der Selbstisolation, die einem gewissen Avantgardeglauben geschuldet war, in den vorangegangenen Jahren auf der anderen Seite Misstrauen und Distanz der Gruppe gegenüber. Es wurde zu wenig und zu spät versucht, diesen Graben zu überwinden. Wobei einige, wie der Ökonom Rainer Land, sich eher als die übrigen bewegt haben. Ein solches hinderliches Avantgardebewusstsein lebte in allen revolutionären Marxisten verschiedener Generationen, angefangen bei Marx und natürlich den russischen Bolschewiki um Lenin. Diese Überheblichkeit, die aus der Überzeugung von der eigenen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit erwuchs, war hinderlich, wenn man den anderen auf Augenhöhe begegnen wollte. Und das wäre nötig gewesen.
Was darüber hinaus fehlte, war eine genauere Analyse dessen, was die Mehrheit der Bevölkerung in ihrem Alltag bewegte. Wie wäre es möglich gewesen, trotz der Anziehungskraft, die die westdeutsche Konsumgesellschaft innerhalb einer Mangelgesellschaft gewissermaßen natürlicherweise ausstrahlte, ein konsumkritisches Umdenken der Bevölkerung zu bewirken, und die ökologische Balance der Gesellschaft und jedes einzelnen in den Mittelpunkt zu rücken? War das damals überhaupt möglich? Wie hätte man die Lebensrealität und die Erfahrungen der Bevölkerung mit dem grundsätzlichen Änderungsbedarf im Konsumverhalten zusammenbringen können?
Der Schaden, den die westdeutsche Transformationspolitik in der DDR-Wirtschaft und damit auch im Leben der Ostdeutschen anrichtete, begann mit der Währungsunion im Juli 1990, der sofortigen Einführung der DM als einziges Zahlungsmittel. Das war zwar von der Bevölkerung mehrheitlich ersehnt und erstritten worden, aber es war eine falsche Politik, die vielen DDR-Betrieben den Todesstoß versetzte. Und es degradierte Revolutionäre, die ihr Schicksal frei bestimmten, zu abhängigen Empfängern von Transferleistungen. Über die Widersprüchlichkeit der Interessen in der Bevölkerung war sich die Sozialismusgruppe allgemein bewusst, wie man damit praktisch umgehen kann, lernte man erst später in der praktischen demokratischen Politik. Radikale Politik muss die »normalen« Bürgerinnen und Bürger im Blick haben.
Ebenso vernachlässigten wir es, internationale Bündnisse zu schließen. Natürlich laborierten wir auch an den Folgen der sektiererischen internationalen Politik der kommunistischen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten, in welcher die programmatische Reinheit der eigenen Position über alles geschätzt wurde, auch zu Lasten breiter Koalitionen. Wir wollten uns davon befreien, aber uns fehlten damals die organisatorische Kraft und die institutionelle Fantasie. Globale Politik hätte globale Bündnisse mit ganz unterschiedlichen Akteuren erfordert. Aber selbst in Deutschland gelang uns ein breites Ost-West-Bündnis nicht, wobei die Abschottung der SPD gegenüber der SED-Mitgliedschaft und der PDS eher ihr Versäumnis ist als unseres. Die westdeutschen Grünen, die in der Umweltpolitik ähnliche Positionen wie wir vertraten, standen mehrheitlich mit dem Rücken zum Osten. Und den Sozialismus als Ziel hatte die Mehrheit von ihnen lange aufgegeben. Sie verstanden die Chancen und Gefahren der bevorstehenden neoliberalen Transformation des Ostens nicht. Und wir verstanden es nicht, sie zu einem Umdenken zu bewegen.
Ein trauriges Erbe von 1989 ist der Verlust der Utopien. Mit dem Ende des sowjetischen Sozialismus propagierten die zeitweiligen Sieger ein Ende der Ideologien und der Geschichte. Auf die bewegende Kraft von Utopien kann aber nur verzichten, wer zufrieden ist mit dem Gegebenen und seiner eigenen Macht. Nur die Etablierten benötigen keine Alternativen. Wenn die Gegenwart durch eine tiefe Krise gekennzeichnet ist, sind mitreißende Zukunftsvorstellungen unerlässlich. Die klassische Sozialdemokratie von Bebel und Luxemburg war anziehend, weil sie das Versprechen auf ein grundsätzlich anderes Leben nie zugunsten der Tagesziele aufgab. Genauso war es auch bei den freiheitlichen Sozialisten, den Anarchisten. Utopien motivieren zu veränderndem Handeln. Sie lassen sich allerdings weder verordnen noch herbeireden. Utopien müssen aus den Konflikten der Gegenwart selbst erwachsen. Und es gibt sie nur in der Mehrzahl, nicht als die eine, immer richtige Weltsicht.
Veränderung erwächst aus der alltäglichen Not der Vielen. Sie wird von Protesten, von sozialen Initiativen, von der wissenschaftlichen Analyse der gegebenen Konflikte vorangetrieben. Parteien sind nötig, solange sich in Demokratien die Macht nicht nur in den Händen von abgehobenen Eliten befindet. Mut zum Handeln und zur Umkehr hingegen muss von unten, in jedem Einzelnen, wachsen.
Manchmal hilft es auch, sich zu erinnern, an Momente, in denen eine Wende möglich wurde. Wie vor 31 Jahren, im Herbst 1989 in der DDR und in Osteuropa, als ein wissenschaftliches Projekt sich die Aufgabe gestellt hatte, die dringend erforderlichen Veränderungen zu unterstützen. Wir waren nicht zu früh gekommen, wir hatten nur nicht ausreichend Handlungsmacht. Das ist das Mindeste, was von unserem Kampf und dem der anderen zu lernen ist.