06. August 2024
Aus den Protesten in Bangladesch gegen eine Quotenregelung bei der Jobvergabe ist eine Massenbewegung gegen Ungleichheit geworden. Die Regierung reagierte darauf mit Gewalt und Schießbefehlen. Jetzt fordern die Demonstrierenden Gerechtigkeit für die Opfer.
Die Studierenden von Bangladesch protestieren gegen den Machtmissbrauch der amtierenden Regierung, Dhaka, 04. August 2024.
In den vergangenen Wochen hat sich in Bangladesch eine große Protestbewegung gegen die Regierung von Sheikh Hasina entwickelt. Zunächst hatten Studierende gegen ein Quotensystem demonstriert, mit dem der Zugang zu Jobs im öffentlichen Dienst eingeschränkt wird. Die Behörden reagierten hart; mindestens 300 Menschen wurden getötet. Tausende weitere befinden sich nach wie vor in Gewahrsam. Inzwischen ist Premierministerin Hasina aus dem Land geflohen.
Im Gespräch mit JACOBIN spricht die bangladeschische Aktivistin Lydia Silva über die Ursprünge und Hintergründe der Proteste, ihre potenziellen Auswirkungen auf die Politik des Landes sowie den Zustand der Linken in Bangladesch.
Wie kam es zu den Massenprotesten gegen die Regierung von Sheikh Hasina? Und wie hat die Regierung reagiert?
Die Proteste gingen los, nachdem der Oberste Gerichtshof von Bangladesch eine Quote für rechtmäßig befand, mit der 30 Prozent der Arbeitsplätze in der Regierung für Freiheitskämpfer aus dem Unabhängigkeitskrieg und deren Nachkommen vorbehalten werden. Mit dieser jüngsten Entscheidung wurde eine Reform des Quotensystems rückgängig gemacht, die das Volk 2018 erkämpft hatte.
Das erste derartige Quotensystem war 1972 von Mujibur Rahman, dem wichtigsten Führer der Unabhängigkeitsbewegung, eingeführt worden. Damit wurden diejenigen geehrt und belohnt, die im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten. Allerdings herrschte von Anfang an Unzufriedenheit mit dieser Regelung, sodass es immer wieder Proteste und Bewegungen gegen das Quotensystem gab. So kam es beispielsweise schon 2008 und 2013 zu Großprotesten, die allerdings erfolglos blieben.
»Das bedeutete, dass Studierende aus der Arbeiterklasse trotz guter Noten aufgrund der Quotenregelung vermutlich keine derartigen Jobs bekommen konnten.«
2018 sollte es dann Quoten für insgesamt 56 Prozent der zu vergebenden Stellen geben. Es wurden neue Kategorien hinzugefügt: weiterhin 30 Prozent für die Nachkommen der Freiheitskämpfer, aber auch zehn Prozent für Frauen, fünf Prozent für ethnische Minderheiten, zehn Prozent für Menschen aus gewissen Regionen des Landes sowie ein Prozent für Menschen mit Behinderung. Somit wurden nur noch 44 Prozent der beliebten Stellen nach Leistung vergeben. Das bedeutete beispielsweise, dass Studentinnen und Studenten aus der Arbeiterklasse trotz guter Noten aufgrund der Quotenregelung vermutlich keine derartigen Jobs und bessere Zukunftschancen bekommen konnten.
Die Studierenden führten damals eine massive Anti-Quoten-Bewegung an und gewannen große öffentliche Unterstützung dafür. Letztlich konnten sie die Regierung tatsächlich erfolgreich zwingen, die Quoten für staatliche Stellen zu reduzieren. Es gab aber weiterhin Probleme mit der gerechten Umsetzung des reformierten Systems.
Im Juni 2024 hat der Oberste Gerichtshof nun die Reformen von 2018 rückgängig gemacht. Dadurch erhielt auch die Studierendenbewegung gegen die Quoten neuen Aufschwung. Zunächst beschränkte sich die Bewegung auf die öffentlichen Universitäten. Die Regierung von Sheikh Hasina reagierte mit Gewalt und weigerte sich, mit den Studentenführern in den Dialog zu treten. Dies hätte dem Land die Gräueltaten der letzten Wochen sicherlich erspart. Stattdessen wartete die Regierung schweigend auf das endgültige Gerichtsurteil und ignorierte die Bewegung auf dem Campus.
Darüber hinaus verärgerte Hasina die Protestierenden weiter, indem sie im nationalen Fernsehen fragte: »Wenn die Enkel der Freiheitskämpfer keine Quotenvorteile mehr bekommen sollen, sollen dann etwa die Enkel der Razakars solche Vorteile bekommen?« Razakar ist ein abwertender Begriff, der sich auf Personen bezieht, die die Repression gegen bangladeschische Freiheitskämpfer durch die pakistanische Armee während des Krieges von 1971 mitgetragen und befürwortet haben. Für die Studierenden musste das natürlich so klingen, dass Hasina die gesamte Bewegung als »Verräter« bezeichnet, als Feinde des Landes. Sie antworteten mit dem Slogan: »Ami ke? Tumi ke? Razakar! Razakar! Ke bolechhe? Ke bolechhe? Shwoirachar! Shwoirachar!« (»Wer bin ich? Wer bist du? Razakar! Razakar! Wer sagt das? Wer sagt das? Die Diktatorin! Die Diktatorin!«).
Meiner Meinung nach hätte die Bewegung mehr auf strategisch-politische Slogans setzen können, die uns von den Verrätern von 1971 klar distanzieren und weniger ambivalenten Raum für Kritik lassen. Die regierungsfreundlichen Kräfte haben dies jedenfalls als Waffe eingesetzt, um die Forderungen der Bewegung zu diskreditieren.
Die Chhatra League, der Studentenflügel von Hasinas Partei Awami League, hat eine lange Geschichte von Angriffen auf Kritiker und Bewegungen. Sie erhielt von einem amtierenden Minister der Awami League im Staatsfernsehen grünes Licht, »die Demonstranten zum Schweigen zu bringen«. In Videos auf Social Media lässt sich sehen, wie tatsächlich Studierende erschossen werden. Derselbe Minister bestritt sogar noch, dass solche Morde stattgefunden hätten.
Ob die Morde von der Chhatra League begangen wurden oder von anderen Gruppen, die solche Provokationen in Zeiten der Verzweiflung ausnutzen, ist noch nicht geklärt. Wir wissen bisher nur, dass es schrecklich viele Tote und Verletzte gibt, nachdem die Proteste schnell eskalierten und sich über das ganze Land ausbreiteten. Opfer sind dabei nicht nur Studierende, sondern auch zahlreiche andere Zivilisten. Die Regierung versuchte zunächst, die Proteste zu unterdrücken, indem sie alle Bildungseinrichtungen schloss und festgenommene Demonstrierende folterte. Militär und Grenzschutz wurden eingesetzt, eine landesweite Ausgangssperre inklusive Schießbefehl verhängt und die Internet- und Telefonverbindungen im ganzen Land gekappt. Inzwischen sprechen selbst Regierungsstellen von mehr als 200 getöteten sowie tausenden verletzten Personen.
Was ist das Besondere an den aktuellen Protesten gegen das Quotensystem? Und wie würdest Du die politische Zusammensetzung der breiten Oppositionsbewegung gegen Hasina beschreiben?
Dieses Mal sind die Proteste mehr als nur Kritik an den Quoten. Sie zeigen die seit langem bestehende Frustration der Jugend und anderer Menschen aus der Arbeiterklasse gegenüber der Regierung. Unsere Wahlen werden immer unfairer und die Regierung wird immer autokratischer.
Jedes Jahr bleiben Zehntausende von Hochschulabsolventen arbeitslos; nicht wenige hoffen, einen sicheren und relativ gut bezahlten Job im öffentlichen Dienst zu bekommen. Derweil ist die Korruption in allen denkbaren Bereichen der Regierungsführung weit verbreitet. Darüber hinaus gibt es in Bangladesch weitere wirtschaftliche Missstände wie die steigende Inflation und die hohen Lebenshaltungskosten, schlechtes Wirtschaften seitens der Regierung sowie Menschenrechtsverletzungen.
»Was 2018 noch eine Bewegung war, die eine faire Chance auf gute, staatliche Arbeitsplätze ohne Diskriminierung forderte, hat sich zu einer breiteren Mobilisierung entwickelt, die Wut kanalisiert.«
Dies alles sind Faktoren, die zu den aktuellen Großprotesten beigetragen haben. In den letzten Jahren wurden zwar einige neue Entwicklungsprojekte wie die Padma-Brücke, der Karnaphuli-Tunnel und die Dhaka Metro Rail in Angriff genommen, aber es muss noch mehr getan werden, um die große Mehrheit zu befrieden und die alltägliche Ausbeutung der unteren Bevölkerungsschichten auszugleichen. Es ist ein Kampf darum, zumindest den Lebensstandard zu halten. Was 2018 noch eine Bewegung war, die eine faire Chance auf gute, staatliche Arbeitsplätze ohne Diskriminierung forderte, hat sich zu einer breiteren Mobilisierung entwickelt, die auf diverse systemische Probleme hinweist und Wut kanalisiert.
Seit der Unabhängigkeit Bangladeschs sind die Jugend- und Studentenbewegungen stets das Rückgrat des Massenkampfes gegen die herrschenden Regierungen gewesen. Aktuell unterstützt ein breit gefächertes Bündnis aus Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter auch linke und progressive Gruppen, die Studentenschaft. Die Studentenführer haben von Anfang an klargestellt, dass Studierende bei der Teilnahme an Aktionen der Bewegung Vorrang haben sollten, unabhängig davon, welchem politischen Spektrum sie angehören. Die Protestierenden werden traditionell dazu angehalten, ihre politischen Differenzen in einer solchen breiten Bewegung zurückzustellen.
Doch die wichtigsten Oppositionsparteien und ihre studentischen Flügel – die rechtsgerichtete Bangladesh Nationalist Party (BNP) und die islamistische Jamaat-e-Islami (wegen ihres studentischen Flügels Islami Chhatra Shibir auch als »Jamaat-Shibir« bekannt) – instrumentalisieren die Studentenbewegung. Sie hoffen, von der politischen Instabilität zu profitieren, um ihre eigene Agenda gegen die Awami League durchzusetzen.
Ganz generell lässt sich sagen: Die Politik der BNP war für die Arbeiterklasse noch nie sonderlich positiv. Auch ihr Jugendflügel hat sich nicht um die Bedürfnisse der jungen Menschen mit Blick auf Arbeitslosigkeit und Bildungsreformen gekümmert. Die BNP konzentriert sich auf die Unterstützung großer Infrastrukturprojekte, schert sich aber kaum um die wirtschaftliche Entwicklung an der Basis. Als sie selbst an der Macht war, waren Korruption und Instabilität die Hauptmerkmale der Regierungszeit.
Die Jamaat-Shibir versucht ihrerseits, eine fundamentalistische islamische Politik durchzusetzen. So haben frühere Minister Frauen mit Konsumartikeln verglichen und das Recht von Frauen auf Arbeit in Frage gestellt, wenn diese keine Burka tragen. Ihre Gründer waren die eigentlichen Razakars, die sich gegen den bangladeschischen Unabhängigkeitskampf stellten – und während des Krieges viele Verbrechen begingen. Die rechte BNP hat in der Vergangenheit die fundamentalistische Jamaat-Shibir als Verbündete akzeptiert und sogar einige Kriegsverbrecher zu Ministern ernannt.
Jamaat-Shibir ist es leider auch gelungen, die Protestbewegung zu infiltrieren, um absolut verantwortungslos bewaffnete Angriffe auf staatliche Einrichtungen und Angestellte zu verüben. Das hat zu weiteren Missverständnissen und Spannungen zwischen der Regierung und den protestierenden Studierenden geführt. Ich selbst habe 2013 noch als Schülerin an den Massenprotesten teilgenommen, bei denen Prozesse gegen Abdul Quader Molla und andere nicht verfolgte Kriegsverbrecher aus der Jamaat-Shibir gefordert wurden. Bei diesen Protesten wurde ich Zeuge der Gewalt, die Jamaat-Shibir-Anhänger bei ihren Gegenmobilisierungen anrichten.
Wie steht es um die Linke in Bangladesch? Welche Rolle spielen linksgerichtete und sozialistische Gruppen in der politischen Opposition sowie in der Studierendenbewegung?
Leider hat die bangladeschische Linke in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Das lag einerseits an ideologischen Spaltungen und andererseits daran, dass einzelne Gruppen ein Bündnis mit der Regierungspartei eingegangen sind. Die beiden größten linken Parteien – die Arbeiterpartei und die Jatiya Samajtantrik Dal (JASAD) – kooperieren mit der regierenden Awami League. Dies hat dazu beigetragen, die Linke zu spalten.
Die Arbeiterpartei ist eine marxistisch-leninistische Gruppe, die sich in den 1980er Jahren aus einer breiten Koalition linker Gruppen herausgebildet hat und noch immer Kontakte zu den Kämpfen einzelner Arbeiter-, Bauern- und marginalisierter Gruppen pflegt. Die JASAD ist eine sozialdemokratische Partei, die sich für Reformen innerhalb des bürgerlichen Systems einsetzt und dabei eine wohlfahrtsstaatliche Politik und soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt.
Obwohl die Awami League ideologisch immer zentristisch und nationalistisch war, hat sie versucht, sich strategisch mit Teilen der Linken zu verbünden, um somit stärker gegen Rechtsextreme und Fundamentalisten vorzugehen. Dies wurde besonders wichtig, als die mit Al-Qaida zusammenhängenden terroristischen Aktivitäten im Land zunahmen. Auf der anderen Seite war es ähnlich: Da es wenig Aussicht auf den Aufbau einer wirklich großen linken Alternative gab, haben die Arbeiterpartei und die JASAD Bündnisse mit der Awami League geschlossen, um der rechten BNP und den fundamentalistischen Gruppen etwas entgegenzusetzen.
»Die Linke in Bangladesch hat sich im Laufe der Zeit selbst geschwächt, da sich Parteien und Gruppierungen spalten, anstatt gemeinsam zu kämpfen.«
Außerhalb der Parlamentsfraktionen stehen linke Organisationen viel mehr für eine kritisch-oppositionelle Haltung. Sie konzentrieren sich auf wichtige Themen wie die wirtschaftliche Ungleichheit im Land sowie auf die Rechte der Bauern- und Arbeiterschaft. Die Linke Demokratische Allianz ist beispielsweise ein Zusammenschluss einiger kleinerer linker Gruppen. Jede von ihnen ist in diversen sozialen Bewegungen aktiv, aber es ist dennoch unklar, wie effektiv diese Allianz im Hinblick auf das große Ganze sein kann. Die älteste noch existierende linke Partei in Bangladesch ist übrigens die Kommunistische Partei (KPB). Sie stellt sich nach wie vor aktiv gegen die aktuelle Regierung, leidet aber unter einer schwachen Führung und internen Grabenkämpfen.
Man könnte zusammenfassen: Die Linke in Bangladesch hat sich im Laufe der Zeit selbst geschwächt, da sich Parteien und Gruppierungen spalten, anstatt gemeinsam zu kämpfen. Das ist bedauerlich, denn die bangladeschische Linke hat in der Vergangenheit durchaus gezeigt, dass wir, wenn wir uns zusammenschließen, eine wichtige Stimme sein können. Linke Gruppen haben sich zum Beispiel mit Arbeiter-, Bauern- und Marginalisierten-Bewegungen für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen verbündet. Viele von uns haben zusammengearbeitet, um Druck gegen die Regierung zu machen, als diese den Ausverkauf unserer natürlichen Ressourcen wie Öl und Gas an ausländische Konzerne vorantrieb.
Bangladesch ist finanziell weitgehend von der Bekleidungsindustrie abhängig, und linke Parteien waren unter den dortigen Arbeiterinnen und Arbeitern sowie in den jeweiligen Gewerkschaften sehr präsent. Zusammen mit Gewerkschaftsführern und anderen Organisationen forderten linke Gruppen die Regierung auf, die Löhne in der Branche zu erhöhen. Letztes Jahr erreichten sie tatsächlich eine Steigerung des Mindestlohns von 8.000 auf 12.500 Bangladesch-Taka (von 62 auf rund 97 Euro), was allerdings weit weniger war als ursprünglich gefordert.
Deine Gruppe, die Bangladesh Krishok Federation (BKF), ist seit Jahrzehnten eine wichtige Kraft bei der Organisierung von landlosen Bauern und anderen marginalisierten Gruppen. Was macht die Arbeit der BKF aus und wie steht sie zu den Jugend- und Studierendenbewegungen?
Die BKF hat 1,6 Millionen Mitglieder in 49 Bezirken Bangladeschs. Unser mittelfristiges Programm besteht darin, die Bauernschaft und Landlose zu mobilisieren, um für eine echte und umfassende Agrarreform zu kämpfen. Die Bäuerinnen und Bauern müssen Zugang zu kultivierbarem Land und Ernährungssouveränität erhalten. Nur so können sie ein Leben in Würde führen.
»Durch Agitation haben wir erfolgreich eine landesweite Umverteilung von Land an landlose Bäuerinnen und Bauern unterstützt und erkämpft.«
Außerdem unterstützen wir Kleinbauern in ihren Bemühungen um gerechtere Preise für ihre Produkte, organisieren hochwertige Saatgutbanken für den Austausch und helfen beim Kontakt zwischen verarmten Bauern und öffentlichen Stellen. Die BKF bietet juristische und medizinische Dienstleistungen für unsere Mitglieder an, insbesondere für diejenigen, die von Landräubern angegriffen werden, und für Leute, die wegen ihrer Aktivitäten im Bereich der Landbesetzungsbewegung angeklagt werden. Durch Agitation haben wir erfolgreich eine landesweite Umverteilung von Land an landlose Bäuerinnen und Bauern unterstützt und erkämpft.
Die BKF ist mit anderen Massenorganisationen verbündet, wie der Bangladesh Kishani Sabha (mit einem Fokus auf Bäuerinnen), Bangladesh Adivasi Samity (ethnische Minderheiten) und der Bangladesh Chhatra Shava (Studierende). Ich selbst gehöre den Zentralkomitees der BKF und von Chhatra Shava an.
Chhatra Shava wurde 2022 gegründet und hat heute fast 3.000 Mitglieder im ganzen Land, hauptsächlich in den Bezirken Dhaka, Barishal und Dinajpur. Die Gruppe setzt sich für Themen wie Geschlechtergleichstellung und Bildungsreformen ein. So erinnern wir beispielsweise die Regierung an ihr gebrochenes Wahlversprechen, in jedem Bezirk eine kostenlose öffentliche Schule zu errichten. Außerdem fordern wir das Bereitstellen erschwinglicher Schulbücher für mittellose Schülerinnen und Schüler in ländlichen Gegenden. Wir versuchen auch, politische Bildung durch Vorträge und Buchclubs zu fördern.
Ich gehöre darüber hinaus der marxistisch-leninistischen Kommunistischen Partei Bangladeschs (KPB M-L) an. Dort gibt es einige Überschneidungen: andere Parteigenossen sind ebenfalls aktive Mitglieder der BKF. Unsere Gruppe teilt Leo Trotzkis Auffassung von der permanenten Revolution – die Idee, dass die sozialistische Revolution international sein und dass die Arbeiterklasse sie in einem kontinuierlichen Prozess anführen muss. Dies steht im Gegensatz zu anderen linken Gruppen in Bangladesch, die einen traditionelleren marxistisch-leninistischen Ansatz verfolgen (wie die Arbeiterpartei) oder sogar stalinistisch sind.
Wir halten uns auch an den Grundsatz von Antonio Gramsci, dass Marxisten eine Gegenhegemonie der Arbeiter, Bäuerinnen und den arbeitenden Massen in der gesamten Gesellschaft, von der wirtschaftlichen bis zur kulturellen Sphäre, gegen die bürgerliche Hegemonie aufbauen müssen. Die Schaffung dieser Gegenhegemonie ist eine Vorbedingung für die Revolution. Wir wollen die Kämpfe der subalternen Klassen im ganzen Land stärken und gleichzeitig »organische Intellektuelle« unter den ländlichen indigenen Gemeinschaften hervorbringen.
Die meisten Leute bei Chhatra Shava und in der KPB M-L sind Kinder von Bäuerinnen und Arbeiterinnen im informellen Sektor. Wir organisieren uns daher auch rund um Forderungen nach bäuerlichen Rechten, Landreform, Zugang zu brachliegenden Flächen, Klimagerechtigkeit, ökologischer Landwirtschaft etcetera. Angesichts der aktuellen Lage unterstützen wir Mitglieder sowie Kinder unserer Mitglieder, die bei der Teilnahme an den Protestaktionen in ihren jeweiligen Bezirken verletzt wurden.
Wie wird es Deiner Einschätzung nach in Bangladesch nun weitergehen?
Der Kampf ist noch nicht vorbei. Die Regierung hat das Quotensystem zwar erneut verändert, aber im Zuge der landesweiten Razzien sitzen immer noch mehr als 6.000 Demonstrierende in Haft. Anführer der Bewegung werden nach wie vor aus ihren Wohnungen oder direkt aus den Krankenhäusern heraus festgenommen. Einige werden wegen ihrer Mitgliedschaft in Oppositionsparteien verfolgt. Viele sind unschuldige Zivilisten, die möglicherweise auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam bleiben werden. Die Polizei durchsucht stichprobenartig die Handys der Menschen auf der Straße, um nach irgendwelchen Verbindungen zur Bewegung zu suchen.
Von der Forderungsliste der Studierenden wurde bisher nur die Quotenreform durchgesetzt. Die Regierung hat immer noch keine Verantwortung für die Morde und Folterungen übernommen, die Schuldigen vor Gericht gestellt oder sich öffentlich bei den Familien entschuldigt, deren Kinder massakriert wurden – nur weil sie anständige Arbeit forderten, um die Armut zu beenden, die seit Generationen erlebt werden muss. Und ich spreche hier noch gar nicht von dem Kleinkind, das auf dem Balkon seines eigenen Hauses erschossen wurde. Oder von der Person, die erschossen wurde, als sie aus Solidarität Lebensmittel und Wasser zu den Protestierenden brachte.
Viele verhaftete Studenten haben die Proteste in einer öffentlichen Erklärung nun abgebrochen. Einige andere, die nicht verhaftet sind, versuchen jedoch weiterhin, die Demonstrationen fortzusetzen. Es ist also nahezu unmöglich, Prognosen zu machen. In jedem Fall müssen wir weiter Druck machen und zur internationalen Solidarität aufrufen. Wir hoffen, dass die Studierenden und alle anderen Menschen, die mit ihnen protestieren, Gerechtigkeit erfahren.
Lydia Silva ist eine bangladeschische Aktivistin, die Bekleidungsarbeiterinnen organisiert und in den Slums der Hauptstadt Dhaka Unterricht gibt. Sie gehört den Zentralkomitees der Bangladesh Krishok Federation und von Bangladesh Chhatra Shava an und ist Mitglied der Kommunistischen Partei von Bangladesch (KPB M-L).