20. August 2020
Die Massendemonstrationen in Belarus richten sich gegen Wahlbetrug und Polizeigewalt. Über die tieferen Gründe der Unzufriedenheit unter der Bevölkerung wird wenig berichtet. Jacobin hat mit Linken vor Ort über die Auslöser der Proteste und die Rolle der arbeitenden Klasse gesprochen.
Demonstrant in Grodno, Belarus, 19. August 2020
Die Polizeibrutalität in Minsk wird oft als beispiellos in Europa bezeichnet – Frankreichs Gelbwesten würden das sicherlich bestreiten. Doch es bewegt sich etwas in Belarus, nachdem das 26-jährige Regime von Präsident Alexander Lukaschenko durch die breite Unterstützung für die Oppositionskandidatin in Frage gestellt wurde. Als die Behörden behaupteten, Lukaschenko habe bei den Wahlen vom 9. August 80 Prozent der Stimmen erhalten – und sich auf den Straßen Massenproteste formierten – versuchte der Staat diesen Widerstand mit Polizeigewalt zu brechen.
Die Demonstrationen wurden zunächst von Jugendlichen aus den Großstädten angeleitet, doch in den vergangenen Tagen hat sich die Mobilisierung auf die Klasse der Arbeitenden ausgeweitet. An vielen der größten Industriestandorte des Landes kamen Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter zusammen, diskutierten ihre Forderungen und drohten, die Produktion stillzulegen.
So »beispiellos« wie oft behauptet, ist die derzeitige Situation jedoch nicht. Schon die polnische Gewerkschaft Solidarność oder die Bergarbeiterstreiks der späten Sowjetunion haben gezeigt, wie sich militante Kämpfe der arbeitenden Klasse mit breiteren Protestbewegungen verbündet haben und damit unwissentlich den Weg für eine neoliberale Transformationen ebneten. Die tragische Vergangenheit der Arbeiterbewegung im postsowjetischen Raum erfordert daher, einen nuancierten Blick auf die jüngsten Ereignisse in Belarus zu richten.
Volodymyr Artiukh hat für Jacobin mit zwei Vertretenden der belarussischen Linken über die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse und die Situation der Arbeiterklasse gesprochen. Um ihre Identität geheim zu halten, äußern sich beide unter Pseudonymen. »Ksenia Kunitskaja« ist Autorin des Online-Magazins Poligraf und »Vitaly Schkurin« schreibt in Belarus für die linke Medienplattform September, die über den post-sowjetischen Raum berichtet.
VA: Weder Analystinnen und Analysten noch die belarussischen Behörden haben damit gerechnet, dass nach den Wahlen vom 9. August eine solche Welle von Unruhen Bahn brechen würde. Wodurch wurden die Mobilisierungen vor den Wahlen und die anschließenden Proteste ausgelöst?
KK: Zum einen regiert Lukaschenko das Land nun seit einem Vierteljahrhundert und ein Großteil der Bevölkerung hat jetzt langsam genug davon. In Auseinandersetzungen mit der Opposition sowie mit seinen eigenen Untergebenen hat er einen sehr konfrontativen und fast beiläufig unhöflichen Umgangston etabliert. Durch die Gleichgültigkeit, mit der die örtlichen Beamten dem Widerstand aus der Bevölkerung begegnen, verschärft sich die Lage zusätzlich. Und durch das Fehlverhalten der Regierung im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie traten diese Dynamiken noch einmal deutlich zu Tage.
Darüber hinaus hat die Regierung den Sozialstaat konsequent abgebaut. Das zeigte sich 2004, als man begann, anstelle von Tarifverträgen Einzelverträge mit den Beschäftigten abzuschließen. Im Jahr 2017 wurde dann noch eine »Steuer auf Arbeitslosigkeit« eingeführt und der Militärdienst, Mutterschaftsurlaub und das Studium aus den Anrechnungszeiten für die Rente gestrichen. Die straffe Geldpolitik der letzten fünf Jahre führte zu einer Stagnation der Löhne, während die Preise aber weiter stiegen.
VS: In den letzten zehn Jahren hat sich die belarussische Bevölkerung entpolitisiert. Die Proteste nach den Wahlen von 2010 scheiterten und so auch die »klatschende Revolution«, bei der die Menschen auf den Straßen applaudierten, um ihrem Unmut Luft zu machen, weil sie fürchteten, bei Protesten festgenommen zu werden. Danach waren viele Mitglieder von Parteien und sozialen Bewegungen von staatlicher Repression betroffen.
Nachdem die Regierung 2017 dann die bereits erwähnte »Steuer auf Arbeitslosigkeit« eingeführt hatte, bildeten sich in Belarus zum ersten Mal seit sechs Jahren Proteste – nicht nur in Minsk, sondern auch in kleineren ländlichen Städten. Die Einführung dieser Steuer wurde daraufhin verschoben. Doch nach der Niederlage der Oppositionsparteien und Oppositionsbewegungen schien es so, als würde der neue Widerstand gegen Lukaschenko vage von »den Belarussen« ausgehen.
Der Großteil der belarussischen Wirtschaft ist heute immer noch in Staatsbesitz, daher sind viele der »einfachen Leute« – Lukaschenkos übliche Wählerschaft – in staatseigenen Fabriken oder im öffentlichen Sektor beschäftigt. Die finanziellen Kürzungen der letzten Jahre in diesem Sektor haben zu sinkenden Löhnen und Beschäftigungszahlen, zu erzwungenem unbezahlten Urlaub und einem steigenden Rentenalter geführt. Diese Entwicklung hat die »einfachen Leute« offensichtlich politisiert, aber dabei hat sich leider keine eigene, positive Agenda herausgebildet.
KK: Die Behörden haben sich zudem kaum um ihre öffentliche Darstellung gekümmert. Die staatliche Propaganda hier ist kaum ernst zu nehmen und wirkt oft lächerlich: »Es ging uns noch nie so gut wie heute«, wird da deklariert. Die Medienstrategie der Gegenseite ist da im Vergleich viel professioneller und moderner. Sie weisen auf die Unzulänglichkeiten des Staates hin und machen sich für neoliberale Reformen und eine nationalistische Erinnerungspolitik stark. Damit hat die liberal-nationalistische Opposition vor den Wahlen erfolgreich ihre Anhängerschaft mobilisieren können. Sie haben zahlreiche Fälle von Wahlmanipulation aufgedeckt und die Menschen auf die Straße gebracht.
Das harte Vorgehen der Polizei – der Einsatz von Blendgranaten, Wasserwerfern und Tränengas sowie die Misshandlung von Gefangenen – hat zudem für Empörung gesorgt, und zwar nicht nur seitens der Opposition. Viele, die sich vorher nicht für Politik interessierten, waren ebenso schockiert.
Welche Bevölkerungsschichten haben Lukaschenko bislang tendenziell unterstützt – und bricht diese Unterstützung jetzt zusammen? Bislang wurde der Bevölkerung für die Aufgabe politischer Mitbestimmung ein starker Sozialstaat als Gegenleistung geboten. Dieser Kompromiss wurde aber in den letzten Jahren zunehmend ausgehöhlt – seht Ihr hier einen Zusammenhang?
KK: Bei Lukaschenkos erstem Wahlsieg 1994 war seine Unterstützung in der Bevölkerung sehr breit. Seine Basis reichte von denjenigen, die ein Bündnis mit Russland oder sogar eine Wiederbelebung der Sowjetunion wünschten, über solche, die keine harten Marktreformen wollten, bis hin zu russischsprachigen Menschen, die mit der Politik der »Belarussifizierung« unzufrieden waren. Für die ländliche Bevölkerung war Lukaschenko »ihr Mann«. In den 2000er Jahren wurde er mit einer Politik des konstanten Lohnwachstums populär und versprach, den Durchschnittslohn auf umgerechnet rund 400 Euro und später sogar auf 800 Euro im Monat zu erhöhen.
Eine Reihe von Wirtschaftskrisen verhinderte das. Und auch die Russisch-Belarussische Union leidet unter den Widersprüchen zwischen der russischen und der belarussischen Elite. In der Zwischenzeit wurden auch die Kampagnen zur Lohnerhöhung von einer straffen Geldpolitik im Sinne der Empfehlungen des IWF verdrängt.
Unabhängige soziologische Forschung ist im modernen Belarus praktisch verboten und die staatlich geförderte Forschung veröffentlicht keine Daten. Es ist daher schwierig zu sagen, wie beliebt Lukaschenko tatsächlich bei der Bevölkerung ist. Sicherlich hat er heute nicht mehr so eine breite Unterstützung wie noch in den 1990er und 2000er Jahren, und das harte Vorgehen der Polizei hat seiner Popularität offensichtlich geschadet. Gleichzeitig ist es höchst unwahrscheinlich, dass Lukaschenko lediglich 3 Prozent der Bevölkerung hinter sich hat, wie von der Opposition oft behauptet wird.
VS: Ich glaube, dass sich Lukaschenkos Wirtschaftsmodell, das hauptsächlich auf dem Reexport von russischem Öl basiert, erschöpft hat. Seit Russland die Ölpreise für Belarus erhöht hat und die Preise auf dem Weltmarkt eingebrochen sind, kann Lukaschenko das derzeitige Wohlstandsniveau für die Bevölkerung nicht mehr aufrechterhalten. Der Neoliberalismus scheint für ihn die einzige Lösung zu sein.
Man darf ebenso nicht vergessen, dass weite Teile der Bevölkerung im öffentlichen Sektor beschäftigt sind. Diese Arbeitsplätze werden genutzt, um politischen Einfluss auf die Belegschaft auszuüben. Die inoffizielle Arbeitslosenquote in Belarus ist mit 10 Prozent recht hoch und die staatliche Unterstützung für Arbeitslose beträgt umgerechnet gerade mal etwa 8 Euro im Monat. Es ist also nicht besonders angenehm, arbeitslos zu sein. Um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren, müssen Angestellte im öffentlichen Dienst oft samstags arbeiten, sind gezwungen, an vorgezogenen Wahlterminen abzustimmen (bei denen es oft zu Wahlfälschungen kommt) und fungieren mitunter sogar als Mitglieder der Wahlausschüsse, um selbst Ergebnisse fälschen. Die Beschäftigung im öffentlichen Sektor basiert auf befristeten Verträgen, die es den Beschäftigten schwer machen, zu kündigen, den Unternehmensleitungen aber ermöglichen, sich schnell und einfach einer Arbeitskraft zu entledigen. Viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben dann irgendwann erkannt, dass es für sie keinen anderen Ausweg gibt, als gegen Lukaschenko zu stimmen.
Gleichzeitig erfährt Lukaschenko seit neuestem Zuspruch einer neuen Generation regierungsfreundlicher »öffentlicher Experten«, die für verschiedene staatliche Institutionen arbeiten. Sie treten regelmäßig in staatlichen, aber auch in unabhängigen und ausländischen Medien auf, wo sie für den belarussischen Staat werben. Im Gegensatz zum alten Establishment – dem trägen Beamtentum, wie man es noch aus der Sowjetzeit kennt – wirken diese Leute in ihrem Auftreten und ihrer Sprache frisch und aufgeweckt. Das alte offizielle Establishment nach sowjetischem Vorbild unterstützt Lukaschenko weiterhin nachdrücklich, da es außerhalb dieses Systems für sie sonst gar keine Rolle mehr gibt.
Die Polizei und Geheimdienste bilden eine weitere Schicht, aus der Lukaschenko seine Anhängerschaft bezieht. Sie erhalten vom Staat besondere Sozialleistungen, Zuschüsse beim Wohnungskauf, man lässt sie vorzeitig in den Ruhestand gehen, sie erhalten eine bessere medizinische Versorgung, Kuraufenthalte und viele weitere Vorteile. Es ist nicht öffentlich bekannt, wie groß die Polizei in Belarus tatsächlich ist, aber 2016 ließ der Innenminister verlautbaren, dass auf 100.000 Bürgerinnen und Bürger 405 Polizeikräfte kommen – nach einer Schätzung der UN von 2013 sind es sogar 1.442. Die Polizei als Arbeitgeberin spielt außerdem eine wichtige Rolle für die soziale Mobilität innerhalb der Gesellschaft: Arbeitslosen aus kleineren Städten wird die Perspektive geboten, in eine größere Stadt zu ziehen, um dort bei der Polizei zu arbeiten. Im Gegenzug erwartet man von ihnen absoluten Gehorsam. Das ließ sich während der ersten Tage der Proteste beobachten, als mit Blendgranaten und Tränengas gegen eine relativ kleine und unbewaffnete Gruppe von Protestierenden vorgegangen wurde. Die Polizei und die Geheimdienste stehen jenseits der sozialen Kontrolle und pflegen bezeichnenderweise enge Kontakte zu den neuen, strahlenden »öffentlichen Experten«.
Was für ein Gesellschafts- und Klassenprofil haben die Protestierenden? Was treibt diese Menschen um und welcher Ideologie fühlen sie sich zugehörig?
KK: Zum einen zeigt sich da die althergebrachte Opposition der 1990er Jahre: Nationalistinnen und Nationalisten, Liberale und mit ihnen sympathisierende Intellektuelle. Zum anderen sind auch viele Jugendliche aus den Großstädten, Geschäftsleute und Menschen aus dem IT-Bereich darunter, die sich selbst als progressiv, westlich und anti-sowjetisch bezeichnen würden. Während des Wahlkampfes gelang es der Opposition zumindest in den Großstädten, eine etwas breitere Bevölkerung zu mobilisieren. Die Politisierung der Gesellschaft in den Tagen vor den Wahlen war extrem hoch, viele unzufriedene Bürgerinnen und Bürger beteiligten sich aktiv als Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter.
Jetzt schließen sich weitere Teile der Gesellschaft an, die von der maßlosen Polizeigewalt schockiert und über den Wahlbetrug empört sind. Bis vor kurzem hatten einige Lukaschenko noch passiv unterstützt, da er ihnen im Vergleich zur rechten Opposition als das »kleinere Übel« erschien. Die Nationalliberalen, die zur Wahl standen, sprachen kaum über ihr Programm, sondern nur über faire Wahlen und später über die Eindämmung der Polizeigewalt als Selbstzweck.
VS: Viele orthodoxe Kommunistinnen und Kommunisten, glauben, dass gerade hauptsächlich »Hipster« und junge IT-Leute auf die Straße gehen, dabei sind viele junge Fabrikarbeiterinnen, Taxifahrer und Studierende unter den Protestierenden. Ich glaube nicht, dass wir dieser spontanen Bewegung eine bestimmte Ideologie zuschreiben können. Die Demonstrierenden tragen sowohl die offizielle belarussische Fahne als auch die Flagge, die in der Zeit vor Lukaschenko von 1991-1994 der Republik Belarus als nationales Symbol diente. Da man letztere recht häufig sieht, meinen einige, dass die Proteste nationalistischer Ausrichtung seien. Aber die Spitze der traditionellen nationalistischen Opposition sitzt im Gefängnis und es gab unter den Protestierenden bislang keine Debatte über Symbole. Bei den gewaltvollen Auseinandersetzungen mit der Polizei waren vermutlich vereinzelt auch in Gruppen organisierte Fußballfans beteiligt.
Wie würdet Ihr die aktuellen Proteste mit anderen Momenten der Mobilisierung in Belarus und der Region vergleichen?
VS: Die Proteste vor 2010 waren sehr nationalistisch geprägt, aber schon die »klatschende Revolution« von 2011 hatte eine andere Stoßrichtung. Nach dem Maidan in der Ukraine im Jahr 2014 erhielt der Nationalismus allerdings neuen Aufwind und wurde zum Bezugspunkt erfolgreicher, »europäischer« Belarussinnen und Belarussen. Heute sind die Proteste noch weniger nationalistisch und erinnern eher an die Demonstrationen von 2017, als Menschen überall im Land gegen die »Steuer auf Arbeitslosigkeit« auf die Straße gingen.
Die diesjährigen Proteste haben abgesehen von der Anfechtung der Wahlergebnisse keine klare politische und soziale Agenda und sind über das ganze Land verstreut. Vor 2017 fanden fast alle großen Demonstrationen in Minsk statt und folgten einem Einheitsmuster: E ine große Demonstration zieht durch die Innenstadt, danach folgt eine Kundgebung auf einem großen, öffentlichen Platz und anschließende verteilt die Polizei harte Schläge. In der Regel hielten die Proteste einen Tag lang an, ausgenommen nur die Proteste nach der Präsidentschaftswahl 2006, als Aktivistinnen und Aktivisten auf dem zentralen Oktoberplatz ein Zeltlager errichteten. Die Proteste, die wir jetzt sehen, starteten am 13. August und halten immer noch an. Und sie konzentrieren sich nicht nur auf Minsk, sondern strahlen in weitere Städte und Ortschaften aus. Selbst in Minsk gibt es kein Zentrum, an dem sich der Protest sammelt, da die Innenstadt unter polizeilicher Kontrolle steht. In den Abendstunden und durch die Nächte hindurch wird spontan in verschiedenen Bezirken demonstriert; die Protestierenden werden dann meist von der Polizei vertrieben und kommen wieder zurück, sobald die Polizei den Ort wieder verlassen hat.
KK: Vor allem hat aber die Gewalt mittlerweile solche Ausmaße angenommen, dass darüber in den Nachrichten nicht mehr so abstrakt berichtet wird wie sonst üblich. Viele haben diese Gewalt mit eigenen Augen miterlebt oder kennen Betroffene. Die Opposition macht indes keine Vorschläge, die die Interessenkonflikte verschiedener Klassen und sozialer Gruppen antreiben könnten und schlägt lediglich Neuwahlen vor – was wiederum weitere Teile der Bevölkerung mobilisiert.
VS: Die Gewalt geht hauptsächlich von der Polizei aus: Nie zuvor wurden in Belarus in diesem Ausmaß Blendgranaten, Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt. Ich glaube, der Staat wollte die Demonstrierenden damit einschüchtern, hat aber genau das Gegenteil erreicht und weiter Öl ins Feuer gegossen. Innerhalb einer Nacht landeten dreitausend Menschen im Gefängnis, das gab es vorher noch nie – auch daran zeigt sich die Gewalt, mit der die Polizei gegen die Proteste vorgeht.
Am vierten Tag nach den Wahlen bekamen die Proteste eine weitere neue Dimension: Arbeitende im ganzen Land kündigten Streiks an. In diesen Verkündungen wurden leider meist keine sozialen Forderungen erhoben, sondern lediglich die Beendigung der Polizeigewalt, die Freilassung aller Inhaftierten sowie Neuwahlen verlangt. Wie dem auch sei – das letzte Mal, dass es (legale) Streiks in Belarus gab, war 1991.
Auch wurde zum ersten Mal das Internet zur Kommunikation genutzt, obwohl der ausländische Datenverkehr während der ersten drei Tage der Proteste immer wieder unterbrochen wurde und die meisten Menschen VPNs und Proxy-Server nutzen mussten. Ähnlich wie schon der Arabische Frühling als »Twitter-Revolution« indie Geschichte einging, könnte man die Proteste in Belarus als »Telegram-Revolution« bezeichnen. Diese Messenger-App wurde von Pavel Durov entwickelt, nachdem er aus Russland emigriert war, und wurde im post-sowjetischen Raum sehr populär, um Drogen zu kaufen. Im Jahr 2018 startete ein nach Polen ausgewanderter, junger Belarusse den Telegram-Channel »Nechta« (»нехта«, was übersetzt »jemand« bedeutet), der in Belarus sehr populär wurde, da dort »Insider-News« über belarussische Behörden verbreitet wurden.
Es ist natürlich unwahrscheinlich, dass er alleine ein ganzes Netzwerk aus Insidern koordiniert. Daher besteht der Verdacht, dass verschiedene Leute aus dem Journalismus und den Medien, die während Lukaschenkos Amtszeit ausgewandert sind, für diesen Telegram-Channel arbeiten. Auf dem Kanal von Nechta und weiteren vernetzten Telegram-Kanälen wurden während der Proteste Fotos und Videos geteilt, die an verschiedenen Orten aufgenommen wurden. Vor der ersten Protestnacht wurden dort »Anweisungen für vorsichtigen Protest« verbreitet, ohne radikale Inhalte wie etwa Anleitungen für Molotowcocktails. Außerdem schlug Nechta verschiedene Protestszenarien vor, die von den Menschen auch meist befolgt wurden. Wenn man etwa beschloss, in der ersten Nacht an einem bestimmten Ort in Minsk und auf großen Plätzen in den Kleinstädten zu demonstrieren, dann sollte man in den beiden folgenden Nächten eher in kleineren Gruppen durch die Randbezirke von Minsk ziehen und in den Kleinstädten auf den großen Hauptstraßen protestieren. Manchmal war Nechta auch sehr agitatorisch: »Noch ein letzter Anstoß: Lasst uns der Polizei unsere Solidarität zeigen«, »[Stadt X] ruft um Hilfe, die Polizei schlägt unsere Frauen«. Nachdem das Internet wieder zu funktionieren begann, büßten diese Telegram-Channel etwas von ihrem Einfluss ein. Die Proteste begannen meist bei Tageslicht und waren außergewöhnlich friedlich, meist bildeten sich sogenannte »Solidaritätsketten«: Menschenschlangen, darunter viele Frauen, die mit Blumen in ihren Händen entlang der Hauptstraßen standen.
Ich sehe da keine Ähnlichkeiten zu früheren Protesten in Osteuropa. Manche vergleichen die derzeitige Situation mit dem Maidan in Kiew im Jahr 2014, aber ich halte das für sehr ideologisch, da mit diesem Vergleich versucht wird, Lukaschenko zu legitimieren und man impliziert, dass keine Alternative möglich sei. Im Gegensatz zum Maidan sind unter den belarussischen Protestierenden keine großen rechtsextremen Gruppen, die gewalttätig werden. Es gibt schon einige Ultra-Gangs in Belarus, aber nach dem Maidan in der Ukraine wurden die meisten von ihnen von der Polizei eingeschüchtert. In Belarus gibt es keinen sprachlichen und ideologischen Konflikt wie in der Ukraine. Vor allen Dingen aber haben die belarussischen Proteste im Gegensatz zum Maidan keine Führungsfigur: Die traditionelle Opposition sitzt im Gefängnis und die Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja befindet sich gerade in Litauen. Ich bin mir sicher, dass es nicht wie im Donbass zu einem Krieg kommen wird: Es gibt keinen ideologischen Konflikt zwischen Ost und West, so wie in der Ukraine.
Wie würdet Ihr die gegenwärtige Situation der belarussischen Linken beschreiben?
KK: Die Linke hier ist seit langem in einer Krise, weil Lukaschenko selbst mit quasi-sozialistischen Parolen an die Macht gekommen ist. Wenn die Rechten ihn als »sowjetisch« und »kommunistisch« betiteln, scheint ihm das nichts auszumachen. Sowjetische Denkmäler, Straßennamen und Feiertage sind in Belarus erhalten geblieben. Irgendwie wurde damit »entschieden«, dass er ein »Linker« sei. Hinzu kommt, dass in einer Diktatur nur die nicht-staatlichen politischen Kräfte und Medien überleben können, die Förderungen aus dem Ausland erhalten. Es ist weithin bekannt, dass große Fondgesellschaften aus Amerika und auch Europa Spendengelder an nicht-kommunistische Oppositionelle fließen lassen.
Daher gibt es im Land keine nennenswerten linken Medien oder Parteien, die in der Lage wären, die Linke anzuführen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen gibt es nur zwei »kommunistische« Parteien: die »Kommunistische Partei von Belarus«, die das Regime und dessen verabscheuungswürdige Maßnahmen unterstützt und die Linkspartei »Gerechte Welt«, die der liberalen Opposition in ihren Forderungen nach einem Regimewechsel folgt und sich weniger auf eine klassenpolitische Agenda versteht. Und es gibt auch kleinere Zusammenschlüsse an der Basis: Marxistische Kreise, alternative Medien, Interessengruppen und anarchistische Gruppen.
VS: Die Linkspartei »Gerechte Welt« spaltete sich 1996 von der Kommunistischen Partei ab, nachdem sich die Machtverhältnisse nach Lukaschenkos erstem Referendum zugunsten des Präsidenten verschoben hatten. Heute positioniert sie sich sowohl gegen Lukaschenko als auch gegen die pro-westliche Opposition. Die Grüne Partei wurde 1994 gegründet, setzt sich sich vor allen Dingen gegen Atomenergie ein und entwickelte eine linke, anti-autoritäre Agenda. Die Grünen sind recht stark und beziehen sich im Gegensatz zu der Partei »Gerechte Welt« weniger auf eine marxistisch-leninistische Tradition. Außerdem gibt es noch drei sozialdemokratische Parteien. Einige ihrer Mitglieder sind sehr auf sozialpolitische Themen ausgerichtet, die meisten von ihnen gehören aber dem westlich orientierten, oppositionellen Establishment an.
In Belarus gab es früher eine große anarchistische Bewegung – die vielleicht größte im post-sowjetischen Raum –, die eng mit der Punk- und Hardcore-Szene verbunden war. Einige aus diesen Kreisen infiltrierten die Grüne Partei, andere landeten im Gefängnis. Es ist schwer, eine Aussage über den Aktivismus dieser anarchistischen Szene zu treffen, da sie immer noch das Hauptziel staatlicher Repression ist. Einige dieser anarchistischen Gruppen bezeichnen sich selbst sogar gar nicht als »links«, da sie den Begriff fälschlicherweise mit pro-sowjetischen »Tankies« verbinden. Andere wiederum werden von der westlich orientierten nationalistischen Opposition unterstützt.
Und zuletzt erreichten Belarus in den letzten Jahren auch das in Russland sehr populäre »linke Youtube« sowie marxistische Zirkel zur politischen Selbstbildung. Leider wird dort vor allen Dingen scharfe Kritik an der westlich orientierten Opposition geäußert und weniger eine eigene politische Agenda formuliert. Anklang finden vor allem sowjetische Nostalgie oder Ressentiments, da geht es dann weniger darum, den Aufbau einer breiten demokratischen sozialen Bewegung voranzutreiben. Dieses linke Youtube und auch die marxistischen Zirkel sind an sich natürlich nicht schlecht, aber als Strategie für die Linke eignen sie sich nicht – auch wenn sie das selbst durchaus anders sehen.
Wie stehen diese verschiedenen Gruppen zu der aktuellen politischen Lage und den Protesten?
KK: Ein Teil der Linken ist bereit, den Protest der Liberalen zu unterstützen. Ein anderer Teil ist zwar auch der Meinung, dass die Bevölkerung das Recht hat zu protestieren, dass die Polizeigewalt inakzeptabel und empörend ist und dass die Wahlen manipuliert wurden – doch sie distanzieren sich klar von der liberalen Opposition, deren erklärtes Ziel es ist, die Privatisierung von Unternehmen fortzusetzen, die kostenlosen Gesundheitsversorgung runterzufahren und den Arbeitsmarkt noch mehr zu deregulieren.
Kürzlich entstand eine kleine Basisbewegung, die wirtschaftliche und soziale Forderungen in die Proteste der Arbeiterinnen und Arbeiter tragen, die sich gegenwärtig eher auf allgemeine politische Forderungen konzentrieren: Lukaschenkos Rücktritt, die Freilassung der politischen Gefangenen, Klagen gegen die Sicherheitskräfte und faire Wahlen.
VS: Alle linken Parteien weigerten sich während der Pandemie, an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen. Sie hatten aber auch ohnehin keine ausreichenden Mittel, um die breite Bevölkerung und die Aktivistinnen und Aktivsten zu mobilisieren und die Unzufriedenheit der Bevölkerung in eine sozialistische Agenda zu kanalisieren.
Gleichzeitig ignorierte man in den marxistischen Zirkeln und auf den linken Youtube-Kanälen die Tatsache, dass der Staat bereits vor den Wahlen mit der Repression gegen alternative Kandidierende begonnen hatte. Jedwede Opposition wurden von ihnen abgelehnt; einige suchten nach Ähnlichkeiten mit dem Maidan und warnten vor einem katastrophalen Ende der Entkommunisierung und der Repression durch rechtsextreme Gruppierungen. Aber vor allen Dingen wollen sie ihre linken Youtube-Kanäle und Bildungszirkelweiter ausbauen, während sich der Staat mit der pro-westlichen, demokratischen Opposition abmüht.
Ich halte das für eine verschenkte Chance, weil man damit die Stimmung innerhalb der belarussischen Bevölkerung völlig übergeht. Die Leute sind des Systems von Lukaschenko wirklich überdrüssig und die Linke sollte eher versuchen, diesen Unmut zu kanalisieren, anstatt die breite Bevölkerung als folgsam und einfältig abzutun und davon auszugehen, dass sie das Land ohnehin in eine reine Marktwirtschaft überführen werden. Unter Lukaschenko werden Arbeiter- oder Basisbewegungen niemals in der Lage sein, die Situation zu ändern.
Als die arbeitende Klasse am vierten Tag der Proteste auch auf die Straße ging und mit Streiks drohte, stellte sich fast keine linke Organisation oder Partei gegen diese Bewegung. Jetzt versuchen alle, eine Streikbewegung zu organisieren und soziale und wirtschaftliche Forderungen zu stellen, um bei diesen Protesten auch eine soziale und nicht nur eine rein wahltaktische Agenda auf die Tagesordnung zu setzen.
Inwieweit nimmt die Arbeiterklasse an den Protesten teil und welche Rolle spielt hier die organisierte Arbeiterbewegung?
VS: In über zwanzig staatseigenen Fabriken und Institutionen haben Kollektive von Arbeiterinnen und Arbeitern verkündet, dass sie streiken würden. Nachdem sich Lukaschenko abschätzig über die Streiks äußerte (er behauptete etwa »in irgendeiner Fabrik streiken gerade einmal zwanzig Leute«), marschierten einige Arbeiter des Minsker Traktorenwerks durch die Hauptstadt zum Parlamentsgebäude, um ihren Widerstand zu bekunden. Ich glaube nicht, dass sich darin unbedingt schon ein Klassenbewusstsein artikuliert hat – die Aktion hatte Überschneidungen mit den »Ketten der Solidarität«. Aber am 14. August sah man in der Nähe des Parlaments Demonstrierende mit Transparenten auf denen zu lesen war: »Wir sind Arbeiter, keine Schafe«.
KK: Es gibt nur einen großen nationalen Gewerkschaftsverband in Belarus und der ist Teil des bürokratischen Apparats der Lukaschenko-Regierung. Dessen Aktivitäten belaufen sich hauptsächlich darauf, Feierlichkeiten zu nationalen Feiertagen zu veranstalten und Gutscheine für Pflegeheime auszustellen. Diese »Gewerkschaft« hat mit dem Schutz der Rechte der Arbeitenden nicht zu tun.
Die wenigen unabhängigen Gewerkschaften, die im Zuge des Aufschwungs der Arbeiterbewegung Anfang der 1990er Jahre gegründet worden waren, wurden zerschlagen. Es gibt nur noch in wenigen Unternehmen vereinzelt Zellen, die etwa der Unabhängigen Belarussischen Gewerkschaft zugehörig sind. Diese unabhängigen Gewerkschaften ähneln mittlerweile eher NGOs und sind weniger auf die Beiträge ihrer Mitglieder als auf ausländische Zuschüsse angewiesen. Sie leisten hauptsächlich Rechtshilfe für einzelne Arbeitnehmende, die diese beantragt haben.
Der letzte große Protest, den die Belegschaft der Minsker U-Bahn im Jahr 1995 initiierte, wurde von Lukaschenko brutal unterdrückt. Seitdem ist von Streiks keine Rede mehr. Jetzt erleben wir die seither erste große Protestbewegung der arbeitenden Klasse. Bislang wirken diese Proteste eher wie Gesprächstermine mit der Unternehmensleitung, den »gelben« Gewerkschaften und den örtlichen Behörden. Doch am 17. August streikten die Beschäftigten von Belaruskali, einem der weltweit größten Kaliproduzenten (dort hat noch eine Zelle einer unabhängigen Gewerkschaft überlebt – deren Vorsitzender wurde bei seiner Verhaftung halb totgeschlagen).
Bisher haben die Beschäftigten jedoch nur allgemeine demokratische Forderungen geäußert, die im Einklang mit dem breiten liberalen Protest stehen. Das ist eine neue Entwicklung: traditionelle politische Parteien, ob links oder rechts, spielten in diesem Fall praktisch keine Rolle. Inspiriert wurden die Proteste vielmehr von den Medien im weitesten Sinne, einschließlich der sozialen Medien. Diejenigen, die über eine starke Medienpräsenz verfügen, üben einen großen Einfluss auf die Meinung der Menschen aus. Das sind aber gerade diejenigen, die eine liberale und nationalistische Agenda unterstützen. Und wenn die Arbeitenden davon indoktriniert werden, wo soll dann eine klassenbewusste Arbeiterbewegung herkommen?