23. Januar 2023
Wie könnte es für die Bewegung in Iran weitergehen? JACOBIN sprach mit dem iranischen Soziologen und Sozialisten Nima Tootkaboni über den Charakter der Bewegung und welche Unterstützung von außen hilfreich ist und welche nicht.
Die Wellen des Protest reichen bis über den Iran hinaus, Solidaritätsdemonstration in Barcelona, 21. Januar 2023.
IMAGO / ZUMA WireIm Herbst letzten Jahres hat der Iran eine Protestwelle erlebt, die für die Geschichte der Islamischen Republik beispiellos ist. Nach dem Tod der 22-jährigen iranischer Kurdin Mahsa Amini, die während ihrer Inhaftierung durch die iranische Sittenpolizei im September 2022 verstarb, brachen binnen weniger Tage massenhafte Proteste in mehreren iranischen Städten und Provinzen aus. Bilder von Frauen, die ihr Kopftuch abwarfen, kursierten durch das Netz, und an vielen Universitäten hielten Studierende und Lehrende aus Protest gegen das Regime den Lehrbetrieb auf. In der ersten Dezember-Woche kam es in einigen Regionen sogar zu einem Generalstreik.
Trotz der unleugbaren explosiven Dynamik der Proteste konnten die Machthaber in Teheran die Bewegung mit Repression größtenteils bändigen. Es wird geschätzt, dass um die 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits getötet wurden, während über 15.000 von den Behörden verhaftet wurden. Die Regierung stellt den Aufstand als ausländische Verschwörung dar, die berechtigte Anliegen der Bevölkerung manipuliere, um ein US-freundliches Regime zu installieren. Die Proteste mögen eine schwere Legitimationskrise für die Islamische Republik darstellen, doch bisher scheinen sie nicht in der Lage zu sein, einen Politikwechsel zu forcieren.
JACOBIN hat mit dem Soziologen und Sozialisten Nima Tootkaboni über die Potenziale der Bewegung und zukünftige Entwicklungen gesprochen.
Die Proteste im Iran haben über drei Monate angehalten. Welche Form haben sie angenommen und wie weit haben sie sich ausgebreitet? Wie ist die aktuelle Atmosphäre im Land?
Auch in der Vergangenheit gab es schon verschiedene Protestwellen. Diese waren jedoch entweder eher kurz und intensiv oder sie fanden über einen längeren Zeitraum statt, waren dann aber weniger intensiv und haben sich weniger stark verbreitet. Die Protestwelle, die wir im letzten Jahr erlebt haben, waren zugleich sehr weit im Land verbreitet als auch langanhaltend.
Jedoch waren die Proteste nicht sehr einheitlich, sondern fanden verstreut statt. In den ersten zwei bis drei Wochen gab es Massenproteste in größeren Städten wie beispielsweise Teheran. Diese wurden jedoch schnell unterdrückt. Seitdem sind in größeren Städten alle Orte, auf denen man sich versammeln kann, unter strikter Kontrolle der Sicherheitskräfte. In diesen Gegenden ist es fast unmöglich, eine Demonstration durchzuführen. So gab es kleinere Zusammenkünfte, etwa in Nachbarschaften oder Universitäten. Dort, wo sich Menschen versammeln und ihre Stimme erheben konnten, taten sie es.
Insgesamt ist diese Bewegung jedoch nicht organisiert und sehr spontan. Sie ist sehr tief verwurzelt in der Gesellschaft und kommt von der Basis. Sie ist jedoch auch nicht mit einer politischen Ideologie oder einer politischen Gruppe verbunden.
In den zwei Provinzen Sistan und Baluchistan im Südosten und in Kurdistan im Westen des Landes haben die Proteste eine militantere Form angenommen. Die Forderung dieser Menschen, die seit Jahrzehnten zusätzlich noch aufgrund ihrer Ethnizitäten unterdrückt werden, sind radikaler und die Konfrontationen zwischen ihnen und der Regierung waren auch intensiver.
Etwas sehr bemerkenswertes ist zudem, dass Frauen sich seit den letzten drei bis vier Monaten weigern, in der Öffentlichkeit den Hidschab zu tragen. Für viele Iranerinnen und Iraner war es vor diesen Protesten wahrscheinlich kaum vorstellbar, eine Frau ohne Hidschab auf der Straße zu sehen. Aber jetzt wird dies langsam zur Normalität. Frauen widersetzen sich dem verpflichtenden Hidschab, sie gehen einfach so raus. Anfang Dezember verkündete die Regierung (wenn auch inoffiziell), dass sie die Sittenpolizei aufgelöst hat. Ich denke, das ist ein klares Zeichen für einen Kompromiss, aber wir sollten vorsichtig sein und abwarten, ob sie die Sittenpolizei wieder einführen wird.
Da die Proteste spontan und unorganisiert waren, ist es nicht überraschend, dass sie aktuell abflauen. Trotzdem ist die allgemeine politische Atmosphäre immer noch angespannt, und es wäre nicht verwunderlich, wenn in einigen Wochen oder Monaten wieder Proteste ausbrechen sollten.
Wie Du schon erwähnt hast, gab es in den letzten Jahren auch einige Protestwellen. Kannst Du uns etwas zur Geschichte dieser Proteste erzählen?
Seit den 1990ern gab es mehrere Protestwellen im Iran. 1999 kam es zu einem Studierendenprotest, der sich aber insgesamt nicht stark verbreitet hat. Dieser Protest fand im Kontext der sogenannten Reformbewegung im Iran statt. Eine Fraktion der Regierung versuchte, die Regierung aus dem Inneren durch Reformen zu verändern. Die Studierenden protestierten, um diese Bewegung zu unterstützen.
Nach der Wahl von 2009 kam es zu einer weiteren Protestwelle. Die reformistischen Kräfte behaupteten, von Wahlbetrug betroffen zu sein, und riefen ihre Unterstützerinnen und Unterstützer auf, dagegen auf die Straße zu gehen. Daraus entwickelte sich eine große Protestbewegung. Nach dieser sogenannten grünen Bewegung von 2009, die sich vor allem aus den Mittelklassen rekrutierte, gab es im Iran für einige Jahre keine Protestbewegungen mehr.
Die nächste Welle der Proteste begann 2018. Es gab einen großen Unterschied zwischen dieser Bewegung und den vorherigen Bewegungen. Diese neue Protestwelle ereignete sich zu einer Zeit, in der der Reformismus als Bewegung innerhalb der Regierung nicht mehr existierte. Die Hoffnung, dass es eine Reform von innen geben könnte, war für viele Leute gestorben. Die Regimekritik, die sich vorher in der reformistischen Bewegung im Rahmen von Parteien und Wahlen ausgedrückt hatte, wurde auf Straßenproteste gelenkt, die unorganisiert, ungeformt und auch sehr radikal waren.
Im Januar 2018 konnte man zum ersten Mal massenhaft Leute sehen, die in Sprechchören den Umsturz des Regimes forderten. Was diese neuen Phase der Proteste von früheren unterscheidet, ist, dass die Leute nicht organisiert sind. Das gilt sowohl für die Bewegung von 2018, bei der es vor allem um ökonomische Nöte ging, als auch für die darauffolgende Protestbewegung von 2019, die eine Reaktion auf massive Benzinpreissteigerungen war. Beide konzentrierten sich auf ökonomische Forderungen und waren von den unteren Klassen getragen. Sie fanden in armen und provinziellen Gegenden statt. Ich denke man kann sie als »Brotaufstände« bezeichnen. Es handelte sich um Aufstände von Menschen, die Hunger hatten und verzweifelt waren.
Die letzten Protestwellen konnten das Gleichgewicht der Kräfte in der iranischen Gesellschaft, geschweige denn im Staat, nicht grundlegend verändern. Könnte es dieses Mal anders sein?
Das könnte natürlich so sein, aber wir müssen auch realistisch bleiben. Ich denke, diese Bewegung hat das Potenzial, Veränderungen zu erwirken, aber nicht unbedingt alle, die sie anstrebt. Man kann die Forderungen dieser Bewegung in zwei Gruppen einteilen. Manche Forderungen können ohne eine grundlegende politische Veränderung erreicht werden, andere nicht. Um erstere zu erreichen, muss man nicht organisiert sein.
Einzig allein dadurch, dass Du es wagst, ohne Hidschab rauszugehen, wird diese Regel früher oder später abgeschafft. Und das sehen wir tatsächlich im Iran. Die islamischen Kleidungsvorschriften können nur durchgesetzt werden, wenn die Leute es nicht wagen, sich ihnen zu widersetzen. Und so war es in den letzten dreißig Jahren. Aber nun da die Menschen anfangen, sich gegen diese Vorschriften aufzulehnen, hat die Regierung keine Wahl, außer die Menschen zu unterdrücken oder diese Realität zu akzeptieren.
Diese Bewegung hat gezeigt, dass die Unterdrückung an ihr Ende kommt. Wenn die iranische Regierung den Hidschab wieder durchsetzen will, muss sie die Sittenpolizei wieder auf die Straße holen und die Sittenpolizei kann die Kleidungsvorschriften nicht ohne Gewalt durchsetzen. Und wenn sie Gewalt anwendet, kann sich der Fall von Mahsa Amini leicht wiederholen und das ganze Land wieder in eine Krise stürzen. Ich denke, die Regierung wird früher oder später realisieren, dass sie diese Kleidungsvorschriften nicht so durchsetzen kann wie in Vergangenheit.
Für die radikaleren Forderungen, die einen Umsturz des Regimes und eine Demokratisierung anvisieren, muss man organisiert sein. Und diese Bewegung ist nicht organisiert und aktuell leider auch nicht auf dem Weg dahin, auch weil das Regime jegliche Organisierung stark unterdrückt. In gewisser Hinsicht ähnelt die Bewegung im Iran der europäischen Studierendenbewegung der 1960er Jahre. Natürlich ist das politische System, dass etwa in Frankreich 1968 vorherrschte, nicht mit der iranischen Regierung von heute vergleichbar. Aber es gibt sehr interessante Gemeinsamkeiten. Die Studierenden der 1968er strebten kulturelle und soziale Veränderungen an, aber sie wollten auch die Abschaffung des Kapitalismus und Veränderung im politischen System herbeiführen. Letztlich waren sie erfolgreich darin, soziale und kulturelle Veränderungen auszulösen, aber ihre radikaleren Forderungen konnten sie nicht durchsetzen.
In dieser Hinsicht ist die Situation im Iran ähnlich. Das kann sich in der Zukunft natürlich ändern und die Bewegung kann sich organisieren. Aber auch wenn ihr der politische Umbruch nicht gelingt, ist es wichtig zu betonen, dass eine mögliche Abschaffung des verpflichtenden Hidschabs ein enormer Erfolg ist. Ich kenne kein anderes historisches Beispiel im Nahen Osten, in dem Frauen ohne organisiert zu sein und allein durch eine Bewegung von unten eine traditionelle Gesellschaft zur Veränderung zwingen konnten. Und ich denke, das ist ein massiver und faszinierender Erfolg.
Es wird oft behauptet, dass die Proteste der letzten Monate zum ersten Mal die Mittelklassen und die Arbeiterklasse vereinten. Würdest Du dem zustimmen?
Ja, das würde ich auch so sehen. Wir haben keine Daten, aber basierend auf unseren Beobachtungen, sind die Proteste vielleicht ein wenig stärker durch die Mittelklasse geprägt gewesen. Aber am Ende des Tages kann man nicht negieren, dass Leute aus verschiedenen sozialen Gruppen und Klassen teilnahmen.
Ich denke, das liegt daran, dass die Leute es leid sind. Sie sind wirklich wütend und sie verlangen verzweifelt nach einer Veränderung. Sie haben vielleicht teilweise sehr unterschiedliche Forderungen, aber sie alle wollen, dass sich etwas verändert und das verbindet sie. Und das gilt nicht nur für den Aspekt der sozialen Klasse, sondern auch für das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und traditionelle Organisationen der Arbeiterklasse in der aktuellen Bewegung?
Die wenigen unabhängigen Gewerkschaften, die es in den letzten zehn, zwanzig Jahren gab, wurden unterdrückt und ihre wichtigsten Aktivistinnen und Aktivisten sitzen im Gefängnis. Dadurch haben sie leider nur geringe Druckmittel und können auch nicht so viel effektiv bewirken. Dennoch gab es als Antwort zu den allgemeinen Protesten im Land auch einige Arbeiterproteste. Arbeiteraktivisten und Gewerkschaften haben fast alle ihre Unterstützung für die Bewegung ausgedrückt.
Wenn die Bewegung bestehen bleibt und die Krise anhält, besteht natürlich die Möglichkeit, dass die Arbeiterbewegung eine größere Rolle in dieser Bewegung einnimmt und ihr noch mehr Substanz verleiht. Bisher ist es jedoch noch nicht dazu gekommen.
Du beschreibst, dass der Protest von vielen sozialen Gruppen getragen ist. Gibt es dennoch Gruppen, die das noch Regime unterstützen?
Die Islamische Republik hat sich seit ihrer Gründung eine Basis unter der ärmeren Stadtbevölkerung, der informellen Arbeiterklasse, den Arbeitslosen und Bewohnerinnen und Bewohnern der Elendsviertel aufgebaut. Durch eine quasi-populistische Ideologie konnte das Regime diese sozialen Gruppen an sich binden. Aber in den letzten Jahren wurde diese Verbindung fragil. Ein Grund dafür ist, dass der Iran viele neoliberale Maßnahmen eingeführt hat, die im Gegensatz zu den Interessen der städtischen unteren Klassen standen. Aber auch die zunehmenden Sanktionen lasteten vor allem auf den unteren Klassen. Schließlich hat sich auch die Führung der Islamischen Republik öffentlich von der populistischen Ideologie distanziert.
Ich denke, man kann sagen, dass das Regime dadurch zu einem gewissen Maß seine traditionelle soziale Basis verloren hat. Aufgrund der Brutalität, mit der das Regime junge Frauen zusammenschlägt und umbringt, weil sie den Hidschab nicht tragen, wendet sich diese zunehmend auch auf einer moralischen und emotionalen Ebene vom Regime ab. Ich denke jedoch, dass das Regime noch nicht seine gesamte soziale Basis verloren hat. Es hat immer noch die Unterstützung von manchen traditionellen Segmenten der Gesellschaft. Wir müssen abwarten und sehen, wie weit diese Abwendung der traditionellen Unterstützerinnen und Unterstützer geht.
Welche Rolle spielen linke Kräfte im aktuellen Protest?
Leider ist auch der Einfluss der Linken durch ihre Unterdrückung begrenzt. Es gibt keine linke Partei, keine Organisation, die linke Positionen vertritt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Linke in den aktuellen Protesten keine Rolle spielt. Insbesondere Studierende, von denen viele links sind, prägen den Protest mit. Ich denke, darüber kann man hoffnungsvoll sein.
Es gibt sehr unterschiedliche ideologische Ansichten unter den Protestierenden. Manche sind pro-westlich eingestellt, manche wollen die Monarchie zurück. Die Studierenden skandieren: »Tod dem Tyrannen, ob es der Schah oder der Oberste Führer ist«. Sie sagen also sehr deutlich, dass sie den Obersten Führer nicht durch einen Monarchisten ersetzt haben wollen. Ich denke deswegen spielen sie eine wichtige Rolle, um die Ideologie dieser Bewegung progressiv zu verschieben.
In Städten auf der ganzen Welt hat es große Demonstrationen und Kundgebungen zur Unterstützung des iranischen Aufstands gegeben. Welche Rolle spielt die iranische Diaspora in den Protesten?
Die iranische Diaspora hat überall auf der Welt Ihre Unterstützung gezeigt, worüber wir uns freuen sollten. Es ist wirklich großartig, dass die Bewegung ein solches Echo rund um die Welt ausgelöst hat. Und ich denke, es ist für Iranerinnen und Iraner, die im Ausland leben, wirklich wichtig, die iranische Stimme außerhalb des Landes zu sein.
Jedoch sind manche in der Diaspora so entschlossen gegen das Regime, dass sie alle politischen Kräfte unterstützen, die dabei helfen könnten, es zu stürzen. Und ich denke, das ist sehr gefährlich. Der Iran ist mitten in einem kalten Krieg: Auf der einen Seite steht der Iran und auf der anderen Seite stehen die USA und ihre regionalen Verbündeten Saudi-Arabien und Israel. Jeder, der will, dass sich die Lage im Iran verbessert, sollte sehr vorsichtig sein. Denn diese Bewegung könnte leicht kooptiert und zu einem Werkzeug in diesem regionalen Konflikt werden.
Weil Teile der iranischen Opposition einen Regimewechsel zu jedem Preis wollen, passen sie nicht auf, mit wem sie Allianzen bilden. Ein Beispiel war der massive Protest in Berlin. Die meisten Protestierenden, Iraner oder nicht-Iranerinnen, sind natürlich dorthin gegangen, um den Kampf der iranischen Bevölkerung um ihre Freiheit zu unterstützen. Aber die Leute, die diesen Protest organisiert haben, hatten sehr spezifische Forderungen, die sie dort vorgelesen haben. Dabei haben sie nicht zu den Bevölkerungen Deutschlands und anderer westlicher Staaten gesprochen, sondern sie haben sich direkt an die Regierungen der G7 gewandt und gefordert, die diplomatischen Verbindungen und Verhandlungen mit dem Iran abzubrechen.
Die Organisatorinnen und Organisatoren behaupten, dass sie den Druck auf das Regime erhöhen müssen und dass dies der Bewegung helfen würde. Ich bezweifle jedoch, dass ihre politischen Forderungen eine solche Wirkung haben werden. Der Druck der westlichen Regierungen – der meist in Form von Sanktionen ausgeübt wurde – kann dieser Bewegung nicht helfen. Wenn er überhaupt eine Wirkung hat, wird er die Regierung dazu bringen, noch repressiver gegen die Bewegung vorzugehen. Wenn die Regierung sieht, dass die Bewegung zu einem Instrument der internationalen Diplomatie geworden ist, wird sie alles tun, um sie zu unterdrücken.
Helfen Sanktionen systemkritischen Bewegungen und sollten sich Menschen im Westen dafür einsetzen, um den Aufstand im Iran zu unterstützen?
Ich denke, die Antwort ist ein klares »Nein«. Wenn man sich die Geschichte westlicher Sanktionen anschaut, sieht man, dass sie in keinen Fällen etwas Positives oder Progressives bewirkt haben. In Hinblick auf den Iran haben Sanktionen viel eher dazu geführt, dass die iranische Regierung noch härter gegen die Zivilgesellschaft vorgeht.
Die unausgesprochene Annahme von Befürworterinnen und Befürwortern von Sanktionen ist häufig, dass Sanktionen die Menschen in Armut treiben werden und wenn Leute in Armut leben, werden sie schließlich auf die Straße gehen und einen Regierungswechsel durchsetzen. Zwar ist es in der Realität tatsächlich so, dass die Leute verarmt und frustriert von der Regierung sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie auch etwas verändern können.
Die Vorstellung, dass Leute, wenn sie arm sind und sich in einer schlechten ökonomischen Situation befinden, eine Revolution anzetteln werden, ist eine Fehlannahme. Tatsächliche Revolutionen in der Geschichte sind nicht so zustande gekommen. Menschen brauchen die Mittel, um ein System zu verändern, sei es durch eine Revolution oder Reformen. Sie müssen organisiert sein und sie brauchen eine klare Vision.
Die Sanktionen im Iran haben den Leuten all diese Mittel genommen. Durch die Verhängungen immer härterer Sanktionen durch die USA und anderer westlicher Regierungen in den letzten zehn Jahren, ist das Iranische Regime um einiges brutaler geworden. Ein Grund dafür ist, dass die Regierung vor zehn Jahren noch wusste, dass die brutale Unterdrückung von Andersdenkenden Kosten für sie haben könnte, weil sie eine neue Welle von Sanktionen auslösen könnte. Die Regierung war also vorsichtiger in ihrer Anwendung von Gewalt gegen Andersdenkende.
Als ich studentischer Aktivist im Iran war, hat die Regierung Aktivisten für 1,2 Jahre ins Gefängnis gesperrt. Aber jetzt, da der Westen bereits alle Sanktionen verhängt hat, die ihm zur Verfügung stehen, ist die Regierung noch viel brutaler geworden. Heute kann ein studentischer Aktivist für zehn bis fünfzehn Jahre ins Gefängnis gehen. Sanktionen haben den Iran in ein Land verwandelt, in dem Leute unter schlechteren Bedingungen leben. Das bedeutet, sie haben auch weniger Mittel, um etwas positiv zu verändern.
Eine andere Frage ist natürlich, ob es moralisch vertretbar ist, Sanktionen zu verhängen, die die Bevölkerung treffen. Sollte man Leute, die unter einer Diktatur leben, in die Armut treiben und für die Handlungen ihrer Regierungen bestrafen? Ich denke nicht.
Könnten denn solche Sanktionen gerechtfertigt sein, die nicht der Bevölkerung schaden, sondern nur der Regierung?
Ich habe grundsätzlich nichts gegen Sanktionen, die sich ausschließlich gegen einzelne verantwortliche Persönlichkeiten richten. Jedoch bezweifle ich, dass viele dieser sogenannten Smart Sanctions tatsächlich etwas bewirken und effektiven Druck ausüben können. Kürzlich hat die EU beispielsweise den Kopf der Sittenpolizei sanktioniert, sodass dieser nicht mehr in die EU einreisen kann. Die Sache ist jedoch, dass er ohnehin nicht in die EU reisen wollen würde.
Andererseits gibt es aber auch Sanktionen, von denen behauptet wird, dass sie nur die Verantwortlichen treffen, in der Realität aber auch Teile der Bevölkerung treffen. Ein Beispiel ist die Einstufung der Iranischen Revolutionsgarden als Terrororganisation durch Trump und später auch Kanada. Im Iran gibt es einen verpflichtenden Militärdienst für Männer, wobei man sich nicht aussuchen kann, ob man diesen beim regulären Militär oder bei den Revolutionsgarden absolvieren muss. Für solche Leute, die ihren Militärdienst bei den Revolutionsgarden machen mussten, obwohl sie die Organisation vielleicht ablehnen, wird es nun viel schwieriger oder unmöglich, ein Visum für die USA zu bekommen. Sie werden also für etwas bestraft, wofür sie sich selbst nicht entschieden haben.
Nima Tootkaboni ist Exil-Iraner und Soziologie-Doktorand an der Johns-Hopkins-Universität in den USA. Während seines Studiums in Teheran war er in der sozialistischen Organisation »Students for Equality and Freedom« aktiv.