22. Februar 2022
Wladimir Putin behauptet, er entsendet Truppen in den Donbass, um unterdrückte Minderheiten zu schützen. Das ist zynisch und durchschaubar. Wenn der Westen bei der Eskalation mitzieht, steigt die Kriegsgefahr.
Russische Panzer bei einer Militärübung, 3. Februar 2022.
In seiner Rede, in der er die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ankündigte, schien Wladimir Putin seine »humanitären« Absichten zu betonen. Der russische Präsident behauptete, die Ukraine sei ein »bolschewistisches« Konstrukt ohne »Tradition der Staatlichkeit«. Er warf dem »Regime« in Kiew vor, »den Weg der Gewalt, des Blutvergießens und der Gesetzlosigkeit« zu beschreiten und »nur militärische Lösungen für die Donbass-Frage« anzuerkennen. Selbst als Putin russische Panzer in den Donbass schickte, behauptete er felsenfest, es handele sich dabei um »Friedenstruppen«.
Dies wirft die Frage auf, inwieweit die russische Bevölkerung glaubt, dass Putin im Donbass unterdrückten Minderheiten zu Hilfe komme – und inwieweit diese Minderheiten einen solchen »humanitären Schutz« wünschen. Auch wenn man im Westen davon ausgeht, dass der Kreml der alleinige Aggressor ist, scheint die Haltung der russischen Bevölkerung widersprüchlicher zu sein. Das liegt mitunter auch an den Handlungen westlicher Regierungen, die von Putin instrumentalisiert werden, um ein Narrativ der äußeren Bedrohung zu konstruieren. Bis heute bleibt offen, ob es seiner Regierung wirklich gelungen ist, die Unterstützung der Bevölkerung für einen offenen Krieg mit der Ukraine zu gewinnen.
Gerard Toal ist Autor von Near Abroad: Putin, the West and the Contest for Ukraine and the Caucasus. Er und seine Kollegen haben die Bevölkerung der Südostukraine, des Donbass und der Krim zu ihren Ansichten über den Konflikt und ihre Lebensverhältnisse dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR befragt. Für JACOBIN hat David Broder mit ihm über die Wurzeln des Konflikts, die öffentliche Meinung in den Grenzregionen und die Agenda der Putin-Regierung gesprochen.
In Ihrem Buch erörtern Sie, wie wir im Westen über unsere eigenen Handlungen in moralischen oder juristischen Begriffen sprechen, während die Handlungen Russlands als eine hochgradig zentralisierte, entschlossene Strategie zur Wiederherstellung eines Imperiums dargestellt werden. Sie scheinen stattdessen die eher kontingenten Aspekte der Handlungen der russischen Regierung zu betonen, einschließlich ihrer psychologischen Reaktionen auf die Ereignisse.
Ja, das ist entscheidend. Putins psychologische Veranlagung ist eindeutig sehr wichtig für diese Krise. Seine Rede, in der er die Anerkennung der beiden Donbass-Vertreterstaaten rechtfertigte, war eine epische Tirade mit düsteren Implikationen. Aber natürlich hat das Ganze auch einen strukturellen Hintergrund. Im Moment können wir beobachten, wie zwei große Theorien über die Krise aufeinanderprallen.
Die erste besagt, dass diese Krise das Ergebnis einer imperialen Essenz ist, welche auf russischer Seite schon immer vorhanden war: Putin tut genau das, was er wahrscheinlich schon immer getan hätte, denn so verhalten sich russische Staatsoberhäupter nunmal. In den Sozialen Medien werden Vergleiche zu den Bombenanschlägen von 1999, dem Georgienkrieg von 2008, der Intervention auf der Krim 2014, der Intervention in Syrien und so weiter gezogen. Demnach sei Putins gestrige Rede ein Ablenkungsmanöver. Durch »aktive Maßnahmen« versuche er, eine Krise zu provozieren, um seine imperiale Agenda zu rechtfertigen.
Die Alternative dazu ist eine kontingente Krisentheorie, bei der es vor allem darum geht, was der Westen tut, und wie Russland – und insbesondere Putin – darauf reagiert. Entscheidend ist, dass wir die Interaktion zwischen diesen beiden Seiten und die entstehenden Sicherheitsdilemmata verstehen. Dazu gehört die Anerkennung unserer Handlungsfähigkeit, denn die erste Theorie präsentiert den Westen wie einen unsichtbaren Unschuldigen: Wir sind nicht Teil des Konflikts, weil dieser nur von Putin ausgeht, und weil er eine Konsequenz der besonderen Natur Russlands sei.
Ich denke, es ist wichtig, die Krise auf eine Weise darzustellen, die Ereignisse und Prozesse berücksichtigt: So können wir die Pfadabhängigkeiten erkennen, die dazu führten, dass wir diesen Punkt erreicht haben, weil an einer Reihe von kritischen Wendepunkten die eine und nicht die andere Richtung eingeschlagen wurde. Das ist wichtig, damit wir bei der Betrachtung dieses Moments – so wie es ein künftiger Historiker tun könnte – nicht vergessen, dass es sich in gewisser Weise um eine Krise handelt, die gemeinsam geschaffen wurde. Es geht nicht darum zu sagen, dass beide Seiten genauso viel Schuld tragen. Es geht darum, die empirische Arbeit zu leisten, die notwendig ist, um zu verstehen, was gerade passiert. Nur so können wir einen analytischeren Diskurs über diese Krise führen.
Sie haben die in letzter Zeit weit verbreiteten Analogien zum Georgien-Krieg 2008 kritisiert. Trotzdem schildern Sie in Ihrem Buch, wie sich Dmitri Medwedew, der damalige russische Präsident, einer sehr »humanitären« Rhetorik bediente, um sich für ein bedrohtes Volk einzusetzen. Warum ist diese Analogie unpassend?
Heute hören wir viele Scheinwahrheiten über den Konflikt von 2008. Damit meine ich Aussagen, die sich wahr anfühlen und wahr sein sollten, aber nicht wahr sind. Diese Darstellung besagt, dass Russland in Georgien einmarschiert ist, weil es das schon immer vorhatte. Dieser Erzählung nach haben sich die unschuldigen, tapferen Georgier gewehrt und der Westen hätte viel entschlossener reagieren müssen, als Russland damit eine rote Linie überschritt. Diese Version des Jahres 2008 ist Teil einer umfassenderen Theorie eines sich entfaltenden russischen imperialen Wesens. Sie ignoriert die empirischen Erkenntnisse zu den damaligen Geschehnissen.
Diese Krise wurde gemeinsam verursacht und hätte vermieden werden können. Die georgische Führung hatte die Wahl und hat leider in kritischen Momenten einige sehr schlechte Entscheidungen getroffen. In Südossetien kam es im August 2008 zu einem Konflikt niedriger Intensität zwischen den verschiedenen Parteien. Es wurden Morde und Bombenanschläge verübt und dann beschossen Scharfschützen die Region Zchinwali, was für beide dort lebenden Gemeinschaften wirklich furchtbar und beängstigend war. Die Osseten beschlossen, einen Teil der Bevölkerung zu evakuieren, weil sie eine Invasion in ihr Gebiet, ihren de facto illegalen Separatistenstaat, befürchteten. Sie sollten Recht behalten, denn Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hatte etwas leichtsinnig angekündigt, er würde versuchen, diese Gebiete zurückzuerobern, obwohl die meisten Analysen davon ausgingen, dass Abchasien zum Krisenherd werden würde.
Saakaschwili hatte seine Armee aufgerüstet. Es war offensichtlich, dass der russische Staat eine Entscheidung getroffen hatte, die Saakaschwili hätte erkennen müssen, was er aber nicht tat: Russland würde ihm nicht erlauben, die De-facto-Staaten in Abchasien und Südossetien aufzulösen. Dies steht im Gegensatz zu dem, was die Russen 2004 in Adscharien taten, als sie mit Saakaschwili zusammenarbeiteten, um Georgien die Kontrolle über ein Gebiet zu ermöglichen, das lange von einem äußerst korrupten Machthaber, Aslan Abaschidse, kontrolliert wurde. Die Russen erleichterten im Wesentlichen den Abgang von Abaschidse, aber Putin sagte zu Saakaschwili: »Wir werden euch keine weiteren Gefallen tun«. Saakaschwili zeigte eine Menge Selbstüberschätzung und militaristischen Optimismus. Um es kurz zu machen: Aus einem Konflikt geringer Intensität wurde ein Krieg, als sich Saakaschwili entschloss, einen Plan umzusetzen, den er zusammen mit internationalen Militärberatern entwickelt hatte, um Zchinwali zu umzingeln und die Russen vor vollendete Tatsachen zu stellen, bevor deren Armee reagieren konnte – die kroatische Operation Oluja im Jahr 1995 war eine wichtige Inspiration dieses Plans. Das war ein Fehler.
In diesem Krieg waren die Osseten zunächst auf sich allein gestellt. Die Eskalation begann mit einem Kriegsverbrechen, dem Abschuss von Grad-Raketen auf eine Stadt, bei dem Dutzende von Zivilisten getötet wurden (nicht alle waren evakuiert worden). Die übliche Geschichte des Krieges besagt, dass die Russen haltlose Anschuldigungen des »Völkermords« gegen die Georgier erhoben, um einen Grund für ihre Invasion in Georgien zu fingieren. Die Wahrheit ist, dass der Vorwurf des »Völkermords« zuerst von den angegriffenen Osseten geäußert wurde – das ist ein Standardvorwurf der Osseten aus dem frühen 20. Jahrhundert und er wurde von der südossetischen Führung schon vor 2008 gegen die Georgier erhoben – und von den Russen im Zorn übernommen. Solche Anschuldigungen sind ein fester Bestandteil des internationalen Diskurses über Interventionen in der Zeit nach dem Kalten Krieg und sie sind eng mit der Doktrin der »Schutzverantwortung« verbunden.
Die »Leitlinien« der Russen 2008 orientierten sich in Wirklichkeit am Kosovo- und dem Irakkrieg von 2003. Auch dort wurde der Vorwurf des Völkermords herangezogen, um den Einsatz militärischer Mittel zu legitimieren. Man erinnere sich, wie plötzlich von Halabdscha und dem Giftgasangriff auf die Kurden die Rede war, als die Bush-Regierung die Invasion von 2003 zu rechtfertigen versuchte. Dieses schreckliche Ereignis hatte sich fünfzehn Jahre zuvor ereignet, im Jahr 1988. Die Schutzverantwortung wurde leider zu einer flexiblen Doktrin, die instrumentalisiert wurde, um die Kriegstreiberei von Großmächten zu rechtfertigen. Für mich war der Kosovokrieg gerechtfertigt, nicht aber der Irakkrieg von 2003. Der [Georgienkrieg im] August 2008 war ein weiterer Missbrauch der Schutzverantwortung. Heute erleben wir, wie diese Doktrin zynisch erweitert wird, wenn Russland eine Farce der »juristischen Souveränität« inszeniert, um einen Krieg gegen die Ukraine führen zu können.
Das bringt uns zurück zu dem ersten Punkt, nämlich dem Umstand, dass der Westen sein Handeln als humanitär und Russlands Handeln als imperial erachtet. Aber wie wichtig ist es für die russische Führung, die öffentliche Unterstützung für einen Krieg im Voraus zu gewinnen, anstatt einen Krieg mit der Ukraine erst im Nachhinein zu rationalisieren?
Ich denke, selbst in einer Autokratie ist die Unterstützung der Bevölkerung zentral und notwendig, um Interventionen zu rechtfertigen. Selbst dort, wo die Medien kontrolliert werden, braucht man das Spektakel von Recht und Unrecht, die Fantasie eines Krieges zur Rettung von Menschen, die von einem bösen Anderen, einem Imperium, faschistischen Nationalisten usw. bedroht werden. Das war die Geschichte, die im Jahr 2008 erzählt wurde.
Seien wir ehrlich. Saakaschwilis Fehler war es, der Putin-Regierung die Möglichkeit zu geben, dieses Argument vorbringen zu können. Die Angabe, dass angeblich 2.000 Menschen getötet wurden, stammt von einem Beamten für öffentliche Angelegenheiten in der Republik Südossetien, der während des ersten Bombardements unter Beschuss stand. Darauf gehe ich auch in meinem Buch ein. Dieser Beamte geht durch die Stadt, er sieht tote Menschen in Autos und dergleichen. Als Propagandist bläst er die ganze Sache auf, um Russland ins Spiel zu bringen. Denn es war nicht klar, dass die Russen ihnen unbedingt zu Hilfe kommen würden.
Es gab dort russische Friedenstruppen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass der erste Angriff, bei dem georgische Truppen in Zchinwali einmarschierten, von südossetischen Milizen beantwortet wurde – junge Typen, die der Auffassung waren, ihre Stellung verteidigen und wie wild gegen die Georgier kämpfen zu müssen, da sie sonst ausgelöscht würden. In diesen ersten 24 bis 48 Stunden hatten die Südosseten das Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein. Dies wurde später zu einem Thema in der russischen Politik.
Sowohl in den USA als auch in Russland bedarf also jede Intervention eines humanitären Rahmens – sie muss gerechtfertigt sein. Es reicht nicht aus, sie mit strategischen Interessen und Staatsraison zu begründen. Das ist einfach nicht überzeugend genug.
Nun hat die russische Regierung ein echtes Problem. Der Krieg, den sie in der Ukraine will, wird von der russischen Bevölkerung nicht befürwortet, er ist sehr riskant und könnte für den Kreml extrem schlecht ausgehen. Er wird von der Bevölkerung in keiner Weise unterstützt. Bei der Krim war das anders. Ein Kapitel in Near Abroad beschreibt, wie die Krim als eine »Herzensangelegenheit« betrachtet wurde. Es gab eine affektive Geschichte, eine emotionale Verbindung zur Krim, die das Regime mobilisieren konnte, um die Bevölkerung für die Intervention zu gewinnen. Für den Donbass ist das so nicht der Fall. In Russland gibt es keinen Appetit auf diesen Krieg.
So wurde zum Beispiel eine kleine Minderheit der Bewohnerinnen und Bewohner des Donbass medienwirksam evakuiert. Ist die Tatsache, dass die russischen Medien nicht mehr tun, um die Bevölkerung auf einen größeren Krieg vorzubereiten, ein Indiz dafür, dass ein solcher Krieg nicht geplant ist?
Ich weiß nicht, ob wir das jetzt schon sagen können – sie haben den Krieg im August 2008 ziemlich schnell vorbereitet, ohne dass sie ihn vorher erwartet hätten. Als der Krieg ausbrach, war Putin in Peking und musste überstürzt nach Wladikawkas zurückkehren, um sich mit Kommandeuren zu treffen und bei der Koordinierung der russischen Reaktion zu helfen.
Ich denke also, wir könnten uns in einer sehr gefährlichen Phase befinden. Wenn es zu einem Zwischenfall käme, könnte das leicht zu einem großen Spektakel werden. Ich spreche den Ukrainerinnen und Ukrainern meine Anerkennung dafür aus, dass sie das nicht zulassen. Aber ihre Optionen sind begrenzt, da sie es mit einem Feind zu tun haben, der in der Lage ist, ein Spektakel zu erzeugen und die Menschen zu agitieren. Doch inwiefern die Menschen für einen Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen sind, ist noch offen und es dürfte schwierig werden. Es könnte eine sehr schmutzige russische Propagandakampagne werden.
Die treibende Kraft für diesen Krieg im inneren Kreis des Kremls ist ein geopolitisches Motiv. Es sind militärische und geostrategische Erwägungen. Es geht auch darum, zu strafen. Es gibt eine psychologische und emotionale Geschichte von Putin und der Ukraine, die hier eine Rolle spielt. Ich glaube nicht, dass das ausreicht, um die russische Bevölkerung zu überzeugen. Vielleicht liege ich hier falsch. Das hängt davon ab, wie sich das Ganze entwickelt. Aber deshalb halte ich diesen Krieg für die Putin-Regierung für riskant.
Zeigt sich hier eine Radikalisierung? Bedeuten die wirtschaftliche Schwäche Russlands, der Krieg von 2014 und die Sanktionen, dass die Stabilität der Putin-Regierung noch mehr von militärischer und geopolitischer Stärke abhängig geworden ist?
Auf die lange Sicht, ja. Es ist ganz klar, dass Putins Zustimmungswerte etwa 2012–13 sanken, und dann folgte das Spektakel von 2014. Viele Leute argumentieren, dass innenpolitische Gründe das Regime zu diesem Schritt treiben, soweit ich das beobachten kann, ist das nicht der Fall. Aber Putin ist sich ziemlich sicher: Er hat die Macht in der Hand. Seine Regierung ist brutal gegen Alexej Nawalny vorgegangen und hat abweichende Meinungen in den Medien weiter marginalisiert. Die Bevölkerung ist im Wesentlichen demobilisiert worden.
Daher glaube ich nicht, dass sie das brauchen. Ich denke, sie haben die Wahl, und ich denke auch, dass es sich hier sogar um eine Art Luxuskrieg handelt. Aus meiner Sicht geht es Putin eher um sein politisches Vermächtnis: Das ist Teil von ihm und der Gruppe, die ihn umgibt. Das sind alles eher klassische geopolitische Strategen, die sich in einem geopolitischen, ja zivilisatorischen Wettstreit mit dem Westen sehen. Sie erkennen, dass die Ukraine verwundbar ist und dass sie in dieser Region immer eine Eskalationsdominanz haben werden. Sie nutzen diesen Moment, um das zu demonstrieren, und wehren sich gegen eine ihrer Meinung nach ungerechte Sicherheitsstruktur, die geschaffen wurde, als Russland noch schwach war.
Seit 2014 führen Sie und Ihre Kollegen Umfragen im Südosten der Ukraine durch. Inwieweit haben Sie den Eindruck, dass sich die Bevölkerung in den Grenzgebieten mit den lokalen selbsternannten Verwaltungen – den Volksrepubliken Donezk und Luhansk (DNR/LNR) – oder mit Putin identifiziert? Und inwieweit akzeptieren sie seine Darstellung des Konflikts und der angeblichen ukrainischen Bedrohung?
Zunächst ließe sich viel über die Schwierigkeiten von Umfragen in Konfliktgebieten sagen. Wir haben Menschen befragt, die noch im Donbass leben, aber viele andere wurden nach Russland oder in andere Teile der Ukraine vertrieben. Es geht also um die 2,5 oder 3 Millionen Menschen, die in einem Gebiet leben, in dem zuvor 5 oder 6 Millionen Menschen gelebt haben (die Vorkriegsgebiete Luhansk und Donezk zusammengenommen); aber auch das wissen wir nicht genau, da es in der Ukraine seit über zwanzig Jahren keine genaue Volkszählung mehr gegeben hat.
Wie wir in unserem Beitrag vom 12. Februar in der Washington Post erörterten, haben wir unter anderem herausgefunden, wie eng materielle Verhältnisse mit den Einstellungen der Menschen in dem betreffenden Gebiet zusammenhängen. Der Donbass ist eine wirtschaftlich geschwächte Industrieregion, die schon vor dem Krieg 2014 eine enorme Rezession erlebte, die wiederum die lokale Wirtschaft in den Ruin trieb.
Die Menschen in den noch ukrainisch kontrollierten Teilen des Donbass stehen ihren lokalen Behörden etwas kritischer gegenüber als die Menschen in der LNR und DNR, deren Behörden im Wesentlichen von Moskau unterstützt werden. Das bedeutet nicht, dass letztere populär sind. Es gibt sehr gemischte Gefühle. Auf die Frage, ob diese Behörden gut zusammenarbeiten oder ob sie korrupt sind und für die eigene Tasche wirtschaften – mit der Option, die Frage nicht zu beantworten, oder anzugeben, es nicht zu wissen –, antwortete eine beträchtliche Anzahl der Befragten, dass sie diese Behörden für korrupt halten. Die Frage nach dem zukünftigen politischen Status der Region bestätigt diese Haltung ebenso. Es gibt so gut wie keine Unterstützung für die Unabhängigkeit der DNR oder der LNR: Die Mehrheit der Menschen, die wir befragen konnten, wollen sich Russland anschließen, wenn auch natürlich nicht alle. Obwohl die Anliegen der Menschen wirtschaftlicher Natur sind, wird ihnen diese geopolitische Frage aufgezwungen.
Lässt man Fragen der Autonomie beiseite, so hat der Beitritt zu Russland für die meisten Menschen die höchste Priorität, und das hat wirtschaftliche Gründe – es ist wichtig, das zu betonen. Russland ist viel wohlhabender als die Ukraine. Diese Menschen haben in einer postsowjetischen Ukraine gelebt, von der sie herzlich wenig haben. Die Ukraine hat nur 80 Prozent des BIPs erreicht, das sie zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion hatte. Hinzu kommt, dass das BIP für das gesamte Land gilt, doch der Donbass war in der Sowjetunion ein industrielles Zentrum, dem es zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs noch recht gut ging; die Bergarbeiter von Donezk waren maßgeblich daran beteiligt, Gorbatschow zur Einleitung von Reformen zu zwingen. Jetzt ist die Wirtschaft zusammengebrochen.
In der Bevölkerung mag die Unabhängigkeit der DNR und der LNR nicht sonderlich populär sein, aber inwieweit verfolgen DNR und LNR ihre eigenen Ziele? Es gibt weitere Beispiele dafür, dass paramilitärische Gruppen, die sich auf einen größeren Staat berufen, in Wirklichkeit dessen Interessen verletzen. Besteht das Risiko, dass sie die Situation in einer Weise eskalieren lassen, die nicht im Interesse ihrer russischen Auftraggeber ist, wie es im Fall von Ossetien in gewissem Maße geschehen ist?
Abchasien ist vielleicht das beste Beispiel, denn die dort verwurzelte Bevölkerung hat andere Interessen als der Kreml und Moskau. In ähnlicher Weise sind die Südosseten zwar daran interessiert, Russland beizutreten, doch sie wollen sich vor allem ihren Verwandten in Nordossetien anschließen.
Der Donbass ist meiner Meinung nach anders. Im Gegensatz zu den Gebieten, in denen kleinere ethnische Gruppen leben, die in der Sowjetunion eine besondere Identität entwickelt haben, gründet die Identität des Donbass eher auf wirtschaftlichen Faktoren: Der Stolz ist ein Überbleibsel aus der Sowjetzeit, als der Donbass ein wirtschaftliches Zentrum war, das in der übrigen Ukraine für Wohlstand sorgte. Das ist eine andere Art von Identität als eine ethno-nationalistische.
Wie wirkt sich das auf die relative Autonomie der Gruppen dort aus? Es gibt dort jetzt eine Kriegswirtschaft. Es gibt Leute, die in den Krieg investiert haben und die ein Interesse an der Versorgung mit Kriegsmaterial haben. Damit ist eine Machtstruktur verbunden, die institutionalisiert ist und ein gewisses Gewicht hat. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass der Kreml den Krieg relativ schnell beenden könnte, wenn er das wollte. Seit 2014 gab es eine Reihe von unabhängigen Akteuren, die im Wesentlichen Mafia-Bosse und Psychopathen verschiedener Art waren, und mehrere wurden durch mysteriöse Attentate ausgeschaltet. Ich denke also, dass die DNR und die LNR nur sehr begrenzt handlungsfähig sind. Sie sind Diener des Kremls.
Einige englischsprachige Medien haben die mangelnde Entschlossenheit des ukrainischen Präsidenten Selenski und seine kritischen Äußerungen über die Aufregung um den drohenden Krieg kritisiert. Ihm wird vorgeworfen, er sei unfähig, mit dieser Krise umzugehen. Auch wenn die Analogie zu Georgien oft missbraucht wird, könnte man sagen, dass es eine positive Lektion gibt: 2008 eskalierte Saakaschwili die Lage auf ungeschickte Weise, doch Selenski könnte einen Kriegsausbruch vermeiden, wenn er Russland nicht provoziert.
Ich denke, das stimmt, und genau das tun sie auch. Ich glaube, die Biden-Administration leistet gute Arbeit, indem sie dem Versuch, einen casus belli zu schaffen, von Anfang an den Wind aus den Segeln nimmt.
Was Selenski anbelangt, habe ich Mitgefühl. Der Großteil seiner bisherigen Amtszeit überschnitt sich mit den letzten Jahren der Trump-Administration, in denen die Ukraine auf absolut grausame Weise instrumentalisiert wurde – sie fungierte im Wesentlichen als Fundgrube, in der man hoffte, auf Dinge zu stoßen, mit denen man Biden anschwärzen könnte. Einige der Leute, die Trumps Regierung beitraten, erachteten die Ukraine als antirussische Bastion; Kurt Volker spielte in diesem Kontext eine zentrale Rolle. Sie sind Hardliner, atlantische Maximalisten und Neokonservative. Sie hatten ihre eigene Art, die Ukraine zu benutzen: im Wesentlichen als Stellvertreter, um einen zivilisatorischen Krieg gegen Russland zu führen, Demokratie gegen Autokratie.
Ich habe also viel Sympathie für Selenski, weil er zwischen den großen Mächten gefangen ist. Diese Haltung ist in der Ukraine weit verbreitet, das haben auch unsere Umfragen gezeigt. Auf die Frage, ob die Ukraine ein Spielball sei, antworteten viele Menschen, dass sie nicht genügend Einfluss auf ihr Leben hätten und dass die Entscheidungen in weit entfernten Hauptstädten getroffen würden. Sie haben nicht das Gefühl, dass sie den Einfluss haben, den man sich als Bürger in einer idealen Demokratie wünscht. Selenski ist Teil einer Machtstruktur, die von bestimmten Oligarchen in der Ukraine unterstützt wird, fühlt sich aber selbst etwas machtlos angesichts des Konflikts zwischen dem Westen und Russland, der über seinen Kopf hinweg ausgetragen wird.
Als Selenski im Frühjahr 2019 gewählt wurde, stellte man ihn weithin als »Friedenskandidaten« dar. Ihm wurde nachgesagt, das Minsker Abkommen vorantreiben zu wollen, aber es scheint, dass er dem Druck nationalistischer Bewegungen nachgegeben hat und diese Position nicht einmal mehr rhetorisch vertritt.
Ja, er ist Gewaltandrohungen ausgesetzt und mit der Drohkulisse eines dritten Maidan konfrontiert, um ihn zu stürzen. Dieser Aspekt ist in der Bevölkerung der Ukraine sehr präsent, wie Wolodymyr Ischtschenko und andere dokumentiert haben. Das hat es ihm unmöglich gemacht, sich auf das Minsker Abkommen einzulassen. Also zieht er sich ins patriotische Lager zurück, so wie es sein Gegner Petro Poroschenko bei der letzten Wahl getan hat. Gegen ihn hat Selenski deutlich gewonnen, denn er versprach den Menschen Frieden und eine entspanntere Sprach- und Erinnerungspolitik. Russisch ist seine Muttersprache, und er stammt aus Krywyj Rih im Südosten, ist also ganz anders als Poroschenko.
Aber wir können und sollten alle Seiten kritisieren. Ich denke, dass es im Falle eines Krieges richtig und moralisch wäre, die einfachen Menschen in der Ukraine bei ihrem Kampf gegen eine Invasionsarmee zu unterstützen. Der Weg, den Putin eingeschlagen hat, ist düster, und wir müssen uns Sorgen machen, wohin er führen wird. Seit 1945 befinden wir uns in einer Situation, in der eine der Großmächte dazu in der Lage ist, andere Länder auf wirklich schreckliche Weise zu zerstören. Wir sind der Gnade der alten Männer ausgeliefert. Dessen müssen wir uns bewusst sein und jedes Gerede von einem Kampf der Zivilisationen unterlassen. Wir brauchen Deeskalation, Rüstungskontrolle und aktive Arbeit für den Frieden.
Das liegt auch daran, dass dies nicht die größte Bedrohung ist, der wir gegenüberstehen: Das ist immer noch der Klimawandel. All dies lenkt von einer Krise ab, die – vorausgesetzt, dass die derzeitige Situation nicht in einen Atomkrieg mündet – langfristig viel mehr Menschen betreffen und töten wird. Die Klimakrise erfordert konzertiertes und kooperatives Handeln und setzt voraus, dass wir die Geopolitik, dieses territoriale Konkurrenzverhalten der Großmächte, überwinden. Das ist eine große Aufgabe, über die ich in meinem aktuellen Buch zu schreiben versuche, indem ich die Probleme betrachte, die sich aus der Geopolitik als einer Form menschlichen Verhaltens ergeben.
Einige westliche Regierungen haben bereits Sanktionen gegen Russland angekündigt, und Olaf Scholz hat entschieden, die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu stoppen. Man scheint sich jedoch nicht darüber einig zu sein, ob die Geschehnisse bis dato bereits als »Invasion« gelten und wie darauf zu reagieren ist. Welche Auswirkungen werden diese Maßnahmen auf Russland haben?
Nach Putins gestriger Rede zu urteilen, wird dies keine Auswirkungen haben. Es könnte die Lage insofern verschlimmern, als Putin und das russische Militär die Anerkennung des Donbass und die Entsendung von Truppen dorthin als ersten Eskalationsschritt unterhalb der Schwelle einer klassischen »kinetischen« Invasion betrachtet haben könnten (dabei sei daran erinnert, dass weithin bekannt war, dass Russland dort bereits Truppen stationiert hatte). Wenn die EU und andere Länder jetzt umfangreiche Sanktionen verhängen, warum sollten sie dann nicht zu weiteren Eskalationen bereit sein? Harte Sanktionen würden zum jetzigen Zeitpunkt Putins Gefühl der Belagerung verstärken und ihn weiter in seiner Opferrolle bestätigen. Meines Erachtens befinden wir uns jetzt in einer sehr gefährlichen Eskalationsspirale.
Gerard Toal ist Professor an der School of Public and International Affairs der Virginia Polytechnic Institute and State University. Er ist Autor von Near Abroad: Putin, the West and the Contest for Ukraine and the Caucasus.
Gerard Toal ist Professor an der School of Public and International Affairs der Virginia Polytechnic Institute and State University. Er ist Autor von »Near Abroad: Putin, the West and the Contest for Ukraine and the Caucasus«.