01. August 2024
Queere Menschen kämpfen für eine befreite, gerechte Welt. Dass sie sich mit Palästina solidarisieren, ist daher nur konsequent.
Teilnehmende der Internationalist Queer Pride in Berlin, 27. Juli 2024.
Zur Zeit entsteht eine Allianz, die Rechte auf der ganzen Welt zur Weißglut treibt: Queere Menschen solidarisieren sich mit den Menschen in Gaza. »Queers for Palestine« prangt in westlichen Großstädten auf T-Shirts, viele der Demonstrationen gegen den israelischen Angriff auf Gaza werden von Queers angeleitet.
Vergangenes Wochenende fanden in Berlin zur Pride zwei große Demonstrationen mit zehntausenden Teilnehmenden statt, die beide unter dem Zeichen der Solidarität mit Palästinenserinnen und Palästinensern standen: der Dyke March für lesbische Sichtbarkeit und der antikapitalistische nicht-kommerzielle Internationalist Queer March. Wie zu erwarten, hatten konservative Kommentatoren in deutschen Medien daraufhin öffentliche Meltdowns. Wer glaube, queere Menschen seien in Gaza sicher, der halte wohl auch NS-Konzentrationslager für »Luftkurorte«, schrieb etwa Jan Feddersen in der taz. Holocaustrelativierungen sollen ja als antisemitisch gelten, doch bei der Verteidigung des rechtsextremen Regimes in Israels und seiner Menschenrechtsverletzungen sind schon lange alle Standards verrutscht.
Wenige Tage zuvor hatte sich der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu in einer umstrittenen Ansprache vor dem US-Kongress über Schwule, die einen Waffenstillstand fordern, lustig gemacht: Gays for Palestine, das sei wie Chickens for KFC. Dieser Slogan kursiert schon seit einiger Zeit unter Rechten. An der Metapher ist einiges schief. Zunächst muss gesagt werden, dass in den letzten Monaten sehr viel mehr queere Palästinenserinnen und Palästinenser durch israelische Bomben und die Hungerblockade gestorben sind, als durch homophobe Gewalt ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Darüber hinaus ist es jedoch nicht weiter erstaunlich, dass Schwule, Lesben und trans Personen ein besonderes Mitgefühl mit dem Leiden der Unterdrückten zeigen. Queers wissen wie es ist, Ausschluss und Gewalt zu erleben, wenn die Mehrheitsgesellschaft entschliesst, dass das eigene Leid nicht wert ist, betrauert zu werden.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Judith Butler – die unter Rechten verhasste Galionsfigur der Gender-Theorie – sich im Zuge des amerikanischen Angriffskriegs auf den Irak im Buch Gefährdetes Leben Gedanken darüber machte, wer überhaupt betrauert werden kann. Es ist nur eine Generation her, dass schwule Männer zu Hunderttausenden an der erst 1981 diagnostizierten neuen Krankheit AIDS starben. Der damalige US-Präsident brauchte vier Jahre, um das Thema überhaupt zu erwähnen. Mit seinem Zögern bei der Erforschung und Bekämpfung des Virus hat er sich für den Tod unzähliger queerer Menschen mitverantwortlich gemacht. Auch ihr Leben war es nicht wert, geschützt und betrauert zu werden. Erst Druck von der Straße führte dazu, dass schwule Männer als »worthy victims«, also als würdige Opfer, anerkannt wurden, wie Noam Chomsky in seinem Buch Manufacturing Consent diejenigen nennt, denen die Medien Menschlichkeit und Mitleid zugestehen. Heute gelten Palästinenserinnen und Palästinenser nicht als »worthy victims«, Queers im liberalen Diskurs aber sehr wohl. Darum bietet es sich an, die beiden Gruppen gegeneinander auszuspielen, um unsagbare Gewalt gegen Palästinenserinnen und Palästinenser zu rechtfertigen.
Eine weitere Kritik, die Kriegsverbrechen-Fans wie Feddersen immer wieder gerne anbringen: Wenn Queers sich für sexuelle Minderheiten stark machen wollen, warum demonstrieren sie dann nicht gegen die islamistische Hamas? Islamistische Faschisten sind mit ihrem misogynen Weltbild und ihrer teilweisen mörderischen Homophobie eindeutig keine politischen Verbündeten für Queers und Linke. Der Vorwurf, es gebe zu wenige Demos gegen die Hamas, ist dennoch absurd. Die Hamas gilt in Deutschland, der EU und der NATO als Terrororganisation. Sie ist bereits verteufelt. In Deutschland gegen die Hamas zu demonstrieren, macht genau so viel Sinn wie im Iran gegen die USA zu demonstrieren. Die israelische Kriegsführung hingegen wird vom deutschen Staat finanziell, diplomatisch, juristisch, ideologisch und materiell mit Waffenlieferungen unterstützt. Die Bundesregierung ist für Menschen, die in Deutschland leben und Steuern zahlen, ein klarer Adressat und sie hat die Macht, Forderungen auch umzusetzen.
»Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, bezeichnete 2023 den Pride-Marsch in Jerusalem als ›Beast Parade‹ und damit Queers als Bestien.«
In Gaza und auch anderswo im Nahen Osten gibt es zweifellos viele Vorurteile und auch Gewalt gegen queere Menschen. Aber müssen Menschen moralische Standards erfüllen, damit grundlegende Menschenrechte auch für sie gelten? Wer soll die moralischen Standards festlegen, nach denen entschieden wird, wer das Recht auf Leben, Würde und Freiheit hat? Laut der 1948 verabschiedeten UN-Menschenrechtscharta handelt es sich um allgemeine, also universelle Rechte. Sie gelten unabhängig davon, ob wir jemanden mögen oder nicht.
Wenn also Homophobie zum Entzug der Menschenrechte führt, bombardieren wir dann den Vatikan? Stecken wir polnische PiS-Wähler in Folterlager? Löschen wir Oberbayern aus? Auch Israel wäre dieser Logik nach nicht vor einer humanitären Intervention zum Wohle der Queers gefeit. Die juristische Lage für queere Menschen ist in Israel tatsächlich besser als in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens. Es gibt zwar keine Ehe für Alle, doch Ehen, die im Ausland geschlossen wurden, werden anerkannt. Homosexuelle Paare dürfen Kinder adoptieren. Der israelische Staat brüstet sich gerne mit diesen sozial fortschrittlichen Gesetzen. Seht ihr, sagen sie, Israel ist eine Oase für queere Menschen und so viel besser als die umliegenden mit uns verfeindeten arabischen Staaten – ihr im Westen müsst darum mit uns auf der selben Seite stehen.
Diejenigen, die einen solchen Schulterschluss fordern, machen sich zum nützlichen Idioten der israelischen Rechten. Bezalel Smotrich, Netanjahus Finanzminister, bezeichnete sich öffentlich als homophoben Faschisten. Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, bezeichnete 2023 den Pride-Marsch in Jerusalem als »Beast Parade« und damit Queers als Bestien. Das passt zur entmenschlichenden Rhetorik seines Chefs, der die Bewohner von Gaza als »Tiere« beschimpft hat. Sind das die Verbündeten, die die westlichen Verteidiger queerer Menschen wollen?
Der Missbrauch von LGBTQ-Themen, um sich ein progressives Mäntelchen umzuhängen, mit dem man unethische Praktiken verdecken kann, nennt man Pinkwashing, analog zum Greenwashing, dem Versuch durch homöopathische ökologische Maßnahmen eine Firma oder ein Produkt klimafreundlich aussehen zu lassen, selbst wenn es das nicht ist. An dieser Stelle sei gesagt, dass israelische Geheimdienste immer wieder Palästinenserinnen und Palästinensern androhen, sie öffentlich zu outen – was tatsächlich lebensbedrohlich sein könnte–, wenn sie sich nicht dazu bereit erklären, als Informanten für sie zu arbeiten. Queerfreundlich ist eine solche Erpressung nicht. Sollte man über die Menschenrechtsverletzungen Israels hinwegsehen, weil sie ein bisschen netter zu Schwulen sind als der Iran?
»Auch der Feminismus musste schon oft herhalten, um Angriffskriege zu rechtfertigen. Die Bush-Regierung begründete ihre Invasion und Besatzung Afghanistans unter anderem damit, afghanische Frauen vom Joch der Taliban zu befreien.«
Kritikerinnen und Kritiker beklagen, der Vorwurf des Pinkwashing sei antisemitisch. Doch Pinkwashing ist kein Konzept, das entwickelt wurde, um Israel anzugreifen. Vor allem Großkonzerne greifen gerne zu Pinkwashing. Die Deutsche Bank etwa klebt sich in den Pride-Monaten gerne einen Regenbogensticker an die Türen ihrer Filialen, obwohl die Bank konkret nichts im Interesse queerer Menschen unternimmt. Auch Taiwan betreibt Pinkwashing, in dem das Land immer wieder betont, es sei die erste Nation Ostasiens, in der die Ehe für alle geöffnet wurde. Damit versucht man sich im Gegensatz zu Festlandchina als liberale und damit militärisch unterstützenswerte Nation darzustellen.
Pinkwashing eignet sich besonders, um sich im Westen geopolitische Legitimation zu verschaffen. Denn dadurch löst man den linksliberalen Reflex aus, auf der Seite der Marginalisierten zu stehen. Dieser Reflex griff historisch auch bei anderen Themen: Großbritannien kolonisierte Nigeria mit dem erklärten Ziel, dort die Sklaverei abzuschaffen. Auch der Feminismus musste schon oft herhalten, um Angriffskriege zu rechtfertigen. Die Bush-Regierung begründete ihre Invasion und Besatzung Afghanistans unter anderem damit, afghanische Frauen vom Joch der Taliban zu befreien. Gerne wird dafür eine Gruppe auserkoren, die im Framing westlicher Journalisten nicht für sich selbst sprechen kann und die damit die Protektion des progressiven Westens benötigt. Damit unternimmt man eine Spaltung der Gesellschaft zum Beispiel in queere Palästinenser und Palästinenserinnen und die sie umgebende und unterdrückende patriarchale Mehrheit. Die Interessen (unter anderem nicht bombardiert zu werden und genügend Essen zu erhalten) von queeren Menschen in Gaza sind derzeit denen ihrer heterosexuellen Nachbarn viel näher als denen von queeren Journalisten in westlichen Großstädten. Man kann erst für sexuelle Befreiung kämpfen, wenn man grundlegende Menschenrechte hat.
»Dazu machen sich Linksliberale zu Handlangern der hiesigen Rechten. Die bekämpfen seit Jahren die sozialen und kulturellen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte.«
Auch wenn Israel verglichen mit arabischen Ländern beim Thema Queerness gut abschneidet, wohin führt dieser Vergleich? Israel ist ein westliches Land, OECD-Mitglied und – vielleicht noch viel wichtiger – Eurovision-Teilnehmer. In der Gegenüberstellung mit anderen OECD-Ländern sieht Israel ziemlich schlecht aus. Als sichtbar queerer Mensch durchs Stadtzentrum des angeblich so queerfreundlichen Tel Avivs zu spazieren, lehrt einem das schnell. In einer Umfrage, die das amerikanische Pew Research Center 2020 durchführte, antworteten nur 47 Prozent der israelischen Befragten, dass Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert sein sollte. Über die Hälfte der Bevölkerung Israels ist also homophob und dürfte nach der Logik der Netanjahus und Feddersens weggebombt werden.
Dazu machen sich Linksliberale zu Handlangern der hiesigen Rechten. Die bekämpfen seit Jahren die sozialen und kulturellen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte, sie verachten die Gleichheit der Geschlechter, wollen Abtreibung verbieten, Frauen zurück an den Herd verbannen, Migrantinnen entrechten, POCs aus der öffentlichen Sphäre vertreiben und Kindern die Möglichkeit nehmen, sich selbstbestimmt mit ihrer Sexualität und ihrem Geschlecht auseinanderzusetzen. Ihr Kulturkampf ist nicht nur in seinem eigentlichen Ziel erfolgreich, sondern verdrängt dringend nötige materielle Kämpfe um Löhne und Arbeitsbedingungen aus dem Diskurs.
Wer plötzlich Feministinnen, postkolonial forschende Akademiker oder Gendertheoretikerinnen wegen zahmer Solidaritätsbekundungen mit Palästinenserinnen und Palästinensern als Hauptfeind ausmacht, spielt das Spiel der deutschen Rechten mit. Dabei argumentieren die Befürworterinnen und Befürworter Israels erschreckend oft antisemitisch, etwa wenn sie Judith Butler als Strippenzieherin hinter den queeren Bewegungen darstellen, die wiederum darauf aus sei, die Jugend vom Pfad der Tugend abzuführen und damit die westliche Zivilisation (»Aufklärung!«) zu zerstören. Das ist ein typischer antisemitischer Topos. Damit reihen sie sich ein in die lange Liste von Gegnern von sozialem Fortschritt, die hinter all diesen für sie so schrecklichen Entwicklungen Jüdinnen und Juden ausmachen wollten – nur behaupten sie diesmal, das alles aus Sorge um Queers zu machen.
Sozialer Wandel und gegenseitige Akzeptanz erwächst am besten aus der Erfahrung gemeinsamer Kämpfe. Die kürzlich verstorbene Gewerkschaftsaktivistin Jane McAlevey erzählte gerne eine Geschichte über ein Krankenhaus in Kalifornien, wo sie das Pflegepersonal organisieren sollte. Die amerikanischen, weißen Krankenschwestern mochten ihre erst kürzlich eingewanderten philippinischen Kolleginnen nicht, beschwerten sich über stinkendes fremdländisches Essen in der Kantine, die komische Sprache und so weiter. Wenn sie nun die Pflegerinnen als Rassistinnen verdammt und weggelaufen wäre, so McAlevey, wäre der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, Renten und Löhne verloren gewesen. Doch am Ende des Arbeitskampfs sprangen nicht nur bessere Bedingungen fürs Personal raus – die weißen und die philippinischen Krankenschwestern hatten Arm in Arm den Eingang blockiert, um dem Management den Zutritt zu verweigern. Durch diese Erfahrung des gemeinsamen Kampfes wurden sie auch über kulturelle Grenzen hinweg zu Freundinnen.
»Die Demonstrationen queerer Menschen gegen die israelische Gewalt gegen Palästinenserinnen und Palästinenser hat das Potenzial zu einem Moment der Solidarisierung sehr unterschiedlicher Gruppen zu werden.«
Eine ähnliche Geschichte ereignete sich in den 1980er Jahren in Großbritannien: Als Margaret Thatcher 1984 einen Streik gegen die Schließung der staatlichen Kohlenminen aussitzen wollte, solidarisierten sich Schwule, Lesben und andere Queers aus den Städten mit den Kumpeln. Diese hatten gelinde gesagt keine gute Meinung über queere Menschen. Doch nach der Erfahrung, dass die Gruppe »Gays and Lesbians support the miners« für die Streikkasse der Minenarbeiter Spenden sammelte, unterstützten die Kumpel ihrerseits die Queers: 1985 erzwang die Kohlearbeitergewerkschaft am Labour-Parteitag eine Resolution zu LGBTQ-Rechten. Die Demonstrationen queerer Menschen gegen die israelische Gewalt gegen Palästinenserinnen und Palästinenser hat das Potenzial zu so einem Moment der Solidarisierung sehr unterschiedlicher Gruppen zu werden.
Auf Demos wie dem Dyke March oder der Internationalist Queer Pride in Neukölln erlebt man, wie Frauen im Kopftuch an trans Männer mit unter Netztshirt sichtbaren Mastektomienarben herantreten und sich dafür bedanken, dass sie eine Kufiya tragen und damit ihre Solidarität zeigen. Man erlebt, wie arabische junge Männer auf Demos mitlaufen, die sie vor Kurzem vielleicht noch mit Flaschen beworfen hätten. Vielleicht geben einige von ihnen ihren Freunden oder Familienmitgliedern Widerrede, wenn diese sich abschätzig über Schwule, Lesben oder Transmenschen äußern. Schließlich haben, sie selber gesehen, wie Queers für das Recht auf Leben der Palästinenserinnen und Palästinenser auf die Straße gegangen sind, wie sie von der Polizei verprügelt wurden, wie sie verhaftet wurden. Sie haben gesehen wie Queers selbstlos Solidarität gezeigt haben. Es ist eine Selbstlosigkeit, die sich die Genozid-Claqeure in den Redaktionen und Regierungen nicht vorstellen können. Und darum werden sie verlieren.
Caspar Shaller ist freier Journalist.