04. August 2023
Die Rassismusforscherinnen Barbara und Karen Fields sprechen im JACOBIN-Interview darüber, warum der neoliberale Antirassismus eine Sackgasse darstellt und weshalb es nötig ist, die Klassenpolitik wiederzubeleben.
Trinkwasserspender in Oklahoma City zur Zeit der Segregation, 1939.
Russell Lee, Public domain, via Wikimedia CommonsDie rechten Kulturkämpfe um Migration rücken seit Jahren die Diskussion um Rassismus in den Mittelpunkt der politischen Debatte. Die Linke ist dabei allzu oft in Abwehrkämpfe oder liberale Repräsentationslogik verstrickt. Das Verhältnis von Kapitalismus und Rassismus, von race und Klasse steht dabei selten im Zentrum der Diskussion. Dabei wäre genau das notwendig, angesichts von Ungleichheit, Überausbeutung und dem Sterben an den Grenzen des Globalen Nordens.
Im Podcast The Dig sprach Daniel Denvir Ende 2017 mit Barbara und Karen Fields über Polizeigewalt, die Illusion von race und darüber, wie wir für die Befreiung der Arbeiterklasse kämpfen können. Was die beiden Autorinnen des 2012 erschienenen Buches Racecraft: The Soul of Inequality in American Life zu sagen hatten, ist auch jetzt noch – nicht nur für den US-amerikanischen Kontext – ein wertvoller Beitrag zur linken Debatte um Rassismus und seine Funktionsweisen im Kapitalismus.
Der gesellschaftliche Kontext des Interviews ist das erste Jahr der Trump-Administration. Zuvor war unter der Obama-Regierung der Wohlstand der schwarzen Bevölkerung zusammengeschrumpft. Die Trump-Regierung machte Migrantinnen und Migranten zu den Sündenbocken der Wirtschaftskrise und schränkte die Bewegungsfreiheit ein. Zugleich stellte Trump angesichts der »Unite the Right«-Demonstration in Charlottesville weiße Rassisten und diejenigen, die sich ihnen auf der Straße entgegenstellen, als moralisch gleichwertig hin. So erlangte rassistische Gewalt eine vom Oval Office verliehene Legitimität.
In dieser erschreckenden Situation sah sich die US-amerikanische Linke dazu veranlasst, nach Erklärungen und nach den historischen Wurzeln dieser gesellschaftlichen Gemengelage zu suchen. Für Aufsehen in der Debatte sorgte dabei die Kritik des Philosophen Cornel West an den Positionen des Publizisten Ta-Nehisi Coates. Neoliberale würden Rassismus und White Supremacy nicht in ihrer Verknüpfung mit kapitalistischer Ausbeutung und globalen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen sehen und somit zwangsläufig zu der fatalistischen und fetischisierenden Annahme kommen, es handele sich dabei um unüberwindbare, naturwüchsige Phänomene. Dies löste nicht nur eine breite Debatte über die Ursprünge von Rassismus und Klassenungleichheit aus, sondern auch über die wirksamsten Mittel zur Bekämpfung von Rassismus in den USA und weltweit.
Dabei wurde deutlich: Um den Kampf gegen Rassismus als Klassenkampf zu führen, muss die Linke ein hartnäckiges ideologisches Erbe abschütteln. Denn die Dominanz des Neoliberalismus führt dazu, dass selbst viele Linke Ungleichheit als Ergebnis persönlicher Verantwortung oder deren Fehlen interpretieren, und Gesellschaftsanalyse durch einen Fokus auf sogenannte »race relations« ersetzen.
Das ist deshalb möglich, weil wir race als natürliche Kategorie begreifen und sich die Fiktion hält, dass bestimmte Eigenschaften die Mitglieder einer »race« definieren und sie von Mitgliedern anderer »races« unterscheiden. Niemand hat die Probleme mit dieser Art von Kategorienbildung besser diagnostiziert als Barbara und Karen Fields.
»Rassismus ist weder eine Einstellung noch Bigotterie, noch Vorurteil, sondern eine Handlung. Und es ist die Wiederholung der rassistischen Handlung, die race als ein reales Ding erscheinen lässt.«
Laut einer jüngeren Umfrage des Gallup-Institut sorgt sich die US-Bevölkerung dieser Tage wieder einmal ganz besonders um die sogenannten race relations. In diesem Begriff steckt die Annahme, dass die Probleme mit race in den USA auf einem beklagenswerten Mangel an zwischenmenschlicher Verständigung beruhen – und nicht auf Rassismus und dem System des Kapitalismus, welchesder Rassismus stabilisiert. Das Buch Racecraft: The Soul of Inequality in American Life hat mir die Augen geöffnet und gezeigt, inwiefern ein Begriff wie race relations auf einer ganz grundlegenden Ebene ein Problem darstellt. Denn wenn wir von race relations reden, gehen wir davon aus, dass es verschiedene Entitäten gibt, die wir als »races« bezeichnen: Weiße, Schwarze, Asiaten, Indigene, vielleicht sogar Hispanics. Die Idee von race, das zeigt racecraft, hat ihre Wurzeln in der Praxis des Rassismus und der eugenischen, biologisch-rassistischen Vorstellung, dass etwas – seien es Blut oder Gene – eine Reihe wissenschaftlich unterscheidbarer Gruppen von Menschen geschaffen hätte.
Die Schwestern Barbara Fields, Historikerin, und Karen Fields, Soziologin legen überzeugend dar, dass gerade unser Festhalten an der Idee von race dazu beiträgt, Rassismus aufrechtzuerhalten und zu stärken. Diese Idee stabilisiert auch das System des Kapitalismus, indem sie arbeitende Menschen effektiv daran hindert, ihr geteiltes Interesse am gemeinsamen Kampf gegen ihre Chefs zu erkennen.
Ich möchte Euch zu Beginn bitten, das zentrale Argument Eures Buches darzulegen. Ich will einen Versuch machen, ob ich es richtig verstehe: racecraft wirkt im Verborgenen und naturalisiert und verdinglicht die sichtbare Existenz von race, die wiederum eine Voraussetzung für Rassismus ist. Die Handlungen und die Praktiken des Rassismus sind aber der wirkliche Motor der historischen Wurzeln von race.
Barbara Fields: Es gibt da ein paar Probleme. Eines davon ist deine Aussage, race sei eine Voraussetzung für Rassismus. Es ist genau andersherum. Insofern der Rassismus eine Handlung ist, ist er eine Handlung mit zweierlei Maß, auf Basis zugeschriebener oder vermeintlicher Abstammung. Mit anderen Worten: Rassismus ist weder eine Einstellung noch Bigotterie, noch Vorurteil, sondern eine Handlung. Und es ist die Wiederholung der rassistischen Handlung, die race als ein reales Ding erscheinen lässt. Das ist es, was in der amerikanischen Geschichte geschehen ist.
Und der von Euch geprägte Begriff racecraft beschreibt diese Beziehung zwischen Rassismus und race?
Karen Fields: Racecraft beschreibt die Tatsache, dass race, welche sich den Subjekten als real darstellt, es in Wirklichkeit nicht ist; sie wird real gemacht und kollektiv als etwas Reales vorgestellt. Die Menschen beginnen zu denken: »Ich habe eine racial identity, ich gehöre zu einer ›race‹. Als schwarzer oder weißer Mensch habe ich bestimmte Eigenschaften. Ich bin klug. Ich verdiene es, ganz unten zu sein.« Und so weiter. Diese Vorstellungen werden den Menschen durch die erste Handlung einprogrammiert, die vorgeblich auf der Herkunft beruht. Das weist die Leute in ihre Schranken.
BF: Ich erkläre meinen Studierenden das Ganze manchmal, indem ich es mit einem Varieté vergleiche. Früher gab es diese Vorstellungen auf Jahrmärkten, in denen ein Zauberer eine Frau in zwei Teile schnitt. Das Ganze wurde mit Spiegeln und so weiter gemacht, aber es sah echt aus, und das Publikum war davon völlig gebannt. Am Ende der Show kam die Frau zusammen mit dem Zauberer wieder auf die Bühne, so dass jeder sehen konnte, dass es sich um einen Zaubertrick handelte. Racecraft ist ein Zaubertrick, für den man keinen Zauberer braucht. Das Gehirn der Zuschauer zaubert das Spektakel für sie.
»Die Idee von race verwandelt die Tat des Täters in ein Merkmal des Opfers. Race macht aus der Handlung einer Person das Wesen einer anderen.«
Racecraft endet nicht damit, dass der Darsteller und die Illusion in ihrem richtigen Wesen auf der Bühne erscheinen. Es ist eine permanente Illusion. Es kann eine todbringende Illusion sein. Eines der Beispiele oder eine Gruppe von Beispielen, auf die wir in racecraft immer wieder zurückkommen, ist das Beispiel des Polizeibeamten. Ein afroamerikanischer Polizist oder in einigen Fällen ein Latino-Polizist wird beispielsweise von seinen Kollegen für einen Kriminellen gehalten. Dies ist eine Folge von racecraft, die mit dem Tod von Menschen enden kann. Ein Polizist weiß von sich, dass er Polizist ist. Er erscheint aber als Schwarzer aus der Sicht eines anderen Polizisten, der ihn dann hinrichtet.
Ein solcher Vorfall wird dann gemeinhin so verstanden, dass die Person wegen ihrer Hautfarbe getötet wird. Ihr schreibt darüber, dass diese Interpretation die rassistische Handlung vom Täter auf das Opfer überträgt.
BF: Das ist einer unserer Hauptpunkte – dass die Idee von race die Tat des Täters in ein Merkmal des Opfers verwandelt. Race macht aus der Handlung einer Person das Wesen einer anderen. Wir sehen das jeden Tag, und auch die Menschen, die zur Zielscheibe werden, machen mit, weil sie nicht anders können. Es ist keine freiwillige Handlung. Es ist Teil dessen, was wir tun, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der rassistische Handlungen Realität sind.
KF: Die Menschen erleben es vielleicht so, dass sie es sich zu eigen machen. Sie glauben, dass sie das sind, was racecraft aus ihnen gemacht hat. Race ist eine Identifikation – das Anheften eines Etiketts oder eines Namens, an jemanden. Race ist keine Identität einer Person, aber im Nachdenken über Identität verwandelt sich race schnell in genau das. Wenn ich als schwarze Frau eine Identität habe, die nicht die einer schwarzen Frau ist, dann bin ich schlicht Karen Fields, und das steht an erster Stelle.
BF: Man sieht das deutlich an einem Vorfall aus dem Jahr 1999. Amadou Diallo, ein Einwanderer aus Guinea, wurde von der NYPD erschossen, weil die Polizei nach einem schwarzen Vergewaltiger suchte.
»Liberale Antirassisten verdrängen die Klassendimension der Gesellschaft völlig. So können sie über race und Rassismus in einem Vakuum sprechen.«
Die Zeitungen sprachen davon, dass ihm das wegen seiner Identität zugestoßen sei, was völlig falsch ist. Seine Identität hatte nichts damit zu tun, dass er in den Augen der Polizei vermeintlich ein Schwarzer war; er hielt sich wahrscheinlich, wenn er sich nicht als Guineer sah, für einen Malinké oder was auch immer seine Zugehörigkeit war. So dachte er über sich selbst, aber das spielte gar keine Rolle. Die Art und Weise, wie ihn die Polizeibeamten identifizierten, war ausschlaggebend für den Moment, nicht seine Identität, wie er sie definierte. Das ist eines der Merkmale von Rassismus. Auch wenn sich die Ziele der rassistischen Handlung vorstellen können, dass ihre race gleich ihrer Identität ist, und dass das eine Identifikation ist, für die sie sich entscheiden können, während andere sie anders identifizieren, bedingt der Rassismus, dass die eine Identifikation die andere außer Kraft setzen kann.
Eine Sache, über die Ihr sprecht, ist die selbst unter überzeugten Gegnern des Rassismus tief verwurzelte Überzeugung – oder eigentlich Ideologie –, dass Rassismus ein Vorurteil ist, das sich auf etwas Objektives namens race bezieht. Wie wirkt sich dieses Denken auf den liberalen Antirassismus aus?
BF: Der Punkt ist, dass liberale Antirassisten die Klassendimension der US-Gesellschaft völlig verdrängen. So können sie über race und Rassismus in einem Vakuum sprechen. Dann gerät man aber sofort in einen kontraproduktiven Kreislauf. Denn dann hat man Leute, die man als eine race identifiziert, die permanent Zielscheiben und Opfer sind, aber sie haben keinen Zugang zu Politik – man begreift das Ganze nicht einmal als eine politische Situation. Das ist ein Aspekt, den ich heute bei der Ausdehnung von Weißsein zu einem allumfassenden Ding sehe, das Politik und Geschichte komplett verschwinden lässt.
Weißsein scheint eine allumfassende Erklärungskraft bekommen zu haben. Einer der prominentesten Vertreter dieser Art von Denken – ein kluger, aber in gewisser Weise fehlgeleiteter – ist Ta-Nehisi Coates, ein führender Anhänger des »Whitelash«-Arguments, nach dem weiße Vorherrschaft und Weißsein nicht nur grundlegend, sondern scheinbar unveränderlich und naturwüchsig sind. Die derzeitige Popularität dieser Argumente erinnert mich an eine Zeile aus Eurem Buch, in der es um eine Auffassung von race geht, die im Grunde besagt, dass die Idee von race, nachdem sie historisch entstanden ist, aufhört, ein historisches Phänomen zu sein, und stattdessen zu einem externen Motor der Geschichte wird.
BF: Das erinnert mich an einen Satz meines Mentors, des großen Historikers C. Vann Woodward. Als er über die weiße Vorherrschaft in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts sprach, sagte er, die Frage sei nie die nach der weißen Vorherrschaft gewesen, sondern die danach, welche Weißen die Vorherrschaft gehabt hätten. Das ist eines der Dinge, die dieses Denken damals wie heute verdeckt: Nicht alle Weißen haben die gleiche Macht, und nicht alle Weißen befinden sich in der gleichen Klassenposition. Selbst wenn man zwar durchaus überzeugend argumentieren kann, dass sie alle Bigotterie und Vorurteile haben – selbst wenn man das tut – muss man dennoch anerkennen, dass nicht alle das gleiche Maß an Macht und Verantwortung haben. Deshalb können auch nicht alle die gleiche Rolle spielen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir aus dieser Situation herauskommen. Wir leben mitten in der unerbittlichsten und erfolgreichsten Phase des Klassenkampfes in der amerikanischen Geschichte. Die Zielscheibe sind arbeitende Menschen, alle Arten von arbeitenden Menschen, und je mehr wir uns erlauben, von den strukturellen politischen Gründen dafür abzusehen, desto mehr helfen wir denen, die uns auf den Fersen sind.
»Es gab eine Zeit so intensiver politischer Demobilisierung, dass eine große Anzahl von Menschen nicht mehr weiß, wo oben und unten ist.«
Offensichtlich ist Trump ein heftiger Rassist. Aber warum denkt Ihr, finden viele Linksliberale die Analyse von Trumps Aufstieg, die mit Weißsein und Rassismus beginnt und endet – also diese Analyse des Rassismus ohne politischen und ökonomischen Kontext – so attraktiv?
KF: Es ist nur ein Rätsel, solange wir außen vor lassen, wie wenig historisches Wissen die Leute haben und wie wenig sie darüber lesen, wie Klassengesellschaften funktionieren, sogar unsere eigene. Es ist verlockend zu denken, dass es nur um unsere Identitäten geht und darum, einfach besser miteinander auskommen zu können – also, wie wir gute race relations haben können. Die Leute wussten schon nichts über Klassen, als Baumwolle von Sklaven im Süden produziert wurde und von Weißen, die nichts zählten, in den Baumwollmühlen. Das ging nicht in die Geschichte ein, wie sie unsere Generation geerbt hat. Es ist gut zu sehen, dass das in letzter Zeit etwas stärker in den Blick gerät.
BF: Es gab eine Zeit so intensiver politischer Demobilisierung, dass eine große Anzahl von Menschen – sicherlich gilt das für Leute im Alter meiner Studenten, aber auch für die Leute, die sich gerne für die Meinungsmacher halten, die schreibenden und plappernden Klassen, die Leute, die für die breite Öffentlichkeit schreiben, und so weiter – nicht mehr weiß, wo oben und unten ist.
Meine Schwester und ich sind alt genug, um beim March on Washington 1963 dabei gewesen zu sein, der heute fast zu einem mythischen Ereignis geworden ist. Etwas, das sich uns eingeprägt hat, ist, dass viele der Menschen in der versammelten Menge die Abzeichen der United Auto Workers, der International Ladies Garment Workers Union, der Steelworkers, der Mineworkers und so weiter trugen. Die offizielle Bezeichnung der Demonstration war »Marsch für Arbeit und Freiheit«. Er war Teil der politischen Mobilisierung jener Zeit: Inmitten des Kalten Krieges und der antikommunistischen Säuberungen erkannten die Menschen den Zusammenhang zwischen Arbeiter- und Bürgerrechten. Der Ehrenvorsitzende, dessen Idee alles war, A. Philip Randolph, war in der Arbeiterbewegung aktiv, er war aktiver Gewerkschafter und setzte sich für die Rechte von Schwarzen ein. Diese Verbindungen waren derzeit so selbstverständlich, dass selbst Dummköpfe und politische Neulinge sie verstanden. Aber sie sind seit langem verschwunden, und das Ergebnis ist, dass, wenn in den Medien heute von der Arbeiterklasse oder Wählern aus der Arbeiterklasse die Rede ist, damit ausnahmslos Weiße gemeint sind. Die Leute haben vergessen, dass die meisten Afroamerikaner in diesem Land zur Arbeiterklasse gehören. Die meisten Latinos, wie auch immer man diesen zweideutigen Begriff definieren mag, sind arbeitende Menschen. Die meisten südostasiatischen Migranten sind arbeitende Menschen, und das Gleiche gilt für viele ostasiatische Migranten.
Wir haben zugelassen, dass diese Sprache in das Gespräch über das Weißsein einsickert. Das Ergebnis ist, dass sobald etwas passiert – wie es heute ganz aktuell gegen arbeitende Menschen geschieht – unsere Reaktion uns so spaltet, dass wir gar nicht mehr darüber sprechen können. Es geht dann um diesen Angriff auf People of Color oder jenen Angriff auf Schwarze, oder Immigranten, oder Dreamers, oder was auch immer. Aber auf diese Weise kommen wir nirgendwo hin, denn wir haben jede mögliche politische Allianz ausgeschlossen, bevor wir überhaupt versucht haben, sie aufzubauen. Wenn Ta-Nehisi Coates – ich mag ihn übrigens sehr und habe ihn ein paar Mal getroffen, und einige seiner Arbeiten sind sehr bewegend –, aber wenn er recht hätte, hieße das, dass es keinen Ausweg gibt. Es gäbe nichts, was wir tun könnten. Das erinnert mich an das, was die Leute über einen möglichen Atomkrieg sagten, als wir noch Luftschutzübungen hatten: Das Einzige, was man zum Abschied tun kann, ist, den Kopf zwischen die Beine zu stecken und seinen eigenen Hintern zu küssen.
Das scheint das politische Rezept zu sein, das sich aus dem Argument des naturwüchsigen weißen Rassismus ergibt. Das Einzige, was man dagegen tun kann, ist, den Kopf zwischen die Beine zu stecken und den eigenen Hintern zum Abschied zu küssen.
»Es sieht aus wie eine Beziehung zwischen Menschen oder zwischen races, aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine darunter liegende ökonomische Beziehung. Das ist die amerikanische Ideologie.«
Ein häufiges Argument ist ja, dass Versuche, über Klasse zu sprechen, eigentlich nur von Rassismus ablenken oder die weiße Arbeiterklasse für ihre Bigotterie entlasten sollen.
KF: Das ist ein verheerender, unverzeihlicher Fehler. Er bringt Menschen dazu zu sagen, dass race grundlegend ist – nicht die Ökonomie, nicht die Klasse – und wenn man Klasse ins Spiel bringt, dann versuche man, die Wirklichkeit der menschlichen Existenz und Identität zu leugnen. Das ist genau die große Mystifizierung, die racecraft erreicht. Es sieht aus wie eine Beziehung zwischen Menschen oder zwischen races, aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine darunter liegende ökonomische Beziehung. Das ist die amerikanische Ideologie. Wir haben eine Wirtschaftsordnung, die unantastbar ist, weil die Menschen in Identitäten leben, ohne zu verstehen, dass sie in der Welt der Arbeit leben. In der Ära einer starken Arbeiterbewegung haben sie Kämpfe für ihre Rechte ausgetragen, und jetzt ist das in den Augen einiger Leute nicht einmal mehr legitim.
BF: Ich würde gerne einige der Leute fragen, die so fest an der Erzählung hängen, dass alles mit der weißen Psyche zu tun hat: Was tun wir denn dagegen? Lehnen wir uns zurück und lassen zu, dass dieser Sattelzug über uns hinwegrollt? Oder tun wir etwas dagegen? Und wenn wir etwas tun: Was? Das Problem mit diesem Argument war immer: Wenn es hier um etwas geht, das den Weißen in die Wiege gelegt wurde, dann muss es doch auch allen anderen in die Wiege gelegt worden sein. Es muss auch den Schwarzen in die Wiege gelegt worden sein. Denn wenn man nicht glaubt, dass es in allen Menschen angelegt ist, dann ist man wieder bei der ersten Prämisse des Rassismus: Nämlich, dass es nicht nur eine menschliche Spezies gibt, sondern mehrere.
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Eine notwendige logische Konsequenz der Ursprungserzählung vom naturwüchsigen weißen Rassismus ist wiederum eine biologische Rassentheorie.
BF: Das muss so sein. Sie behaupteten ja, der Rassismus sei bei Weißen einprogrammiert, bei den anderen aber nicht. Und wie kann das sein? Nun, die einzige Möglichkeit ist es, eine wirklich alte und überholte Vorstellung der getrennten Schöpfung oder verschiedener Rassen zu vertreten. Ansonsten müssten wir davon ausgehen, dass diese Weißsein-Sache eine Schöpfung aller Menschen ist. Ich bin noch niemandem begegnet, der oder die bereit ist, dieses Argument in aller Konsequenz zu vertreten. Das würde ich aber gerne, denn ich möchte hören, was sie dazu sagen. Wenn die Weißen es haben, muss es dann nicht jeder haben? Und wenn es jeder hat, wie erklären sich dann die Momente in der Geschichte, in denen es möglich war, sich davon teilweise zu befreien? Als sich Risse in der Struktur zeigten? Als es Allianzen zwischen widerständigen Menschen gab?
Das andere große politische Problem mit der Vorstellung des naturwüchsigen Rassismus scheint mir darin zu bestehen, dass das Ende vom Lied für eigennützige weiße Menschen, die dieser Darstellung anhängen, logischerweise darin bestehen müsste, die weiße Vorherrschaft zu verteidigen. Wenn Rassismus gut für weiße Leute ist, wird das die Weißen nicht davon überzeugen, rassistisch zu sein? Es ist interessant, dass viele weiße Nationalisten und Rassisten ihre Auffassung heute als »Rassenrealismus« bezeichnen. Ein anderer Begriff, der in Mode ist, ist »menschliche Biodiversität«. Es ist bezeichnend, dass diese bekennenden weißen Rassisten sich offenbar sehr bewusst sind, dass der Glaube an einen urwüchsigen Rassismus ein entscheidender Bestandteil des Rassismus ist.
KF: Es ist ein Katechismus, der die inhärente Verschiedenheit von Menschen anhand von Namen behauptet, die Menschen für sie erfunden haben.
BF: Es nützt uns Linken nichts, zu glauben, dass die Werkzeuge des Tribalismus jemals Werkzeuge der Befreiung sein werden. Das können sie nicht sein.
»Das Rassendenken ist in diesem Sinne religiös. Es ist dazu da, die Frage zu beantworten, warum Menschen, denen es gut geht, gesegnet sind, und zu behaupten, dass mit denen, denen es nicht gut geht, etwas nicht stimmt.«
KF: Es gibt noch eine andere Dimension, die sich hier durchzieht. Für meinen Bildungsweg war der große Soziologe Max Weber prägend. In seiner Wirtschaftsethik der Weltreligionen schreibt er, ein zentraler Bestandteil von Religionen sei eine Erklärung für das Unglück: Eine Theodizee, die erklärt, warum es manchen Menschen gut geht und anderen nicht. Es herrscht Ruhe in der Gesellschaft, wenn alle diese Theodizee teilen.
Das Rassendenken ist in diesem Sinne religiös. Es ist dazu da, die Frage zu beantworten, warum Menschen, denen es gut geht, gesegnet sind, und zu behaupten, dass mit denen, denen es nicht gut geht, etwas nicht stimmt. Man will herausfinden, was es war: Ist es die Hautfarbe, die zu geringer Intelligenz oder Faulheit führt? So entsteht eine Sprache, mit der man Tatsachen oder Sachverhalte erklären kann, ohne dies tatsächlich zu tun. Stattdessen haben wir eine Mystik, die die Menschen dann annehmen. Sie haben die Objekte vor sich, sie haben die races, die täglich durch die Rituale konstruiert werden, die wir durchmachen. Die Rituale legen die Minderwertigkeit einiger Menschen und die Überlegenheit anderer fest. Barbara und ich betonen diese Handlungen, die stattfinden. Wir reden nicht über ein Ding oder eine Reihe von Ideen als ein Ding. Wir sprechen über Handlungen, in denen diese Ideen sowohl zum Ausdruck kommen als auch sich immer wieder reproduzieren. Im zweiten Kapitel unseres Buches geht es um Dinge, die man sehen kann, wenn man aufmerksam durch die Straßen geht: Rituale, die den einen Unglück und den anderen Glück bringen, und das Gefühl, das man hat, wenn man selbst dabei ist. Wenn man in dem Komitee sitzt, das die Segregationsgesetze in Charleston ausarbeitet, profitiert man psychologisch davon. Man erklärt die Situation anderer zur eigenen Zufriedenheit.
Das unterstreicht einen wichtigen Punkt, nach dem ich fragen wollte, nämlich wie die Praxis des Rassismus race immer wieder heraufbeschwört und schafft. Wir haben schon den Fall von Amadou Diallo erwähnt, dem man die Kategorie des Schwarzseins aufzwang und der 1999 in einem Hagel aus einundvierzig Kugeln starb. Weitere Beispiele dafür, wie Rassismus race reproduziert, ist die riesige Zahl schwarzer Menschen in den Gefängnissen und wie das nicht nur Schwarze als Kriminelle markiert, sondern auch Schwarzsein produziert. Ähnlich verhält es sich mit der Wohnungs- und Schulsegregation und damit, dass schwarze Ghettos oder fast ausschließlich schwarze öffentliche Schulen in Innenstädten für viele Menschen eher das Resultat einer Pathologie der Schwarzen als von Rassismus zu sein scheint.
BF: Das ist genau die Art und Weise, wie es in die Denkweisen von ganz normalen Amerikanerinnen und Amerikanern übersetzt wird. Das ist eine korrekte Darstellung davon, wie sie sich ihre Vorstellungen bilden. Sie lesen in der Zeitung, wie viele Schwarze im Gefängnis sitzen, und das trägt dazu bei, ihre Identifizierung von Schwarzen mit Kriminalität zu festigen. Sie müssen es gar nicht alles selbst erleben, um zu wissen, dass es eine Realität und eine Eigenschaft von Schwarzen ist.
Ein Kollege erzählte mir einmal von einer Bemerkung, die jemand gemacht hatte darüber, wie er oder sie sich fühlt, wenn eine schwarze Person sich auf der Straße nähert. Diese Person sagte: »Ich kann nicht anders, als an die Statistik zu denken, nach der drei von vier Schwarzen im Gefängnis sitzen«. Damit wollte die Person wohl sagen: »Ich habe gute Gründe, mich unwohl zu fühlen, wenn ein Schwarzer auf der Straße auf mich zukommt.« Mein Kollege antwortete: »Nun, wenn drei von vier Schwarzen im Gefängnis sitzen, dann können sie dich auf der Straße ja nicht ansprechen. Du brauchst dich also nicht vor ihnen zu fürchten.« Das ist eine reductio ad absurdum, aber so bilden Leute sich eben ihre Vorstellungen über andere Menschen, von denen sie sehr wenig wissen. Das prägt die Erfahrungen, die sie dann im Umgang mit diesen Menschen machen werden.
Gerade eben ging ich mit meinem Hund in einem Gebiet spazieren, das vom NYC Parks Department kontrolliert wird und an einen Spielplatz angrenzt, auf dem Hunde nicht erlaubt sind. Ein weißer Mann – ich muss ihn so bezeichnen, weil sich bald herausstellte, dass er genau das war – hatte seinen Hund neben dem Spielplatz angebunden, wo er nichts zu suchen hatte, während er am anderen Ende mit seiner Tochter auf der Schaukel spielte. Der Hund stand so, dass es für mich unmöglich war, mich mit meinem Hund zu nähern. Ich ging auf den Mann zu und fragte ihn, ob es sein Hund sei. Er ging sofort in den Angriffsmodus über. Er sagte: »Sind Sie die Parkpolizei? Ich bin nur mit meiner Tochter hier draußen. Es ist ein großer Park.« Ich habe nichts zu ihm gesagt; im Nachhinein dachte ich, ich hätte sagen sollen, dass man in einer solchen Situation auch einfach mit einem »Oh, es tut mir leid« reagieren könnte, wohl wissend, dass man im Unrecht ist. Stattdessen war dies seine Reaktion, alser eine ältere schwarze Frau mit ihrem Hund auf sich zukommen sah. Seine Reaktion hat nichts mit Respekt vor einer älteren Person oder vor dem Gesetz zu tun, und er ist sofort ein Weißer, der sich mit einer schwarzen Person anlegt. Er hat nichts davon gesagt und ich wünschte, ich hätte ihn dazu gebracht, es einfach auszusprechen. Ich bin Lehrende und ich habe einen Moment verpasst, in dem ich ihm etwas hätte beibringen können. Er steht da mit seiner zweijährigen Tochter und bringt ihr bei, wie man den großen Mann markiert.
KF: Rassist.
BF: Genau das ist er.
Es ist das Schlimmste, wenn einem die passende Antwort ein oder zwei Minuten zu spät einfällt.
BF: Meine Freunde sagen dazu Treppenwitz. So ein Moment, der alle möglichen ähnlichen Momente verkörpert. Das müssen auch nicht einmal nur rassistische Momente sein. Weil unsere Gesellschaft so ist, wie sie ist, nehmen diese Momente oft eine rassistische Form an. Weil die Person, die weiß, dass sie ihren Hund am falschen Ort angeleint hat und damit gegen das Gesetz verstößt, wenn sie von einer Schwarzen angesprochen wird, sich sofort auf das Terrain begibt, wo sie überlegen ist, und nicht daran denkt, dass dies ein Moment ist, in dem Höflichkeit und Mitgefühl Vorrang haben sollten.
Das erinnert mich an die Diskussion in Eurem Buch über W.E.B. Du Bois und den Begriff des doppelten Bewusstseins. Es wird beim Lesen des Buches ganz deutlich spürbar, dass Ihr beide von einer sehr verständlichen, lebenslangen Frustrationen darüber motiviert zu sein scheint, nicht als Karen und Barbara Fields angesprochen zu werden, sondern immer wieder als schwarze Frauen angerufen zu werden.
KF: Das ist richtig, das ist eine der Quellen des Buches. Wir haben ja auch immer wieder über Dinge gesprochen, die uns in den vermeintlichen Höhen der akademischen Welt passiert sind. Barbara kommt die Straße entlang und will jemanden begrüßen, den sie aus ihrem Gebäude kennt, und die Person springt auf, als würde sie angegriffen. Sie erkennt nicht, dass es sich um eine Kollegin handelt. Man kann praktisch keine Sekunde dort verbringen, ohne das Gefühl zu haben, dass man dort nicht hingehört. An der Universität schrieb ich mal einen Textentwurf mit dem Titel Race Matters in the American Academy, über subtile und weniger subtile Weisen, in denen in der Universität Überlegenheit etabliert wurde. Ich verteilte diese offene Liste mit dem Hinweis: »Schreibt mir zurück, wenn etwas davon nicht stimmt.« Niemand hat sich gemeldet.
BF: Unser Vater war Architekt und später in seiner Karriere hatte er ein eigenes Büro. Er war freischaffend und ein großer Teil seiner Aufträge kam von der römisch-katholischen Kirche. Eine Besonderheit an der Arbeit als Architekt ist, dass die Kunden ihn oft nicht persönlich sehen müssen. Viele seiner Kunden hatten also mit der Firma zu tun, aber sie wussten nicht, wer der Leiter der Firma war. Er erzählte uns, dass kein Tag verging, an dem ihn nicht jemand daran erinnerte, dass er schwarz war. Sein Büro befand sich im Obergeschoss eines dreistöckigen Bundesgebäudes in Washington, D.C. Wenn er sich mit einem Kunden treffen wollte, musste er die Treppe hinuntergehen. Er beschrieb uns das Gesicht dieser Person, die einen schwarzen Mann die Treppe hinunterkommen sieht und erkennt, dass dies Bob Fields der Architekt sein muss, mit dem sie gesprochen hatte. Und plötzlich materialisiert sich Bob Fields als schwarzer Mann und diese Person wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.
»Menschen, die aus Weißsein ein allmächtiges Monster machen wollen, sehen sich die strukturellen Details nicht an.«
Es gab Dutzende solcher Situationen, und sie lehren allen darin involvierten Personen so viel darüber, wie die Welt funktioniert. Ich habe in racecraft über einen dieser Fälle gesprochen. Es geht um einen kleinen Jungen, den Sohn einer Mitarbeiterin am Fachbereich an der Ole Miss (University of Mississippi), wo ich ein Semester lang lehrte. Die Mutter war eine weiße Frau, aber alle dort waren einfach Menschen. Eines Tages erzählte sie mir, dass ihr Sohn vom Spielplatz zurückkam und seine Mutter ihn fragte, ob der Spielkamerad schwarz sei, und der Junge sagte: »Nein, er ist braun.« Wir haben alle gelacht. Für uns alle war das eine Geschichte über die Unschuld der Kindheit und über die Tatsache, dass Kinder keine Ahnung von race haben. Sie haben kein natürliches Verständnis von Rassismus. Aber die nächste Ebene der Geschichte hat damit zu tun, was der kleine Junge lernte, als seine Mutter kicherte: Er lernte, dass die Antwort, die er gegeben hatte, nicht die richtige Antwort war. Die Erwachsenen mochten sie und lachten darüber, aber die Tatsache, dass sie lachen, sagt dem Kind, dass es nicht die richtige Antwort ist. Das nächste Mal, wenn ihm diese Frage gestellt wird, weiß das Kind also, dass die Frage, ob sein Spielkamerad schwarz ist, nicht nach einer Beschreibung, sondern nach einer Klassifizierung verlangt.
Das ist die Fehlerziehung eines jeden amerikanischen Kindes in Sachen racecraft.
BF: Ja, das ist es, aber es ist auch Oxford, Mississippi, in der Ole Miss, die immer noch in Schande lebt. Es ist auch ein Beispiel für eine weiße Person, die glücklich ist, weil ihr Kind frei von Rassismus aufwächst. Das ist es, was einen schmunzeln lässt. Eine Person, deren Glaube gut ist, deren Wille gut ist, deren Absichten gut sind. Sie reagiert auf eine Situation, die überall im Land passieren könnte, aber ihre Reaktion darauf ist: »Ich bin so froh, dass mein kleiner Junge kein Rassist ist«, und sie bringt ihm schließlich das bei, was eine befreundete Person als »Farbenlehre« bezeichnet.
Kinder müssen das erst lernen. Es ist nicht einprogrammiert. Wir haben das nicht automatisch. Irgendwie lernen sie, wie man Farben erkennt. Sie können es in ganz unschuldigen Situationen lernen, sogar in herzerwärmenden Situationen, oder sie lernen es in einem Swimmingpool eines Country Clubs. Karen kennt diese Geschichte besser als ich: Es gab ein Schwimmbad in einem Country Club, in das die Kinder gehen durften. Der Direktor hatte die Erlaubnis erteilt, aber die Mitglieder waren nicht eingeweiht. Es gab eine entsetzte Reaktion, als all diese schwarzen Kinder auftauchten. Ein kleines Mädchen - es sind Kinder, die nicht verstehen, was die Aufregung soll - fragte, ob sie zu dunkel sei, um schwimmen zu gehen.
Die schwarzen Kinder und vielleicht auch die hispanischen, ich bin mir nicht sicher, kommen in diesen Pool in einem Vorort von Philadelphia und die weißen Eltern geraten in Panik und ziehen ihre Kinder aus dem Wasser.
KF: Sie rennen, als käme etwas aus dem Dschungel.
BF: Soweit ich das verstanden habe, hatten die Kinder keine Angst. Sondern ihre Eltern sind in Panik geraten und haben ihre Kinder aus dem Wasser gezogen. Karen war diejenige, die zuerst auf diese Episode gestoßen ist. Sie wies darauf hin, dass jeder anständige Mensch sofort reagiert, der so etwas sieht. Karen bemerkte auch, dass hier die Nachrichtenmedien scheinbar bereit waren, aus der Sicht der schwarzen Kinder und ihrer Gefühle darüber zu berichten. In einer dieser Sendungen wurde über das Mädchen berichtet, das fragte, ob es zu dunkel sei, um schwimmen zu gehen. Karen fragte, was die weißen Kinder von der Situation hielten.
KF: Man hat nicht versucht, das herauszufinden.
Das ist genau die Art von Erlebnis, aus dem diese weißen Kinder lernen, die gleichen Ansichten über race zu haben, wie ihre Eltern, die sie aus dem Wasser ziehen.
KF: Das muss schrecklich gewesen sein.
BF: Der andere Punkt ist, dass die weißen Kinder anfangs genauso wenig wie die schwarzen Kinder wussten, worum es ging. Und einige von ihnen werden zweifellos reagiert haben, denn Kinder reagieren, wenn sie etwas sehen, das nicht fair ist. Das ist eine Reaktion, die bei kleinen Kindern in ihren eigenen Spielsituationen auftritt. Einige dieser weißen Kinder haben wahrscheinlich mit Verzweiflung auf das reagiert, was passiert ist.
KF: Und ihnen wurde von den Eltern gesagt, dass es eben notwendig, natürlich und normal sei?
BF: Ja, genau. Wir wissen nicht, welche Gespräche danach stattfanden und welche Fragen die weißen Kinder stellten. Menschen, die aus Weißsein ein allmächtiges Monster machen wollen, sehen sich die strukturellen Details von so etwas nicht an. Wenn sie das täten, müssten sie sich auf etwas konzentrieren, das historisch gewachsen und spezifisch für eine einzelne Situation ist.
Es ist kontingent und kann deshalb besiegt werden.
BF: Alle großen Denker, die sich mit menschlichen Gesellschaften befasst haben, gehen von der Annahme aus, dass wir, sobald wir herausgefunden haben, wie eine bestimmte Sache entstanden ist, auch herausfinden können, wie wir sie beenden können. Das war der Ansatz von Marx, als er im Kapital über den Kapitalismus sprach. C. Vann Woodward verfolgte diesen Ansatz, als er über die Segregation sprach: Trotz aller Angriffe, die Wissenschaftler seither auf seine Arbeit unternommen haben, lautete sein Hauptargument: »Wenn ich herausfinden kann, wie diese Sache begonnen hat, kann ich auch herausfinden, wie man sie beenden kann.« Wenn wir kein historisches Verständnis für diese Dinge haben, sind wir in einer Art Schleife gefangen wie bei Und täglich grüßt das Murmeltier. Die Sache geht immer weiter und weiter und weiter, und wir haben keine Ahnung, wie sie begonnen hat, und daher auch keine Ahnung, wie wir sie beenden können. Das ist das Problem mit dieser Art des Denkens.
Ihr habt den Begriff racecraft in Analogie zu witchcraft, also Hexerei gewählt. Wie versteht Ihr Hexerei und warum funktioniert diese Analogie für Euch?
KF: Es gibt einen Grund dafür, dass die Analogie funktioniert, der meinen Zwecken nicht dienlich ist. Die Leute denken, es ginge um reine Ablehnung, dass, weil Hexerei, weil sie nicht wahr ist, keinerlei intellektuellen Wert hat. Ich habe mich mit afrikanischen Religionen beschäftigt, bevor ich zu meinem jetzigen Projekt kam. In dem Gebiet, das ich untersuchte, gab es eine Erweckungsbewegung zur Beseitigung der Hexerei. Es handelte sich um eine sehr aktive Säuberung der Länder vom Bösen, und die Anthropologen begannen sich dafür zu interessieren, weil sie sich fragten, wie Menschen, die sonst eher praktisch veranlagt sind, auf solche Ideen kommen.
»Für mich war die Beschäftigung mit Hexerei wie ein Objektiv, das es mir ermöglichte, besser zu sehen, was in meiner eigenen Gesellschaft vor sich geht.«
Ein brillanter Denker, E. E. Evans-Pritchard, schrieb darüber, dass auch wir solche Ideen haben. Er schrieb das Buch Hexerei, Orakel und Magie bei den Azande, um zu zeigen, welche innere Logik hier am Werk war. Rationales Denken entwickelt sich zusammen mit Handlungen. Zum Beispiel glauben wir für gewöhnlich an Ursache und Wirkung: Wenn man einen Ball schießt, dann wird er sich normalerweise in eine Richtung bewegen. Wenn aber jemand sagt, dass du krank wirst, wenn du diese eine schwarze Person berührst, und das wird geglaubt, dann bedeutet das, dass wir es mit einem anderen Prozess zu tun haben. Wir sollten nicht annehmen, dass die Leute, die so etwas glauben, einfach dumm sind, sondern es gibt einen Prozess. Ein Faktor, der mit Glaubenssystemen einhergeht, die sich nicht auf kausale Prinzipien stützen, ist genau dieser: Man hat die Freiheit, eine soziale Realität zu erfinden, die jeder verbal und der Erfahrung nach teilt. Ich fand es also nützlich, über Hexerei zu lesen, weil es so viel Ähnlichkeiten gab. Wir haben kluge Leute und Dinge passieren. Wir haben Prognosen, die einfach nicht sterben. Man kann die Vorhersage, dass Schwarze dumm oder gewalttätig sind, nicht loswerden. Das geht einfach nicht. Für mich war die Beschäftigung mit Hexerei wie ein Objektiv, das es mir ermöglichte, besser zu sehen, was in meiner eigenen Gesellschaft vor sich geht.
Vielleicht hilft ein Blick auf Evans-Pritchards bekannteste Beispiele aus dem Buch, das ich als junger Anthropologiestudent gelesen habe, um die Analogie weiter zu verdeutlichen. Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es eine Szene, in der ein Gebäude, vielleicht das Dach eines Getreidespeichers, auf den Kopf eines Menschen fällt und ihn tötet, und sofort wird Hexerei vermutet. Was passiert da?
KF: Er sagt, dass dies ein Ereignis ist, das in die Kategorie der Dinge fällt, die als Folge von Hexerei geschehen können. Die von Evans-Pritchard beschriebenen Methoden sind orakelhafte Methoden oder Wahrsagemethoden. Man findet also heraus, was es ist. Hexerei oder etwas anderes. Darin sind sie Experten. Dann findet man auf die gleiche Weise heraus, wer es war. Man kann Beweise in der Leiche eines Verwandten der Person finden, die der Hexerei verdächtigt wird, und so weiter. Was die Rationalität an der Oberfläche der Dinge erreichen kann, ist nicht rational, denn Hexerei ist nicht möglich. Es ist erstaunlich. Im Zentrum der Hexerei steht, was ich vorhin erwähnte: das Theodizee-Problem. Warum passieren guten Menschen schlimme Dinge? Es gibt eine Reihe von Antworten. Die Leute sind nicht dumm, sondern es ist eine Art zu denken, die zutiefst menschlich ist.
BF: Wir haben unabhängig voneinander die Art und Weise, wie race in der amerikanischen Gesellschaft funktioniert, mit Hexerei verglichen. Ich tat dies in einem Artikel, in dem ich gegen die Anhänger der Primordialisten argumentierte, die meinen, dass es historisch nichts zu erklären gibt, weil dieses Denken bei Weißen schon immer da war. Wir landeten beide bei der Analogie der Hexerei. In beiden Fällen bestand der erste notwendige Schritt darin, dass wir uns in irgendeiner Weise intellektuell von der amerikanischen Gesellschaft und der amerikanischen Version des Rassendenkens distanzierten. Das kann eine tatsächliche physische Loslösung sein, aber man muss eine Möglichkeit haben, sich davon zu distanzieren. In einem anderen Artikel habe ich gesagt, es ist als würde man versuchen, etwas hochzuheben, während man selbst darauf steht. Man kann es aber erst anheben, wenn man herunter steigt. Das heißt, dass man sich von der Art und Weise distanziert, wie die Menschen in Amerika über race denken.
Am dramatischsten war das für mich, als ich einige Zeit in Tansania verbrachte, was Karen vor mir ebenfalls tat. Ich lernte Suaheli. In Suaheli wurden die Wörter für schwarz und weiß nie verwendet, um Menschen afrikanischer Herkunft von Menschen europäischer Herkunft zu unterscheiden. Wenn sie »nyeupe« und »nyeusi« benutzten, die in Suaheli für schwarz und weiß stehen, dann taten sie das auf die gleiche Weise, wie wir von blond oder brünett oder von heller oder dunkler Haut sprechen würden. So wie der kleine Junge. Es war eine farbliche Unterscheidung. Wenn sie tatsächlich versuchten, Weiß von Schwarz zu unterscheiden, so wie es Amerikaner tun, benutzten sie Wörter, die mit der nationalen Herkunft zu tun hatten. Ein Afrikaner war Mwafrika. Eine Person europäischer Herkunft war Mzungu, was gleichzeitig auch ein Amerikaner sein konnte.
»Ist es nicht amüsant, dass wir von der Wirtschaft sprechen, als wäre sie ein menschliches Wesen? Sie kann so depressiv werden wie eine Person. So etwas wie die Wirtschaft gibt es nicht.«
Eine besondere Episode, die mir die Dinge klar machte, war die einer Afroamerikanerin, die einen Tansanier geheiratet hatte und lange Zeit in Tansania gelebt hatte. Sie sprach fließend Suaheli und betrachtete sich selbst als Afrikanerin. Auf den Straßen von Dar es Salaam fiel sie auf, weil sie sich immer mit aufwendigen westafrikanischen Boubous, Spitzen und Kopfbedeckungen und all den anderen Kostümen kleidete, die sich eine Tansanierin der Arbeiterinnenklasse nicht leisten konnte. Indem sie sich auf diese Weise als Afrikanerin zu erkennen gab, hob sie sich von anderen ab, ohne sich dessen bewusst zu sein. Eines Tages traf ich sie fast weinend an, weil ein Tansanier sie als »mzungu«, als Europäerin, als Weiße bezeichnet hatte. Sie sagte: »Wie kannst Du mich mzungu nennen, ich bin mwafrika, wie kannst Du das sagen?« Nun, er konnte das sagen, weil sie das Geld hatte, sie hatte ein entsprechendes Verhalten, sie hatte alle Annehmlichkeiten der Leute, die mzungu genannt wurden. Das bedeutete, dass die ganze Art und Weise, über die Herkunft oder den Besitz oder das Aussehen von Menschen zu sprechen, mit der Art und Weise, wie wir das in den Vereinigten Staaten tun, einfach unvereinbar war.
Diese Erfahrung musste ich machen, um über das Thema race schreiben zu können, als ich nach Hause zurückkam und mein Studium aufnahm. Ich war an einem Ort gewesen, an dem ich von schwarzen Menschen umgeben war, aber nicht von schwarzen Menschen – sie waren Watanzania oder Mwafrika. In dem Kreis, in den ich damals einzog, lebte eine Ghanaerin, die einige Einheimische kritisierten, weil sie kein Suaheli sprechen konnte. Das fanden sie unglaublich. Sie dachten, diese Frau benahm sich einfach wie ein Snob. Ich musste also ein ganzes Klassifizierungssystem verstehen, das von Menschen angewandt wurde, die von Amerikanern einfach als Schwarze bezeichnet werden. Dadurch wurde die Frage von race für mich zu einem historischen Phänomen, und als ich später darüber schrieb, konnte ich nicht mehr so darüber schreiben wie die Primordialisten.
Die Geschichte, die Du über diese Frau in Dar es Salaam erzählst, ist in gewisser Weise die Umkehrung der Geschichte von Amadou Diallo und wie Systeme rassistischer Klassifizierung bei der Übersetzung durcheinandergeraten. Im Fall von Diallo war es tragisch und entsetzlich, im Fall dieser Frau war es eine Farce. Beide Fällen halten ähnliche Lektionen bereit.
BF: Ich habe lange über diese Situation nachgedacht und darüber, dass die Polizeibeamten nicht auf ihn geschossen hätten, hätten sie erkannt, dass er Afrikaner ist. Mit anderen Worten: Sie machen einen Unterschied zwischen Schwarzen und Afrikanern. Der Unterschied ist unsichtbar. Sie denken vielleicht, dass man ihn sehen kann, aber man kann ihn nicht sehen. Hätten sie bei der Annäherung an das Wohnhaus geahnt, dass sie es mit einem afrikanischen Einwanderer zu tun haben, hätten sie nicht so reagiert.
Sie hätten eher gedacht, dass er nach seiner Brieftasche greift, was er auch tat.
BF: Oder sie hätten ihn vielleicht gar nicht erst für einen bewaffneten Vergewaltiger gehalten. Er reagierte auf eine Gruppe, die er für schreiend in den Laden laufende, bewaffnete Schläger hielt. Er dachte, er könnte sie beruhigen und sich freikaufen, indem er ihnen seine Brieftasche gibt. Kein weißer Polizist würde jemals annehmen, dass ein Schwarzer auf einen Weißen wie auf einen Straßenräuber reagieren könnte. Das kam ihnen nicht in den Sinn. Sie waren als Straßenräuber verkleidet, weil das ihr Outfit als verdeckte Ermittler war. Es kam ihnen nie in den Sinn, dass sie ein Zivilist auf der Straße tatsächlich als Straßenräuber lesen könnte. Für sie kann ein Straßenräuber nur eine schwarze Person sein. Das kam ihnen nicht in den Sinn, und auch den Medien war es damals nicht klar. Der Mann dachte, er würde gleich Opfer eines Überfalls werden, aber sie sahen das nicht so. Wenn sie ihn als Afrikaner erkannt hätten, hätten sie vielleicht in Betracht gezogen, dass ein Afrikaner einen Polizisten für einen Schläger halten könnte. Sie hätten ihn nicht sofort als eine Bedrohung gesehen, die mit Schüssen ausgeschaltet werden musste.
Ihr spracht beide über die kritische Distanz, die nötig ist, um racecraft zu erkennen: Man kann etwas nicht aufheben, wenn man selbst darauf steht. Ihr habt racecraft als Ideologie bezeichnet, ein Wort, das Ihr im Buch eher im marxistischen als im Sinne der Umgangssprache verwendet. Könnt Ihr Ideologie definieren, wie Ihr sie begreift, und erklären, wie racecraft als Ideologie funktioniert?
KF: Ich kann aus der Deutschen Ideologie oder aus Kapitel eins, Abschnitt vier des Kapitals zitieren, aus Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis – man kann dort genau nachlesen, wie Marx sich mit der Verwandlung eines gewöhnlichen Objekts in etwas anderes durch den gesellschaftlichen Prozess des Tauschs auseinandersetzt. Marx erklärt in dem Abschnitt auf urkomische Weise, wie im ideologischen Sinne die Gegenstände des Tauschs miteinander sprechen, anstatt in der Kommunikation von einer Quelle zu einem Empfänger überzugehen. Es handelt sich um eine Verdrängung der Realität, die man im jeweiligen Alltag nicht sehen kann. Es erklärt sich nicht von selbst. Es operiert auf der Grundlage bestehender Vorstellungen, sonst wäre der Tausch nicht möglich.
BF: Wenn ich mit meinen Studenten über dieses Thema spreche, mache ich mich darüber lustig. Ich sage: Ist es nicht amüsant, dass wir von der Wirtschaft sprechen, als wäre sie ein menschliches Wesen? Sie kann so depressiv werden wie eine Person. So etwas wie die Wirtschaft gibt es nicht. Sie ist das Ergebnis von vielen Millionen Einzelentscheidungen, die Menschen treffen. Wir sprechen von der personifizierten oder verdinglichten Wirtschaft, gerade weil wir all diese individuellen Handlungen nicht erfassen können, also machen wir daraus »die Wirtschaft«.
Wenn Sie ein Dorf haben, in dem die Ältesten zu den verschiedenen Familien sagen: »Du baust soundso viel Getreide an und Du baust soundso viel Getreide an, Du pflanzt dieses Feld und Du bearbeitest jenesFeld.« Zur Erntezeit sagen die Ältesten: »Ihr bekommt so viel von der Ernte, weil ihr eine Familie dieser Größe habt, und ihr bekommt einen anderen Teil, weil ihr eine andere Größe habt.« Das Ergebnis ist, dass das gesamte Produkt der Arbeit unter allen verteilt wurde. Ich sage den Schülern, dass niemand in dieser Gesellschaft, der kein Verrückter ist, sagen würde, dass diese Entscheidungen das Produkt der Wirtschaft sind. Sie würden alle sehen, dass dies die Entscheidungen sind, die die Ältesten getroffen haben.
»Ideologie ermöglicht es uns, mit tausend Beinen zu laufen und nicht darüber nachzudenken, denn wenn wir darüber nachdenken, können wir es nicht mehr.«
Wir verdinglichen diese Entscheidungen, wenn wir nicht sehen können, woher sie kommen. Auf diese Weise entwickeln sich Ideologien, denn Ideologien sind die Art und Weise, wie wir über die Welt sprechen, wie wir sie erleben. Manchmal erleben wir den tatsächlichen Prozess, in dem die Ältesten Entscheidungen treffen, und manchmal sehen wir durch einen Spiegel in einem dunklen Bild, wie der heilige Paulus es ausdrückt. Wir können nicht sehen, was tatsächlich vor sich geht, aber wir geben dem Ergebnis dessen, was vor sich geht, einen Namen, und dann erklären wir es auf eine wie auch immer geartete Art und Weise. Das ist mein Verständnis von einer Ideologie; es ist keine wissenschaftliche Erklärung, sondern eine grobe Annäherung.
Wenn man vor einer roten Ampel steht, setzt man sich nicht hin und grübelt über die Philosophie nach, was an der Kreuzung zu tun ist, an der eine rote Ampel steht. Wir haben einen Grund, warum wir bei Rot anhalten, und es gibt eine Erklärung dafür, die tatsächlich sehr sinnvoll ist. Die Erklärung ist, dass jeder versteht, dass wir unabhängig davon, ob wir das Gesetz respektieren oder nicht, wissen müssen, was jeder an der Kreuzung tut. Wir haben dort Ampeln oder Stoppschilder oder eine andere Konvention, wenn es nichts dergleichen gibt, damit jeder weiß, was er an der Kreuzung tun wird. Wenn Eltern Teenagern das Autofahren beibringen, sagen sie ihnen, was an einer Kreuzung oder an einer roten Ampel oder an einer blinkenden gelben Ampel und so weiter zu tun ist. Das ist eine Annäherung an Ideologie: Sie ist das, was man wissen muss, um durch den Tag zu kommen.
KF: Sie muss nicht durch Denkprozesse außerhalb des Kontextes, in dem sie diskutiert wird, nachweisbar sein.
BF: Du brauchst nicht zu wissen, wer die erste Ampel erfunden hat. Du bist einfach gewöhnt, dich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, wenn du an die Ampel kommst. Du hast eine hinreichend gute Erklärung, warum das genau so sinnvoll ist. Die Erklärung ist nicht nur unwissenschaftlich, sie darf auch nicht zu detailliert sein, darin, wie sie die zugrunde liegende Realität erklärt. Ansonsten bist du in der Situation des sprichwörtlichen Tausendfüßlers, den man fragt, wie in aller Welt er mit all diesen Beinen laufen kann, und sobald er begann, darüber nachzudenken, konnte er nicht mehr laufen. Ideologie ermöglicht es uns, mit tausend Beinen zu laufen und nicht darüber nachzudenken, denn wenn wir darüber nachdenken, können wir es nicht mehr.
Würdet Ihr in Bezug auf racecraft als Ideologie Stuart Halls Formulierung zustimmen, dass Rasse die Modalität ist, in der Klasse gelebt wird, in der Klasse angeeignet und durchgekämpft wird?
BF: Diese Aussage trifft in diesem Land zu, denn die Menschen waren keine race, weil sie Afrikaner in der europäischen Gesellschaft waren, sondern sie wurden dazu nach ihrer Ankunft. In den Vereinigten Staaten wurden sie in eine Gesellschaft inkorporiert, in der Freiheit eine Selbstverständlichkeit war, das heißt, es war keine Gesellschaft, die auf der Normalität der Sklaverei fußte. Die Sklaverei war normal und wurde sogar noch normaler in einem Teil des Landes. Im Land insgesamt war sie von Anfang an vorhanden. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung gab es in allen dreizehn Kolonien Sklaverei. Kurz darauf schafften die meisten von ihnen die Sklaverei entweder ab oder begannen mit dem Prozess ihrer Abschaffung. Die Sklaverei wurde also zu einer genügend ungewöhnlichen Situation, dass sie erklärungsbedürftig wurde, allerdings ideologisch.
Das ist keine Wissenschaft, auch wenn man es in der Zeit, in der man so zu sprechen begann, als Wissenschaft ausgeben konnte. Es ist tatsächlich ideologisch. Es muss etwas geben, das Menschen afrikanischer Abstammung von anderen unterscheidet, etwas, das diese anormale Situation erklärt, in der sie sich in einem Land befinden, in dem Freiheit als selbstverständlich angesehen wird. Mein Argument ist, dass der nächste Schritt, die Emanzipation, die ehemaligen Sklaven größtenteils in eine andere soziale Kategorie einordnet, die nicht als Grundlage für Staatsbürgerschaft akzeptiert wird. Jetzt sind sie Proletarier, sie sind arbeitende Menschen. Es gab auch Weiße, die diesen Status hatten, aber er wurde immer noch nicht akzeptiert. Die Vorstellung war, dass man eines Tages Eigentum und Macht haben würde. Abraham Lincoln sagte, dass es nicht möglich sei, sein ganzes Leben lang ein Lohnarbeiter zu sein. Es war noch nicht akzeptiert, dass die Abhängigkeit von der Arbeit für einen anderen ein Status für einen Bürger sein konnte. Aber die meisten schwarzen Sklaven entließ man in diese Kategorie. Insofern ist ihre Klassenzugehörigkeit die Modalität, wie sie als race definiert werden. Sie war es, als sie noch Sklaven waren, denn das war eine anormale Kategorie. Als befreite, ehemalige Sklaven wurden sie als »arbeitende Menschen« kategorisiert. Beides sind Klassenpositionen, die eine Position von race definieren. Wenn das der Punkt ist, auf den Stuart Hall hinauswollte, dann denke ich, dass er eine Einsicht hatte, die für die amerikanische Situation richtig war.
Wie reproduzieren und rechtfertigen race und Rassismus heute weiterhin die politisch-ökonomische Ordnung?
BF: Ich möchte gerne die Arbeiten von Adolph Reed und Cedric Johnson empfehlen. Ungeachtet dessen, was viele der Leute sagen, für die race die primäre Kategorie ist, sind einige Afroamerikaner Teil der Bourgeoisie, nicht der schwarzen Bourgeoisie. Als Franklin Frazier den Begriff verwendete, sprach er sarkastisch über Menschen, die nicht zur Bourgeoisie, sondern zum Kleinbürgertum gehören. Es gibt viele – statistisch gesehen nicht viele, aber doch einige – Afroamerikaner, die in der Tat der Bourgeoisie angehören, aber die meisten von ihnen sind Werktätige und damit den Risiken ausgesetzt, die Arbeitende betreffen. Sie sind arbeitende Menschen, aber in der Sprache des amerikanischen Diskurses dürfen sie nicht zu den arbeitenden Menschen gehören, weil das den Weißen vorbehalten ist. Wir haben einen ganzen Teil der amerikanischen Arbeiterklasse, den die schreibende Klasse nicht als Teil der Arbeiterklasse betrachtet.
Das wirft ein Thema auf, das Ihr beide eigentlich nicht diskutieren wolltet, zu dem Eure Analyse aber einen interessanten Einblick geben würde: Warum Rachel Dolezal, die sich als Schwarze identifizierte, obwohl sie eigentlich weiß war, die Menschen auf der Linken so wütend machte und die auf der Rechten so erfreute.
BF: Mir war nicht bekannt, dass Menschen, die ich als links bezeichnen würde, darüber wütend waren. Meine Reaktion war: Warum sollte jemand so tun, als ob? Die Geschichte der solidarischen Agitation für die Rechte Schwarzer hatte nicht zur Voraussetzung, dass man sich als Schwarzer identifizierte. Die NAACP hatte weiße Anführer, bevor sie einen schwarzen Anführer hatte.
KF: Ihr erster schwarzer Anführer war ein Weißer. Er beginnt seine Rede mit den Worten: »Ich bin ein Negro, meine Haut ist weiß, mein Haar ist blond, meine Augen sind blau, aber ich bin ein Negro.« Er war der erste schwarze, oder vielmehr Negro-Chef der NAACP: Walter White.
BF: Ja, sein Buch hieß A Man Called White. Ein Teil seiner Effektivität bestand darin, dass er Lynchmorde im Süden untersuchen konnte, weil er sich unter die Leute mischen konnte, ohne dass man wusste, dass er ein Negro war. Er erzählte von einer Episode in einem Zug, in der eine Gruppe von Weißen darüber sprach, was sie tun würden, wenn sie diesen Walter White, diesen Negro von der NAACP, in die Finger bekämen. Sie wussten nicht, dass er neben ihnen saß.
Im Fall von Dolezal frage ich mich, warum sich die Menschen so über die ungewöhnliche Situation einer weißen Frau aufregen, die sich als Schwarze ausgibt und enttarnt wird. Warum war diese Kuriosität, die das historische Muster auf den Kopf stellt, für die Leute so beunruhigend?
BF: Ich habe das eben alles erzählt, um deutlich zu machen, dass es mich nicht beunruhigt hat. Sondern, dass ich dachte: Wen interessiert’s? Es gibt Wichtigeres. Ich habe nicht verstanden, warum sie sich als etwas ausgeben musste. Sie könnte genauso gut als weiße Frau Vorsitzende der NAACP sein. Ich verstehe nicht, warum sich jemand darüber aufregt. Es sei denn über die Tatsache, dass hier eine dämliche Episode so behandelt wurde, als sei sie von großer Bedeutung. Deshalb hatten wir keine Lust, darüber zu reden. Wir haben es satt, dass die Leute über racial identification reden, als ob das das Problem wäre. Das ist nicht das Problem. Ob sich jemand als weiß oder schwarz bezeichnet, ist nicht das Thema, auf das wir uns konzentrieren müssen. Es ist schon klar, warum die Medien solche Themen lieben. So wie sie Geschichten über weiße Frauen mögen, die Zwillinge zur Welt bringen und ein Kind ist dunkelhäutig und eines weiß. Ich weiß, dass sie bei der Frau, die den Herzog oder den Prinzen von was auch immer in Großbritannien heiraten wird, total durchdrehen werden.
Für viele ist es eine Gerechtigkeitsfrage, dass Dolezal, indem sie sich als Schwarze ausgibt – die Leute würden diesen Begriff verwenden – eine Art von Gewalt gegen Schwarze ausübt.
BF: Ich würde das in dieselbe Kategorie einordnen wie Leute, die sich darüber aufregen, dass eine weiße Frau ihr Haar in Cornrows trägt. Das ist die gleiche Art von Wut, von der Du sprichst. Für mich ist das pubertäres Verhalten von Leuten, die sonst nichts Besseres zu tun haben.
Ich glaube, genau so ist es. Das ist eine Art, über bestimmte Dinge zu sprechen.
KF: Und nicht über die eigentliche Sache zu sprechen.
Es ist analytisch wichtig, die unterschiedlichen Auswirkungen des Rassismus auf verschiedene Gruppen innerhalb des Kapitalismus zu ermitteln. Ihr sprecht den sehr wichtigen Punkt an, dass es in bestimmten Kreisen eine ausschließliche Fokussierung auf racial disparities gibt. Daraus folgt dann, dass, sobald die Arbeiterklasse, die herrschende Klasse und die Armen demographisch angemessen repräsentativ aufgestellt sind, alles gut wird. Ihr schreibt von Menschen, deren radikalstes Ziel eine neue Zuteilung von Arbeitslosigkeit, Armut und Ungerechtigkeit ist, und nicht deren Abschaffung. Erzählt doch mal etwas über den Fokus auf racial disparities: Für jemanden, der grundsätzlich glaubt, dass race in der Analyse eine Rolle spielen sollte, welche könnte das Eurer Meinung nach innerhalb einer linken Kritik der Wirtschaftsordnung sein, wenn überhaupt?
KF: Jeder muss wissen, dass es sich um eine gut dokumentierte Tatsache handelt. Diese Tatsache wird anderswo nicht viel bewirken. Sie spielt eine Rolle, wenn man eine Klage erhebt, die sich auf die Zuteilung von Mitteln für die Unterstützung der Landwirtschaft in North Carolina auswirkt, wenn sie bei den Exporten verloren haben. Es ist wichtig, über Fakten zu sprechen, aber das Sprechen über Fakten ist noch keine Politik oder ein Leitfaden für die Politik. Man muss die Fakten nutzen.
BF: Man muss wissen, was man damit machen will. Wir wissen, dass die Landarbeiter, die für die großen Agrarerzeuger arbeiten, keine Bauern sind, sondern Erzeuger. Wir wissen, dass die Menschen, die auf diesen Feldern arbeiten, Pestiziden und allen möglichen minderwertigen Bedingungen ausgesetzt sind. Wenn wir das zu einem Thema machen, das mit der Identität von People of Color zu tun hat, dann lassen wir die Landwirte der Agrarindustrie aus dem Schneider. Wir wissen ja, warum sie die Arbeitskräfte ausnutzen, die sich den Pestiziden nähern und ohne vernünftige sanitäre Einrichtungen arbeiten müssen. Das liegt nicht daran, dass sie etwas gegen sogenannte People of Color haben. Es liegt daran, dass diese Leute ihre Arbeit auf die billigste Art und Weise erledigt haben wollen, die möglich ist. Und dabei ist es ihnen egal, welche Leute sie dafür ausbeuten.
»Das ist die Asymmetrie der Situation. Die Leute, die diese Art der Ausbeutung vorantreiben – was immer sie auch sagen mögen – haben ihre Augen auf den Preis gerichtet. Wir versuchen, diese Ausbeutung zu beseitigen, verlieren aber den Preis ständig aus den Augen.«
Vann Woodward spricht in Origins of The New South über die Werbung für arme Weiße im Süden und darüber, wie sie potenziellen Investoren von außerhalb angepriesen wurden, weil sie nicht gewerkschaftlich organisiert sind, niedrige Löhne akzeptieren und so weiter. Im Werbeprospekt, den sie Leuten andrehten, hieß es: »Hier sind Leute, die aus der Geschichte und aus der Zeit gefallen sind, mit einem elisabethanischen Flair.« Als sie die Arbeitskräfte verkauften, machten sie keinen großen Unterschied bei der Hautfarbe der Waren. Die Leute, die kaufen, interessiert das nicht. Es ist interessiert sie, was sie den Leuten bezahlen müssen.
Das ist die Asymmetrie der Situation. Die Leute, die diese Art der Ausbeutung vorantreiben – was immer sie auch sagen mögen – haben ihre Augen auf den Preis gerichtet. Wir versuchen, diese Ausbeutung zu beseitigen, verlieren aber den Preis ständig aus den Augen. Wir lassen uns zu Gesprächen über racial disparities und racial identities und so weiter hinreißen. Als Du von racial disparities sprachst, musste ich an einen Artikel von Adolph Reed denken, in dem er einen Artikel aus dem Satiremagazin The Onion wiedergibt. Darin hieß es einfach nur, schwarze Menschen sind »mit größter Wahrscheinlichkeit«. Es gab dazu keine Eigenschaft, sondern sie sind nur »mit größter Wahrscheinlichkeit«. Es war ein Kommentar zum Argument der racial disparity, und das war der Kontext, in dem Reed darüber sprach. Ich betrachte das als eine Art von Ermüdungstaktik. Man lenkt die Aufmerksamkeit der Leute auf etwas, das nicht wirklich wichtig ist, und die anderen sind fein raus.
Rassismus legitimiert nicht nur ein Klassenprojekt, sondern verschleiert es auch. Er verdeckt die Fähigkeit der Menschen, das Klassenprojekt, das sich vor ihren Augen abspielt, zu erkennen. Ihr verweist auch auf die Rezeption des Buchs The Bell Curve. Dessen Autoren sind Neo-Eugeniker und zweifellos Rassisten, aber Ihr schreibt, dass die Fokussierung auf ihren Rassismus unter Ausschluss aller anderen Aspekte übersieht, dass es bei ihrem Gesamtargument um die Degeneriertheit armer Menschen insgesamt ging.
BF: Sie rechtfertigten Klassenunterschiede. Vor kurzem hatten wir hier an der Columbia das Thema wieder, weil Charles Murray als Redner eingeladen worden war. Ich bezweifle, dass die meisten der gutherzigen Studenten, die dagegen agitieren wollten, und die Dozenten, die sie unterstützten, das Buch gelesen hatten. Sicherlich hatten sie keine Ahnung von der Klassendimension des Buches, denn sie wussten nur, dass sie gehört hatten, er sei ein Rassist.
KF: So haben sie das Buch bei Free Press vermarktet.
BF: Ja, das ist der fotogene Teil des Arguments. Der Teil des Arguments, der nicht fotogen ist, ist der, dass weiße Menschen aus der Arbeiterklasse dort sind, wo sie sind, weil sie nicht sehr intelligent sind, weil sie rückständig sind.
Das war der ganze Punkt seines Buches Coming Apart. Es geht darum, die angeblich degenerierte weiße Arbeiterklasse in Philadelphia zu erreichen.
BF: Als die wohlmeinenden Progressiven hier dagegen agitieren wollten, haben sie sich nicht diesen Punkt ausgesucht. Sie hatten in dem, was sie für einen »Trump-Moment« hielten, die perfekte Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf ein sehr explizites Klassenprojekt zu lenken, aber sie haben sich das durch die Finger gehen lassen. Ihn einfach als Rassisten zu bezeichnen und darüber zu sprechen, was er über Schwarze sagt, erzeugte von ihrem Standpunkt aus die günstigere Publicity. Das würde die Gemeinde auf die Beine bringen, und sie reden mit niemandem sonst.
Das rassistische Projekt konnte Hillary Clinton verurteilen, aber das Klassenprojekt ist eines, das sie nicht verurteilen wollte und konnte.
BF: Sie ist voll dafür. In gewisser Weise ist es das, worum es bei Obama ging. Deshalb wurden die Banker, die so nah wie es nur geht daran waren, die Wirtschaft zu zerstören, gerettet und nicht für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen. Das war nicht Teil des Programms. Sie dürfen sich nicht wundern, dass die Menschen, die unter all dem gelitten haben, die Subprime-Hypotheken gekauft haben – und ich spreche von den Weißen, nicht nur von den Schwarzen – am Ende des Tages sauer waren. Sie dachten: Wir halten hier die Stellung und die Leute, die das getan haben, wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Wo können wir jemanden finden, der unsere Situation versteht? Nun, zu Hillary Clinton geht man dafür dann nicht.
In bestimmten Kreisen der Hillary-freundlichen liberalen Medien wurde immer wieder kritisiert, dass Bernies Betonung der Klassenpolitik zwangsläufig bedeute, dass er racial justice nicht genug Aufmerksamkeit schenke.
KF: Das ist eine Lüge.
BF: Ich habe diese Kritik auch vernommen, und dann habe ich Videos von Sanders-Kundgebungen gesehen, auf denen Black Lives Matter immer gut vertreten war. Viele der jungen Leute haben Hillary Clinton durchschaut.
Aus den Umfragen geht klar hervor, dass alle möglichen jungen Menschen Bernie statt Clinton unterstützt haben. Das erinnert mich daran, dass ich fragen wollte, welche Rolle racial identification für Schwarze haben kann, die für ihre Freiheit kämpfen und denen diese Kategorien auferlegt wurden? Wenn Schwarzsein eine Kategorie ist, die Schwarzen Menschen durch racecraft und Rassismus auferlegt wurde, ist es dann möglich, dass Menschen ein kollektives »Wir« im Kampf gegen Rassismus entwickeln, ohne in die Falle der Essentialisierung von race zu tappen? Daran denke ich vor allem in einer Zeit, in der sich viele junge Menschen unter dem Banner von Black Lives Matter (BLM) mobilisieren, das diese Kategorie von race gleich in seinem ersten Wort enthält.
BF: Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um eine Kategorie von race handelt, obwohl es sicherlich eine Kategorie ist, die die Aufmerksamkeit auf Rassismus lenkt. Diese Verwechslung von race und Rassismus ist eines der Dinge, die wir in racecraft zu beleuchten versuchen. Im Laufe der Jahre haben Amerikaner afrikanischer Abstammung zahlreiche Möglichkeiten gehabt, sich als Volk zu bezeichnen, weil sie ein Volk waren und durch die Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren, zu einem Volk gemacht wurden. Ob diese Bedingungen nun Sklaverei, Jim Crow, Rassentrennung, Entrechtung, Diskriminierung am Arbeitsplatz oder was auch immer waren, sie sahen sich gemeinsamen Umständen gegenüber, die sie dazu brachten, sich als Volk zu erkennen.
»Der Slogan ›black lives matter‹ stört mich vor allem deshalb, weil er zu zurückhaltend wirkt. Zu erklären, dass ›schwarzes Leben wichtig‹ ist, bedeutet ein zu großes Zugeständnis an den Feind.«
Jedes Mal, wenn sie sich selbst als Volk bezeichneten, wurde dies zu einer Bezeichnung von race. Als der Begriff »Colored« durch »Negro« und »Negro« durch »Schwarz« ersetzt wurde, war dies jeweils eine Möglichkeit, ein Volk zu definieren. Wenn der Begriff in den allgemeinen Wortschatz eingeht, wird er zu einer Bezeichnung von race. Wenn Black-Lives-Matter-Aktivisten sagen, dass schwarze Leben zählen, dann ist das kein racial statement.
So gesehen muss ich allerdings Folgendes sagen: Der Slogan »black lives matter« stört mich vor allem deshalb, weil er zu zurückhaltend wirkt. Zu erklären, dass »schwarzes Leben wichtig« ist, bedeutet ein zu großes Zugeständnis an den Feind. Das erinnert mich an die vielleicht berühmteste Rede von Frederic Douglass: seine Rede zum 4. Juli, die er in den 1850er Jahren in Rochester hielt. Er wurde von Abolitionisten dorthin gebracht. Er sagte: »Ich weiß nicht, was Sie von mir hören wollen, Sie brauchen mich nicht. Wir feiern gerade den Jahrestag der Geburt der Republik. Sie brauchen mich nicht, um Ihnen zu sagen, dass die Sklaverei falsch ist. Das muss ich den Republikanern nicht sagen. Sie brauchen mich nicht, um Ihnen zu sagen, dass Sklaven menschliche Wesen sind – selbst die Sklavenhalter wissen das. Wenn sie das nicht wüssten, dann hätten sie nicht so viele Bestimmungen in ihren Gesetzbüchern, die von Sklaven begangene Handlungen als Verbrechen definieren. Ein Maultier kann kein Verbrechen begehen. Ein Wagen kann kein Verbrechen begehen.« Er baute die gesamte rhetorische Struktur darauf auf: »Ich brauche euch diese Dinge nicht zu sagen, denn ihr wisst sie. Ihr seid Republikaner, ihr seid Abolitionisten, und deshalb wisst ihr all diese Dinge.«
Daran denke ich, wenn ich darüber nachdenke, dass junge Menschen heute sagen müssen: »Black lives matter«. Müssen die Amerikaner sagen, dass das Leben anderer Amerikaner, ja sogar das Leben anderer Menschen zählt? Man muss sagen: »Black lives matter« und sich einem Feind ausliefern, der versucht, das mit »all lives matter« zu übertrumpfen, obwohl der Slogan BLM eigentlich immer »all lives matter« bedeutete. Es war eine Art zu sagen: »Ja, auch unseres«. Mir gefällt nicht, dass sie »ja, auch unseres« sagen mussten, als ob das infrage stünde, ob unsere Leben zählen, weil die von allen zählen.
Es scheint, als würdet Ihr beide »Freedom Now« oder etwas in der Art bevorzugen.
KF: Ja.
BF: Ja, wobei wir nicht die jungen Leute kritisieren wollen, weil sie in einem Moment agieren, in dem viel von dieser Geschichte verloren gegangen ist, einschließlich »Freedom Now« und Frederick Douglas. Sie müssen die Welt ganz neu aufbauen. Es sagt etwas über uns aus, dass wir von unseren jungen Menschen verlangen, die Welt neu aufzubauen und dass sie nichts haben, worauf sie aufbauen können. Das liegt an der langen Demobilisierung und Säuberung, an der Verfolgung, die uns kein politisches Erbe hinterlassen hat, auf dem wir aufbauen können. Jeder muss also wieder von vorne anfangen, und jedes Mal, wenn wir das tun, haben wir an Schwung und Boden verloren. Dazu gibt es vielleicht keine Alternative. Man kann sich kein historisches Wissen aneignen, das es nicht gibt. Ohne historisches Wissen zu operieren, bedeutet, dass man mit einer Hand auf dem Rücken operiert, und deshalb freue ich mich, dass wir die Gelegenheit haben, die Menschen daran zu erinnern, dass 1963 der Slogan »Jobs and Freedom« lautete. Mit anderen Worten: Jeder verstand, wie das eine mit dem anderen zusammenhing.
KF: Vielleicht sollten wir Übertragungen dieser Reden bereitstellen, um die Argumente zu bereichern, die die Menschen jetzt vorbringen beim Versuch, Widerstand zu leisten und zu formulieren, was Widerstand heute genau bedeutet.
BF: Erinnerst Du dich an den jungen weißen Mann, dessen Namen ich nicht mehr weiß, der in South Carolina erschossen wurde?
Bei der Marihuana-Razzia, als er versuchte, wegzufahren, und sie ihn erschossen?
BF: Der Punkt ist: In Seneca, South Carolina, wurde ein weißer Mann von der Polizei erschossen. Dieser Vorfall wurde nur bekannt, weil einige Black Lives Matter-Leute ihn auf Twitter veröffentlichten und er von den Medien aufgegriffen wurde. Auf diese Weise wurde es der Öffentlichkeit bekannt. Ich sage das, um zu verdeutlichen, dass Black Lives Matter immer bedeutet, dass alle Leben wichtig sind. Es ist nur so, dass die jungen Leute, die das gesagt haben, dachten, dass man anderen sagen muss: »Unseres auch«.
Sie haben nicht vergessen, dass alle Leben wichtig sind. Sie sind nicht sehr weit gekommen, denn die weißen Nachbarn der Familie, deren Sohn getötet wurde, haben sich nicht für die Familie eingesetzt. Sie konnten keinen sicheren Platz finden, um ihre Füße in das zu setzen, was für sie wie Treibsand aussah. Wahrscheinlich sind sie davon ausgegangen, dass bei solchen Auseinandersetzungen die Polizei die Guten und wer auch immer auf der anderen Seite steht, die Bösen sind. Racecraft würde ihnen diese Annahme erlauben, wenn die Person auf der anderen Seite schwarz wäre. Hier ist eine weiße Person, die sie in der Kleinstadt Carolina kennen, aber sie können sich nicht erlauben, sie als das zu bezeichnen, was sie ist, weil sie aus dem Muster fällt und sie keine Möglichkeit haben, das zu verstehen. Wenn »All Lives Matter« eine ernsthafte Erklärung wäre und nicht nur eine Möglichkeit, BLM-Leute anzugreifen, dann wären die »All Lives Matter«-Leute darauf angesprungen, aber das sind sie nicht, oder?
Wie konnten sie sich einen Reim darauf machen, dass dieser weiße junge Mann so behandelt wurde, wie es ihrer Meinung nach schwarze Männer verdient hatten?
KF: Das ist eine Funktion der Dinge, über die ich vorhin gesprochen habe. Er muss etwas verbrochen haben, um das zu verdienen. Es liegt nicht an seiner schwarzen Hautfarbe, aber was auch immer er getan hat, muss negro-haft gewesen sein, um diese Konsequenz zu haben. Ich würde gerne die Runde machen und die Leute fragen, warum sie glauben, dass das alles passiert ist.
Die Art und Weise, wie Rassismus funktioniert, ist, dass er Maßnahmen legitimiert, die der Arbeiterklasse insgesamt schaden, indem sie Schwarze und Hispanoamerikaner auf spektakuläre Weise noch stärker schaden. Es gibt die massenhaften Inhaftierungen, die sich dadurch legitimieren, dass unverhältnismäßig viele Schwarze eingesperrt werden, aber auch außergewöhnlich viele Weiße. Dasselbe gilt für die Reform der Sozialhilfe: Weil schwarze Mütter überproportional oft Sozialhilfe erhielten, durfte die Clinton-Regierung die Sozialhilfe für alle Mütter abschaffen.
BF: Man kann noch weiter zurückgehen bis zur Entrechtung im Süden des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die eigentlich der Entrechtung der Afroamerikaner dienen sollte, letztlich aber eine große Zahl von Weißen entrechtete. Dies war der Beginn der niedrigen Wahlbeteiligung, die bis heute Teil der amerikanischen politischen Gesellschaft ist. Der Unterschied zwischen dieser Zeit und heute besteht darin, dass die Weißen, die zur Zielscheibe wurden, sich nicht täuschen ließen. Sie wussten, was vor sich ging. Heute ist man sich dessen vielleicht nicht mehr bewusst. Es kann erfolgreich verborgen werden, dass diese Waffe, die gegen Schwarze eingesetzt wird, auch gegen dich eingesetzt werden kann.
In Eurem Buch schreibt ihr, dass das Debakel der Banker, die über die Finanzkrise sprechen, dafür gesorgt hat, dass der Lack ab ist von den Rechtfertigungen von Ungleichheit, die seit den 1980er Jahren vorherrschten. Die welfare mother kann nicht länger für das stehen, was in Amerika nicht stimmt. All diese schrecklichen Dinge, die passiert sind, wurden mit Rassismus gerechtfertigt, und offensichtlich ist Rassismus mit Trump im Amt ein echter Teil des Klassenkampfes der Eliten in diesem Land. Seit 2008 haben wir Bernie, Occupy und Black Lives Matter erlebt: Denkt ihr, dass die Menschen die kritische Distanz zu racecraft gewinnen, von der Ihr gesprochen habt, und in der Lage sind, kollektiv gegen dieses System vorzugehen, das in diesem Land und überall auf der Welt so viel Schaden angerichtet hat?
KF: Wir haben gehofft, den Menschen, die gegen die jüngste Welle der kapitalistischen Unterdrückung kämpfen wollten, etwas Munition in die Hand zu geben, weil wir erkannten, wie nützlich die race card gewesen war. Also fanden wir, dass wir diese Informationen, die wir haben, verbreiten müssen, um in der Lage zu sein, einander als Amerikanerinnen und Amerikaner zuzuhören und nicht diesem Unsinn, den wir heute über racial identity hören. Racecraft liefert eine Erklärung für das Schlechte, das den Schwarzen widerfährt, und sie ist eine Ablenkung für Menschen, die sonst ihre Fäuste gegen die Menschen richten würden, die ihre Arbeitsplätze ins Ausland exportieren.
BF: Ein Teil des gegenwärtigen Moments ist, dass wir ein Programm sehen, auch wenn es verlangsamt wurde. Ein Programm als Teil der rechten Republikaner und der Trump-Leute – sie sind ein Ochsenpaar, das den Wagen nicht immer in die gleiche Richtung zieht, aber sie haben ein gemeinsames Klassenprogramm, auch wenn sie manchmal verschiedene Teile der Klasse vertreten, die an der Spitze steht. In vielerlei Hinsicht sind sie auf dem Vormarsch, weil sie die Grundlagen des Spiels verändern. Sie erwarten nicht, dass sie für das bezahlen müssen, was sie einer großen Anzahl von Menschen antun werden, weil sie an Wegen arbeiten, die Wählerschaft zu kuratieren, Menschen am Wählen zu hindern und zu verhindern, dass die Stimmen von Menschen gezählt werden. Es ist leichter, die Legislative eines Einzelstaats zu kaufen als den US-Kongress, aber diese Leute können beides tun. Sie bauen eine beängstigende Dynamik auf, mit der sie hoffen, nicht von den Menschen, denen sie schaden, bestraft zu werden. Sie stellen sich vermutlich vor, dass die Schwarzen nicht viel dagegen tun können.
KF: Außer, dass schwarze Menschen für ihre eigenen Verletzungen bestraft werden. Die Schuld wird wieder in Geschichten über Sozialhilfe verlagert. Als dieser Prozess in den 1980er Jahren stattfand, kamen die Geschichten über die welfare mothers wieder auf.
BF: Es trifft auf viele Klassen mit anmaßenden Machtprojekten zu, dass sie ihre Gegner nicht klar sehen. Sie sind sich vielleicht nicht immer bewusst, was sie da auslösen. Sie sind zuversichtlich, dass sie mit allem fertig werden, was aufgrund des Rassismus und der Homophobie und all der anderen Möglichkeiten, mit denen sie jedem, der die soziale Struktur in die Luft jagen will, Treibstoff liefern, auftreten wird. Ich glaube aber nicht, dass sie sich wirklich bewusst sind, was es bedeutet, wenn sie eine weiße Bevölkerung entfesseln, die sowohl wütend als auch hoffnungslos ist. Wenn sie denken, dass sich alles gegen Sündenböcke richten wird, dann vielleicht deshalb, weil sie nicht wissen, was passiert, wenn alle Tabus fallen und es keine Grenzen mehr gibt.
Was sind die Chancen und Herausforderungen für die Linke in dieser Zeit der unglaublichen Unsicherheit?
BF: Ich weiß nicht, ob es eine Chance gibt, weil zu wenige Progressive in Klassenbegriffen über diese Dinge nachdenken. Welche Chance gibt es, wenn die einzige Antwort auf eine allgemeine Wut der Arbeiterklasse aus gutem Grund darin besteht, zu sagen: Schwarze und Rassismus hier und Hispanoamerikaner da und Homo-Ehe dort? Sie haben eine Karte mit allen möglichen Teilen, aber es scheint so, als ob sie nicht sehen, dass ihre Karte aus einer Ära stammt, die der Feind längst überwunden hat. Es funktioniert einfach nicht mehr auf dieselbe Weise. Ich beobachte die Demokratinnen und Demokraten im Kongress, und es hat fast etwas Lächerliches, Nancy Pelosi und Charles Schumer dabei zuzusehen, wie sie mit Dingen in Aktion treten, die einfach nicht ausreichen. Eine Chance hängt immer von einer Person ab, die in der Lage ist, sie zu erkennen und auszunutzen.
KF: Bernie Sanders war so jemand, meint Ihr nicht auch?
BF: Manchmal sind die Bernie-Sanders-Leute auch Progressive, die sich in die Defensive gedrängt fühlen und meinen, sie müssten auch etwas davon tun. Das ist tödlich. Was Sanders auszeichnete, war, dass er einen Weg gefunden hat, über die allgemeine Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu sprechen, ohne zu versuchen, zu einzelnen, bestimmten Teilen der Bevölkerung zu sprechen, als ob sie separate Einheiten wären. Das möchte ich nicht verlieren. Das war eine Anmut, die diesem Land zuteil wurde, ohne dass es dies verdient hätte. Ich gebe den Demokratinnen und Demokraten die Hauptschuld daran, weil sie beschlossen haben, ihren Apparat und ihre Apparatschiks, die davon profitieren, lieber zu behalten. Sie fühlten sich von jemandem bedroht, der ihnen den Rang ablaufen könnte.
KF: Ein Unbestechlicher.
BF: Sie haben eine Anmut verworfen, die uns zuteil wurde, und so haben wir stattdessen Donald Trump und seine Leute bekommen. Damit meine ich nicht nur die Leute um ihn herum, sondern auch die Milliardäre, die jetzt voll zur Geltung kommen. Sie haben einen Weg gefunden, ihre Macht so zu vervielfachen, dass sie exponentiell ansteigt. Das ist es, was diese Art von Geld und Macht bewirken. Das geht zurück auf die Warnung von Thomas Jefferson in der Verfassung des Staates Virginia und die Notwendigkeit, sich vor Korruption zu schützen. Er sagte, wir müssen das im Keim ersticken, bevor so viele Leute so viel Macht haben, dass wir es nicht mehr in den Griff bekommen. Er sagte, das Problem sei, dass die Objekte dieser Art von Macht auch die Motoren dieser Macht seien. Mit Männern bekommen wir Geld, mit Geld bekommen wir Männer: Das dreht sich in einem immer größer werdenden Kreis. Er wird immer größer und ernährt sich von dem, was er braucht.
Die Menschen erinnern sich daran, dass er ein Sklavenhalter war und alles tat, was er konnte, um die Ausbreitung der haitianischen Revolution zu verhindern. Er und sein Mitsklavenhalter James Madison verstanden, wie Macht funktioniert. Während wir die anderen Dinge, die sie uns hinterlassen haben, außer Acht lassen sollten, müssen wir uns an andere Dinge erinnern, die wir vergessen haben. Als Ronald Reagan gewählt wurde, arbeitete ich am Woodrow Wilson Center in Washington, D.C. Ich traf Henry Fairly, meiner Meinung nach ein großmäuliger, konservativer Brite, der für die Washington Post arbeitete, und er stellte sich hin und sagte uns Amerikanern, wie wir unsere Gesellschaft organisieren sollen. Ich sagte zu ihm: »Im Moment gibt es nur einen Politiker, in den ich Vertrauen habe, und das ist James Madison, ich hoffe, er hat diese Maschinerie so unbrauchbar gemacht, dass diese Typen nicht tun können, was sie tun wollen.« Offensichtlich war sie nicht unbrauchbar genug. Reagan war vielleicht nicht in der Lage, alles zu tun, was er wollte, und auch nicht diejenigen, die nach ihm kamen, aber die Maschinerie war nicht unbrauchbar genug, um diesen Ansturm aufzuhalten.
Wir haben alle historischen Präzedenzfälle, die uns zeigen, wie tödlich die Bourgeoisie ist, wenn sie denkt, dass sie mit dem Rücken zur Wand steht. Ich erinnere mich, dass jemand nach dem Putsch in Chile eine solche Warnung ausgesprochen hat. Das lehrt uns unter anderem, wie blutrünstig die Bourgeoisie ist, wenn wir auch nur den Anschein erwecken, dass wir eine wirksame Opposition aufbauen, aber genau darum geht es eben.
Wenn Sanders für unverdienten Anmut steht, dann lautet die Botschaft, dass wir nur durch Taten gerettet werden können, nicht durch Anmut.
BF: Selbst wenn unsere Taten darin bestehen, dass wir die Anmut annehmen. Es sind Taten erforderlich, aber es müssen Taten sein, die von Wissen und Verständnis geprägt sind.
Barbara Fields lehrt Geschichte an der Columbia University. Sie ist Mitautorin des Buches Racecraft: The Soul of Inequality in American Life.
Karen Fields ist eine unabhängige Soziologin. Sie ist Mitautorin des Buches Racecraft: The Soul of Inequality in American Life.