29. Juni 2023
Sie arbeitete als Hotelreinigungskraft und streikte mit ihren Kolleginnen für bessere Bedingungen. Heute ist Rachel Keke Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung und weist elitäre Politiker zurecht, die den Menschen das Leben schwer machen.
Rachel Keke hält eine Rede gegen Marcons Rentenreform.
IMAGO / ABACAPRESS»Ich bin ein bisschen eingeschüchtert«, gibt die Leiterin des Pasteur-Kindergartens im Pariser Vorort Chevilly-Larue mit einem nervösen Lachen zu. Sie trifft sich mit Rachel Keke, einer Abgeordneten der französischen Nationalversammlung für die linke Bewegung La France Insoumise. Während der nächsten zwei Stunden spricht Keke mit den Beschäftigten des Kindergartens über die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind: Unterbesetzung, niedrige Löhne, immer längere Arbeitszeiten – die üblichen Themen bei einem Treffen zwischen einer gewählten Vertreterin und ihren Wählerinnen und Wählern. Aber eines unterscheidet Keke von gewöhnlichen Politikern: Die Art, in der sie sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter hineinversetzen kann.
»Als ich Zimmermädchen war«, erzählt Keke, »da mochte ich meine Arbeit – aber das hieß nicht, dass ich mich mit Füßen treten lassen musste.« Und sie erinnert ihre Gegenüber: »Ihr leistet unverzichtbare Arbeit. Ihr müsst kämpfen.«
Auch da spricht Keke aus Erfahrung. Sie kämpfte unter anderem als Anführerin eines großen Pariser Reinigungskräftestreiks. Im vergangenen Jahr gelang ihr der Einzug in die Nationalversammlung. In ihrer neuen Rolle als Abgeordnete setzt sie nun im Parlament den Kampf fort, den sie einst in Hotelfluren begann.
Die Tochter eines Busfahrers und einer Kleidungsverkäuferin kam im Jahr 2000 aus der Elfenbeinküste nach Frankreich und begann drei Jahre später, als Reinigungskraft in der Hotelbranche zu arbeiten. Im Sommer 2019 traten 32 Reinigungskräfte in einem Hotel im Nordwesten von Paris wegen der harten Arbeitsbedingungen und der niedrigen Löhne in den Streik und Keke wurde ihre Sprecherin. Nach 22 Monaten Streik – dem längsten in der Geschichte des Sektors – setzten sie sich schließlich durch. Die im Mai 2021 mit Accor, der größten Hotelkette Europas, unterzeichnete Vereinbarung war ein überwältigender Sieg: Fast alle Forderungen der Streikenden wurden erfüllt.
Kekes Kampf im Hotel Ibis Batignolles machte viele Schlagzeilen. Doch trotz ihrer neu erworbenen nationalen Bekanntheit als Führungsfigur der Arbeiterklasse schloss sie zunächst aus, für ein politisches Amt zu kandidieren. »Ich möchte sicher nicht in die Politik gehen«, sagte sie im Juli 2021 einem Journalisten. »Ich habe ein bisschen Angst, dass ich für politische Zwecke ausgenutzt werden könnte.«
»Wenn du ein Müllmann, ein Wachmann oder eine Putzfrau bist, denke nicht, dass du kein Abgeordneter, keine Abgeordnete sein kannst. Die Nationalversammlung gehört uns!«
Doch im Winter änderte sie ihre Meinung. Anfang 2022, als sie gerade ihre Familie in der Elfenbeinküste besuchte, leuchtete ihr Telefon auf. Éric Coquerel, ein Abgeordneter von La France Insoumise und naher Vertrauter des Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon, schrieb ihr eine SMS, in der er sie bat, sich ihrer Kampagne anzuschließen. Als sie nach Frankreich zurückgekehrt war, rief Keke Coquerel an: Ja, sie sei bereit, Mélenchon zu unterstützen.
Diese Zusage katapultierte Keke mitten in den Präsidentschaftswahlkampf. Am 20. März sprach sie auf einer Kundgebung vor Zehntausenden von Sympathisantinnen und Sympathisanten von La France Insoumise über ihre Erfahrungen als Reinigungskraft und stellte Mélenchons Wahlkampf als eine Fortsetzung ihres früheren Kampfes für die Rechte der Arbeitenden dar.
Die knappe Niederlage Mélenchons in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 10. April – er unterlag Marine Le Pen, die in die Stichwahl vorrückte, nur um einen Prozent – setzte Kekes erster Wahlkampfteilnahme ein Ende. Da die Präsidentschaft nun außer Reichweite lag, wandte sich La France Insoumise den bevorstehenden Parlamentswahlen zu, die für Juni angesetzt waren.
Ende April erhielt Keke einen Anruf von einem örtlichen Funktionär von La France Insoumise, der sie bat, diesmal selbst als Kandidatin anzutreten. Der Vorschlag machte Keke fassungslos. »Ich? Sind Sie sicher, dass ich Abgeordnete sein kann?«, erinnert sie sich, ihn gefragt zu haben. »Ich dachte, Politik sei etwas für Leute mit einem ›bac+5‹ [einer fünfjährigen Hochschulausbildung].« Doch der Funktionär beruhigte sie und verwies auf ihre Rolle als Sprecherin der Reinigungskräfte des Ibis Batignolles als Beweis dafür, dass sie durchaus eine Führungsrolle übernehmen könne.
Das gab ihr, wie sie sagt, »die Kraft, zu kandidieren«. Sie startete eine Kampagne für den Bezirk Val-de-Marne, einem traditionell rechten Wahlkreis in der Pariser Vorstadt. Da sowohl Mélenchon als auch Macron dort ein starkes Ergebnis erzielt hatten, wurden die Parlamentswahlen als ein Wettstreit zwischen einem linken und einer von Macron unterstützten Kandidatur angesehen.
Einige Mitglieder von La France Insoumise, die von der Aussicht begeistert waren, Keke in ihren Reihen in der Nationalversammlung zu haben, drängten darauf, sie solle in Seine-Saint-Denis antreten, einem Pariser Arbeitervorort, in dem Mélenchon auf sichere Unterstützung setzen konnte. Keke entschied sich jedoch, mit ihrem starken lokalen Netzwerk im Rücken, im umkämpften Wahlkreis Val-de-Marne zu bleiben.
»Sie verstehen nicht, wie schwer manche Berufe sind. Sie verstehen es nicht, weil Sie es nicht erleben. Sie haben kein Recht, diejenigen in die Knie zu zwingen, die das Land auf den Beinen halten.«
Dort gelang es Keke aufgrund ihrer Herkunft aus der Arbeiterklasse, mit den Wählerinnen und Wählern eine Verbindung aufzubauen. »Sie ist eine extrem zugängliche Person«, erklärt Olivier Guillotin, ihr ehemaliger Wahlkampfkoordinator. Da ihre Bekanntheit eher aus ihrer Zeit als Sprecherin des Reinigungskräftestreiks als aus der Parteipolitik stammte, habe sie besser Wählerinnen und Wähler erreichen können, die noch nicht für La France Insoumise gewonnen waren.
Keke zog problemlos in die Stichwahl ein: In der ersten Runde lag sie mit 13 Punkten Vorsprung vor ihrer von Macron unterstützten Gegnerin, der ehemaligen Ministerin Roxana Maracineanu. Diese setzte nun auf die Unterstützung der konservativen Wählerinnen und Wähler, deren Kandidat es nicht in die Stichwahl geschafft hatte. Als am 19. Juni die Stimmenauszählungen aus den verschiedenen Wahllokalen eintrafen, war die Spannung greifbar. Bald stand das Ergebnis fest: Keke hatte ihre Kontrahentin mit zweihundert Stimmen Vorsprung geschlagen.
Keke fiel ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in die Arme, dankte ihnen und vergoss Freudentränen. »Wenn du ein Müllmann, ein Wachmann oder eine Putzfrau bist, denke nicht, dass du kein Abgeordneter, keine Abgeordnete sein kannst«, rief Keke der Menge zu, die sich versammelt hatte, um ihren Sieg zu feiern. »Die Nationalversammlung gehört uns!«
Ihr erster Auftritt in der Nationalversammlung rief bei anderen Abgeordneten euphorische Reaktionen hervor. »Sie ist die Verkörperung so vieler der Kämpfe, die wir führen«, erklärte Danielle Simonnet, die Vertreterin eines Pariser Wahlkreises. Kekes Reden, in denen sie ihre persönlichen Erfahrungen mit scharfer Kritik an der Regierung verband, fanden in den Sozialen Medien weite Verbreitung, und einige ihrer Pointen kehrten später sogar auf Protestschildern wieder auf.
Dass sie sich in dieser Weise auf ihre eigene Lebenserfahrung berufen kann, nannte die linke Tageszeitung Libération »eine tödliche Waffe«. In ihrer ersten Rede bei einer Plenarsitzung der Nationalversammlung drängte sie zum Beispiel auf eine Erhöhung des Mindestlohns, indem sie fragte: »Ich würde gern mal wissen, wer in dieser Versammlung schon einmal 800 Euro [im Monat] verdient hat. 900 Euro? 1000 Euro?« Dabei spielte sie auf ihren eigenen Lohn als Reinigungskraft an.
Auch als Präsident Macron den größten sozialen Protesten seit einem Jahrzehnt zum Trotz seine Bemühungen verstärkte, das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre anzuheben, griff Keke auf ihre eigene Erfahrung zurück, um den Gesetzentwurf zu kritisieren. »Sie verstehen nicht, wie schwer manche Berufe sind«, sagte Keke in Richtung der Abgeordneten, die dem Entwuft zustimmen wollten. »Sie verstehen es nicht, weil Sie es nicht erleben. […] Sie haben kein Recht, diejenigen in die Knie zu zwingen, die das Land auf den Beinen halten.«
Ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse hat Keke in der französischen Linken zu einer Ikone gemacht, aber auch zur Zielscheibe für Angriffe der Rechten. Schon während des Streiks unterstellten sie ihr, von Gewerkschaften und linken Parteien manipuliert zu werden, was sich mit ihrem Beitritt zu La France Insoumise noch verstärkt hat.
»Das Leben ist ein Kampf. Wenn man nicht daran kaputt gehen will, was über einen gesagt wird, dann muss man für sich selbst einstehen.«
Während Keke für das Parlament kandidierte, fragte Sophie de Ravinel, eine Journalistin der rechten Tageszeitung Le Figaro, ein Führungsmitglied von La France Insoumise wiederholt, ob sie Keke denn »ausgebildet« hätten. Dabei schwang auch die Unterstellung mit, dass sie aufgrund ihrer fehlenden Hochschulbildung womöglich nicht in der Lage wäre, ihre Arbeit als Gesetzgeberin ordnungsgemäß auszuführen. Und die Gründerin des rechtsextremen Nachrichtenmagazins Le Causeur, Elisabeth Lévy, kommentierte Kekes Ankunft in der Nationalversammlung mit den Worten: »Wenigstens trägt sie keinen Boubou [ein Gewand, das in verschiedenen Teilen Afrikas getragen wird]«.
Auf diese Angriffe angesprochen antwortete Keke: »Das Leben ist ein Kampf. […] Wenn man nicht daran kaputt gehen will, was [in den Medien] über einen gesagt wird, dann muss man für sich selbst einstehen.«
Kekes Geschichte beweist, dass Brücken aus der Arbeiterbewegung in die Parteipolitik zu bauen, eine erfolgsversprechende Strategie ist. Wie ihr Beispiel zeigt, können gewählte Vertreterinnen und Vertreter mit Wurzeln in der Arbeiterklasse auf eine Weise mit der Wählerschaft kommunizieren, wie es Abgeordnete aus der Oberschicht nicht können. Dennoch bleiben politische Figuren wie Keke die Ausnahme.
Das Institut la Boétie, ein progressiver Thinktank, der mit La France Insoumise verbunden ist und von Mélenchon geleitet wird, hat kürzlich ein neues Schulungsprogramm vorgestellt. Nach Angaben eines Mitarbeiters von La France Insoumise, der mit den Aktivitäten des Instituts vertraut ist, soll es dazu beitragen, den Kreis zukünftiger Kandidatinnen und Kandidaten um Personen verschiedener sozialer Hintergründe zu erweitern. Das Programm steckt zwar noch in den Kinderschuhen, doch es verspricht, auf der Arbeit von Rachel Keke aufzubauen und eine neue Generation von in der Arbeiterklasse verwurzelten Politikerinnen und Politikern auszubilden.
William Boucher ist ein französisch-amerikanischen politischer Aktivist.