16. Juni 2023
Ein »System Lindemann« kann es nur in einer Gesellschaft geben, die es Einzelnen erlaubt, ungeheuren Reichtum anzuhäufen und damit ungehemmte Macht über andere auszuüben.
Till Lindemann reiht sich in eine lange Liste reicher Männer ein, gegen die in den letzten Jahren schwere Missbrauchsvorwürfe erhoben wurden.
IMAGO / Gonzales PhotoDie Vorwürfe gegenüber Rammstein haben ein mediales Beben erzeugt. Die international wohl erfolgreichste deutsche Rockband hat es seit den 1990er Jahren zur Kunstform erhoben, durch gezielte Provokation Schlagzeilen zu machen und damit Alben zu verkaufen. Doch diesmal geht es um viel mehr als um blutige Musikvideos: Der Frontsänger Till Lindemann sieht sich schwerwiegenden Vorwürfen wegen sexuellen Missbrauchs im systematischen Ausmaß ausgesetzt.
Seit Wochen melden sich immer mehr Frauen zu Wort, deren Erzählungen auf eine Art Misshandlungsmaschinerie rund um Lindemann hindeuten. Dabei soll es zur Betäubung mittels K.O.-Tropfen und zu physischer Gewalt gegenüber zahlreichen Frauen gekommen sein. Mittlerweile ermittelt auch die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Lindemann.
Die Berichte sind mehr als erschreckend: Rammstein-Konzerte müssen demzufolge über Jahre hinweg geradezu Orte des systematischen Machtmissbrauchs gegenüber jungen Frauen gewesen sein. Den Schilderungen von Shelby Lynn, Kayla Shyx und anderen Frauen zufolge umfasst das »System Lindemann« Aftershow- und Prepartys, bei denen Lindemann mit eigens dafür gecasteten Frauen mutmaßlich gewaltsamen, nicht einvernehmlichen Sex hatte. Lindemanns Anwälte dementieren zwar, dass es bei den Partys zur Verwendung von K.O.-Tropfen gekommen sei, aber dass gezielt junge Frauen für ihn rekrutiert wurden, scheint unbestritten zu sein.
Damit reiht sich Lindemann in eine lange Liste reicher Männer ein, gegen die in den letzten Jahren schwere Missbrauchsvorwürfe erhoben wurden: von Harvey Weinstein und R. Kelly, die beide den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen werden, bis hin zu Jeffrey Epstein und Kevin Spacey. Patriarchale Strukturen sind in unseren Gesellschaften tief verankert und bringen immer wieder Bedingungen hervor, in denen Frauen zu Opfern sexualisierter Gewalt werden.
Wie in all diesen Fällen, so gilt auch hier: Lindemann hätte die unaussprechlichen Dinge, die er offenbar getan hat, niemals tun können, würde er nicht in einer Gesellschaft leben, die es ihm erlaubt, ungeheuren Reichtum anzuhäufen – und damit ungehemmte Macht über andere auszuüben. Immer wieder schaffen es diese Männer zudem, ihre Missbrauchsstrukturen über Jahrzehnte aufrechtzuerhalten, ohne aufzufliegen.
Gerade im Fall Rammstein stellt sich dabei besonders die Frage, ob man aufgrund des Auftretens der Band auch früher hätte ahnen können, dass so etwas wie das »System Lindemann« existiert. Zunächst muss man feststellen, dass natürlich auch für Rammstein die Kunstfreiheit gilt. Doch Kunstwerke können selbstverständlich trotzdem Ausdruck von Taten und Weltanschauungen ihrer Verfasser sein.
Bei vielen Songs, die Lindemann als Solokünstler herausgebracht hat, wimmelt es nur so von Vergewaltigungs- und Missbrauchsfantasien, etwa in den Songs »Frau & Mann« oder »Platz 1« – von dem Gedicht »Wenn Du schläfst« ganz zu schweigen. All diese Werke lassen sich auf Lindemanns mutmaßliche Taten beziehen oder verweisen sogar recht eindeutig auf sie. Überschaut man gerade die von ihm allein verantworteten Songs, so ist geradezu eine Obsession mit sexuellem Missbrauch mehr als deutlich.
»Was reiche und mächtige Sexualstraftäter von anderen abhebt, ist, dass ihr Geld und ihre Macht sie schützen.«
Bei den Werken von Rammstein ist die Lage allerdings uneindeutiger. Viele Songs, mit denen die Band ihren Weltruhm aufgebaut haben, entpuppen sich bei genauerem Hinhören und -schauen sogar als gesellschaftskritisch. Die Unterstellung, Rammstein sei rechts, quittierte die Band schon 2001 mit dem Song »Links 2 3 4«. »Amerika« von 2004 ist eine Satire auf die kulturelle und geopolitische Dominanz der USA: »Coca Cola, sometimes war«. Und auch in dem Song »Deutschland«, der 2019 für erbitterte Diskussion sorgte, wird der deutsche Nationalmythos eher dekonstruiert als zelebriert. Diese Werke der Band wurden von einem Millionenpublikum weltweit geschätzt, denen man nun nicht geschlossen ein frauenfeindliches und faschistisches Weltbild unterstellen kann.
Dass Rammstein einmal interessante Kunst gemacht hat, entschuldigt aber natürlich rein gar nichts. Und auch wenn sich die Vorwürfe bisher fast ausschließlich gegen Lindemann richten, ist es geradezu undenkbar, dass die anderen Bandmitglieder nichts von seinen Taten gewusst haben. Es ist von daher mehr als verständlich, wenn sich Fans nun abwenden – und erschreckend, wie viele von ihnen zur Band halten und die mutmaßlichen Opfer öffentlich angreifen. Will man den Fall Lindemann genauer verstehen, muss man sich jedoch auch fragen, wie die Musik- und Kreativbranche funktioniert, die das System erst ermöglichte.
Einen Einblick liefern die Schilderungen der Influencerin Kayla Shyx: Nach einem Rammstein-Konzert berichtet sie ihrem damaligen Manager davon, wie sie in Lindemanns Hotelzimmer gebracht werden sollte und ihr dabei ihr Handy abgenommen wurde. Auch habe niemand die anderen – teils sehr jungen und offensichtlich sedierten – Frauen nach ihren Ausweisen gefragt. Der besagte Manager habe Shyx daraufhin gebeten, umgehend eine Instagram-Story zu löschen, die sie über die Ereignisse gepostet hatte. Die Begründung: Solche Dinge seien in der Branche eben üblich. Aus Angst vor größeren Konsequenzen hat Shyx bis vor Kurzem geschwiegen. Die Angriffslust, mit der eine Schar von Rammsteins Anwälten nun Journalistinnen sowie Menschen abmahnt, die sich im Internet zu den Vorfällen äußern, zeigt, dass ihre Angst nicht unberechtigt war.
»Genau deshalb haben wohl etliche Menschen jahrelang weggeschaut: um die Geldmaschine Rammstein nicht zu gefährden.«
Glaubt man Berichten aus der Branche, so gibt es weitere Systeme, die dem von Lindemann nicht unähnlich sind. Laut einer Reportage des Spiegel hat Alena Makeeva, die mutmaßlich Lindemanns Frauen rekrutierte, früher eine ähnliche Tätigkeit für Marilyn Manson ausgeübt. In jedem dieser Fälle muss es zudem Dutzende Musikmanagerinnen, Anwälte und andere Handlanger geben, die unliebsame Stimmen zum Schweigen bringen, wegschauen und Fälle vertuschen.
Bei vielen von ihnen wird es dabei eine gewichtige Rolle spielen, dass sie nicht schlecht an dem Musikgeschäft mitverdienen. Denn das, was reiche und mächtige Sexualstraftäter von anderen abhebt, ist, dass ihr Geld und ihre Macht sie schützen. Die Bild schätzt die Einnahmen von Rammstein seit der Gründung der Band im Jahr 1994 auf mindestens 500 Millionen Euro. Allein in diesem Jahr habe sie laut einer Analyse der Wirtschaftswoche mindestens 25 Millionen Euro an Profiten generiert. Genau deshalb haben wohl etliche Menschen jahrelang weggeschaut: um die Geldmaschine Rammstein nicht zu gefährden.
Die Frage bleibt am Ende, wie Frauen in der Kreativbranche und darüber hinaus vor sexualisierter Gewalt und anderweitigem Machtmissbrauch geschützt werden können. Der Vorschlag von Familienministerin Lisa Paus, nun Schutzzonen für weibliche Fans auf den Konzerten einzurichten, greift viel zu kurz. In einem System, das eine solche Macht bei wenigen Menschen konzentriert, wäre es ein erster Schritt, Kanäle zu schaffen, die von deren Einfluss unberührt sind – unabhängige Anlaufstellen gegen sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch, die mit der Justiz zusammenarbeiten.
Die weltweite #MeToo-Bewegung hat gezeigt, dass es überall dort, wo es extreme Macht- und Kapitalkonzentration gibt, auch zu systematischem Missbrauch kommt. Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt muss gerade auch dort mit aller Härte geführt werden, wo er seit Jahrzehnten mit astronomischen Geldsummen unterdrückt wird.
Matthias Ubl ist Contributing Editor bei Jacobin.