ABO
Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

19. August 2025

Der Kommunist, der Rumänien in den Kapitalismus führte

Der Tod des ersten postkommunistischen rumänischen Staatsoberhaupts Ion Iliescu unterstreicht die Tragik einer unvollendeten Revolution und erinnert daran, dass Osteuropas Weg in den Neoliberalismus nicht unangefochten blieb.

Ion Iliescu während seiner ersten Amtszeit als Präsident Rumäniens, 2. November 1994.

Ion Iliescu während seiner ersten Amtszeit als Präsident Rumäniens, 2. November 1994.

IMAGO / Avalon.red / UPPA Photoshot

Mit Ion Iliescu ist am 5. August eine der schillerndsten Figuren des postkommunistischen Osteuropa in Bukarest gestorben. Als erster Präsident Rumäniens nach der Revolution von 1989 bestimmte er maßgeblich den Übergang von der langjährigen, am Ende vollständig delegitimierten Herrschaft Nicolae Ceaușescus zur kapitalistischen Ordnung. Der ehemalige Kommunist und spätere sozialdemokratische Reformer scheiterte jedoch an seinem Anspruch, eine eigenständige demokratisch-sozialistische Alternative zu verwirklichen.

Unter seiner Präsidentschaft vollzog Rumänien eine neoliberale Transformation, die tiefe soziale Ungleichheiten hervorrief und den Aufstieg einer neuen Wirtschaftselite begünstigte. Iliescus Politik verankerte das Land fest in westlichen Institutionen und Bündnissystemen und blockierte zugleich die Herausbildung radikaldemokratischer, antikapitalistischer Alternativen. Sein Tod bietet Anlass, sowohl die widersprüchliche Entwicklung der rumänischen Übergangsphase als auch das Scheitern einer möglichen Epochenalternative neu zu betrachten.

Vom Parteifunktionär zum Revolutionsführer

Iliescus Lebensweg spiegelt die Tragik einer ganzen Generation linker Intellektueller im osteuropäischen Realsozialismus. Geboren am 3. März 1930 in Oltenița südöstlich von Bukarest, schloss er sich früh der kommunistischen Bewegung an. Zunächst gehörte er zur technokratischen Funktionselite des Ceaușescu-Regimes, wandte sich jedoch 1971 gegen dessen zunehmend autoritären Kurs und nationalistische Ideologie. Als Parteisekretär und Regionalpolitiker in Timișoara und Iași erlangte er in den 1970er-Jahren durch pragmatische Amtsführung und Dialogbereitschaft große Popularität. Seine schrittweise Entfernung aus den Machtstrukturen, die schließlich in der Leitung eines technischen Verlags endete, verschaffte ihm rückblickend jene Glaubwürdigkeit, die ihn beim Zusammenbruch des Regimes zur zentralen Führungsfigur werden ließ.

Am 22. Dezember 1989 übernahm die im Zuge der Revolution gegründete Front zur Nationalen Rettung (FNR) mit Iliescu an der Spitze die Staatsgewalt und setzte mit Unterstützung der Armee der Diktatur ein Ende. Die alten Machtstrukturen – einschließlich der Großen Nationalversammlung, des Staatsrates und der Regierung – wurden aufgelöst und mit dem »Kommuniqué des Rates der Front zur Nationalen Rettung an das Land« der Beginn einer neuen Ära verkündet. Nach dem standrechtlichen Todesurteil gegen Ceaușescu und der anschließenden Erschießung von ihm und seiner Frau drei Tage später erklärte die FNR den endgültigen Sieg der Revolution. In dieser Phase genoss sie nahezu uneingeschränkte Zustimmung in der Bevölkerung.

»Die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus, die viele der Demonstranten auf den Straßen von Timișoara und Bukarest beflügelte, zerschlug sich schnell.«

Iliescu verkörperte für die meisten Rumäninnen und Rumänen Stabilität, Orientierung und die Verheißung eines demokratischen Neubeginns. In ihm sahen sie den Garanten gegen einen Rückfall in autokratische Verhältnisse oder ein Abgleiten ins Chaos, einen Brückenbauer zwischen den überlebenden Resten der alten Machtstrukturen und den gesellschaftlichen Erwartungen nach demokratischem Aufbruch.

Doch die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus, die viele der Demonstranten auf den Straßen von Timișoara und Bukarest beflügelte, zerschlug sich schnell. Iliescu stand unter doppeltem Druck: Einerseits drängten neu formierte antikommunistische Gruppen und Parteien, vielfach unterstützt von westlichen Institutionen wie dem US-amerikanischen National Endowment for Democracy (NED), auf eine schnelle Übernahme westlicher Demokratie- und Wirtschaftsmodelle, andererseits knüpften internationale Finanzinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank dringend benötigte Kredite an die Umsetzung neoliberaler Wirtschaftsreformen. Wie in allen anderen realsozialistischen Ländern wurden Hoffnungen auf einen Mittelweg zwischen Ost und West schnell erstickt.

Als ein alternatives Demokratiemodell möglich schien

Zunächst versuchte Iliescu tatsächlich, einen eigenständigen Weg einzuschlagen. Sein Konzept zielte auf eine partizipative Demokratie jenseits der traditionellen Parteienherrschaft, getragen von gesellschaftlichem Konsens und revolutionärer Erneuerung. Die FNR sollte als zentrale politische Kraft des Landes eine »informelle und offene Verbindung zwischen Bevölkerung und Staat« bilden und allen politischen wie sozialen Strömungen eine Plattform bieten. Die Regierung hätte in diesem Modell primär eine administrative Funktion übernommen, während der politische Pluralismus vor allem innerhalb der Front selbst stattgefunden hätte.

Dem widersprach jedoch, dass bereits am 31. Dezember 1989 ein Parteiengesetz verabschiedet wurde. Die Vertreter der neu gegründeten Parteien wurden eingeladen, dem Rat der FNR beizutreten, was diese jedoch ablehnten. Bei freien und demokratischen Wahlen, die als Teil eines offenen Wettstreits der Ideen gedacht waren, wäre die Staatsmacht als revolutionäre soziale Massenbewegung gegen die konterrevolutionären, undemokratischen Kräfte der Rechten angetreten. Die Umwandlung des Rates der FNR in den Provisorischen Rat der Nationalen Einheit am 9. Februar 1990, der Vertreter der neuen Parteien aufnahm und als Ersatzparlament fungierte, markierte schließlich das endgültige Scheitern von Iliescus Projekt und besiegelte die »Rückkehr Rumäniens in die historische Normalität«.

»Statt zu experimentieren, entschied er sich für die Nachahmung bestehender Modelle und gab damit die Vision einer eigenständigen, demokratisch-sozialistischen Alternative zugunsten etablierter neoliberaler Vorbilder auf.«

Die frühen 1990er-Jahre waren von einer tiefen gesellschaftlichen Polarisierung geprägt. Verspätete »Antikommunisten«, die sich bereitwillig in den Dienst des Neokonservatismus stellten, bekämpften die FNR mit allen Mitteln. Aus diesem Umfeld speisten sich die wiederholten Gewaltexzesse, die 1990 Bukarest erschütterten. Doch die revolutionäre Bewegung wehrte sich und gab nicht kampflos auf.

Eine zentrale Rolle spielten die sogenannten »Mineriaden«: Interventionen von Bergarbeitern zur Verteidigung der Revolution, die von der bürgerlichen Presse pauschal als Aktionen eines »kommunistischen Mobs« diffamiert wurden. Diese Einsätze führten im westlichen Ausland zu einer nachhaltigen Diskreditierung Iliescus. Im eigenen Land dagegen galt er vielen weiterhin als Garant politischer Stabilität.

Entgegen der gängigen Lesart war das Eingreifen der Bergarbeiter weniger ein Rückfall in autoritäre Strukturen, sondern vielmehr Ausdruck und Höhepunkt eines verzweifelten Widerstands der Bevölkerungsmehrheit gegen die heraufziehende neoliberale Konterrevolution. Iliescu stand dabei zwischen den Fronten: Er instrumentalisierte die Bergarbeiter zur Sicherung seiner Macht, war jedoch nicht in der Lage, die fortschreitende Dynamik der kapitalistischen Restauration aufzuhalten. Statt zu experimentieren, entschied er sich für die Nachahmung bestehender Modelle und gab damit die Vision einer eigenständigen, demokratisch-sozialistischen Alternative zugunsten etablierter neoliberaler Vorbilder auf. Vor allem die Gerechtigkeit blieb – systemimmanent – auf der Strecke.

Rechte »antikommunistische« Dauerdemonstration gegen Iliescu und die FNR in Timișoara, vor den ersten freien Wahlen am 20. Mai 1990. Foto: Yves-Pierre Detemple

Rechte »antikommunistische« Dauerdemonstration gegen Iliescu und die FNR in Timișoara, vor den ersten freien Wahlen am 20. Mai 1990. Foto: Yves-Pierre Detemple

Reformkurs und neoliberale Transformation

Auch ein »dritter Weg« in der Wirtschaft, inspiriert von der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung, stand zeitweise zur Debatte. Noch im Sommer 1990 hielten linke politische Analysten eine vollständige kapitalistische Restauration in Rumänien keineswegs für unausweichlich. Doch bereits im Februar desselben Jahres begann eine eigens eingesetzte Kommission mit der Ausarbeitung eines Programms zur Einführung der freien Marktwirtschaft. Im April beschloss die Regierung unter massivem internationalen Druck eine schnelle Marktöffnung – der Auftakt zur neoliberalen Ära in Rumänien. Die Bevölkerung wurde zu dieser entscheidenden Richtungsentscheidung nicht befragt.

Mit der beschleunigten Einführung einer »Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild« zerschlug sich endgültig jede Hoffnung auf ein alternatives ökonomisches Modell. Die sozialen Folgen waren verheerend: Bis 1993 brach die Industrieproduktion um 40 Prozent ein, die Reallöhne sanken drastisch. Iliescus Hinwendung zur Sozialdemokratie erwies sich als desperater Versuch, die schlimmsten sozialen Verwerfungen der neoliberal-kapitalistischen Umstrukturierung abzumildern.

»Einerseits gelang es ihm, das Land durch eine Phase extremer politischer und gesellschaftlicher Turbulenzen zu steuern, andererseits vollendete gerade seine Regierung die neoliberale Transformation, wenn auch in sozialdemokratischem Gewand.«

Sein Leitbild in den ersten Nachwendejahren war eine soziale Demokratie, die politische Öffnung mit begrenztem sozialem Ausgleich verbinden sollte. Als Referenz diente ihm der schwedische Sozialstaat, der ein vermeintlich ausgewogenes Verhältnis von Marktkräften und staatlicher Regulierung anstrebte, die kapitalistischen Grundwidersprüche jedoch unangetastet ließ. Während einige Nachbarländer auf wirtschaftliche Schocktherapien setzten, wählte Rumänien unter Iliescu einen graduellen Transformationspfad.

Doch die historische Chance, einen grundlegend anderen Gesellschaftsentwurf – eine demokratisch-sozialistische Ordnung, die soziale Gerechtigkeit, kollektive Eigentumsformen und politische Teilhabe über die bloße Formaldemokratie hinaus miteinander verbindet – zu verwirklichen, war vertan. Statt das Momentum der Revolution zu nutzen, wurde Rumänien ein Paradebeispiel dessen, was die Globalisierungskritikerin Naomi Klein später als »Katastrophenkapitalismus« bezeichnete, nämlich Privatisierungen, die Herausbildung einer neuen Wirtschaftselite, den Verfall sozialer Infrastruktur. Die alte Nomenklatura und ehemalige Securitate-Kader passten sich nicht nur an, sondern wurden zu aktiven Triebkräften des kapitalistischen Umbaus.

Iliescus vielschichtiges Erbe

Iliescus Präsidentschaften (1990–1996, 2000–2004) – nach einer kommissarischen Amtsführung von Dezember 1989 bis Mai 1990 – waren von einem grundlegenden Dilemma geprägt: Einerseits gelang es ihm, das Land durch eine Phase extremer politischer und gesellschaftlicher Turbulenzen zu steuern, andererseits vollendete gerade seine Regierung die neoliberale Transformation, wenn auch in sozialdemokratischem Gewand. Außenpolitisch markierte seine Amtszeit eine strategische Neuausrichtung: Mit dem NATO-Beitritt 2004 und der beschleunigten EU-Integration wurde Rumänien fest in die westliche Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur eingebunden.

Iliescu bleibt eine der widersprüchlichsten und zugleich prägendsten Figuren der jüngeren rumänischen Geschichte: Revolutionär und pragmatischer Reformer, Architekt des Systemwechsels und Wegbereiter einer »marktkonformen Demokratie«. Vom ersten Kommuniqué nach Ceaușescus Sturz bis hin zur euroatlantischen Integration gestaltete er über Jahrzehnte die Geschicke des Landes. Bis zuletzt bestimmten zwei Leitmotive sein Denken: die Vision eines solidarischen Staates, getragen von gesellschaftlichem Konsens, und die Überzeugung, stets das politisch Machbare getan zu haben.

»Dass in Rumänien bis heute keine tragfähige radikaldemokratische Alternative zum Kapitalismus entstehen konnte, offenbart, wie tief das Trauma des gescheiterten Übergangs nachwirkt.«

Am 7. August ehrte Rumänien seinen ehemaligen Staatspräsidenten mit einem nationalen Trauertag. Dass der amtierende neoliberale Präsident Nicușor Dan und der Vorsitzende der Regierungspartei USR (Union Rettet Rumänien), Dominic Fritz – ein aus Deutschland stammender Anhänger marktradikaler Positionen – dem staatlichen Trauerakt demonstrativ fernblieben, verdeutlicht die anhaltende gesellschaftliche Spaltung. Während die Rechte Iliescu pauschal als »Kommunisten« verurteilt, ist er aus linker Perspektive der Mann, der eine historische Chance vertan hat. Auch seine eigene Partei, die aus der FNR hervorgegangene Sozialdemokratische Partei, deren Ehrenvorsitzender er bis zuletzt war, hat die Kapitulation vor dem Neoliberalismus längst verinnerlicht.

Dass in Rumänien bis heute keine tragfähige radikaldemokratische Alternative zum Kapitalismus entstehen konnte, offenbart, wie tief das Trauma des gescheiterten Übergangs nachwirkt. Iliescus Politik, die auf Stabilität, graduelle Reformen und die Übernahme westlicher Modelle setzte, unterband solche Ansätze strukturell. Durch die pragmatische Adaption seiner ursprünglichen revolutionären Konzepte entzog er ihnen die ideologische Grundlage, während die traumatisierte Bevölkerung in der Westorientierung Sicherheit suchte. Diese paradoxe Dynamik erklärt, warum ausgerechnet seine verwässerte Revolutionsprogrammatik von 1989/90 den Raum für Systemalternativen nachhaltig verengte.

Gleichwohl bleibt die Revolution vom Dezember 1989 ein wichtiger historischer Einschnitt. Sie hat bewiesen, dass auch Diktaturen zu Fall gebracht werden können, und war insofern siegreich. Zugleich offenbart der rasche Triumph des globalen Kapitalismus, wie mächtig seine strukturellen Zwänge wirken. Iliescus Tragik bestand darin, dies zu spät erkannt und sich ihnen schließlich untergeordnet zu haben.

Yves-Pierre Detemple ist Publizist und Historiker mit den Interessenschwerpunkten Geschichte und Zeitgeschichte sowie politischen Gegenwartsfragen.