02. Oktober 2024
Für Rechtsaußen-Parteien in Europa ist der EU-Austritt kein Thema mehr. Stattdessen setzen sie auf Übernahme.
»Man verlässt den Verhandlungstisch doch nicht, wenn man kurz vor dem Sieg steht.«
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni erzielten nationalistische Parteien historische Höchstwerte. Gleichzeitig gab es die schwächsten Ergebnisse seit Jahrzehnten für Kräfte, die immer noch einen Austritt aus der EU fordern. Im Wahlkampf hörte man von den früheren Fans eines Frexit, Italexit oder Nexit nichts dergleichen mehr. Nationalistische Parteien in Brüssel suchen heute nicht mehr den Ausgang, sondern verfolgen Reformen, um den Block vor »Eindringlingen« abzuschirmen.
Mit dem Versprechen, die EU von innen heraus zu verändern, tragen rechte Parteien den gewandelten politischen Zeiten Rechnung. Auf die Frage, warum der französische Rassemblement National die Forderung nach einem Frexit begraben habe, erklärte Parteichef Jordan Bardella: »Man verlässt den Verhandlungstisch doch nicht, wenn man kurz vor dem Sieg steht.« Der Vorsitzende der niederländischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders, sagte bei einer Wahlkampfveranstaltung: »Andere Parteien wie wir wachsen, von Frankreich bis Belgien, von Österreich bis Italien. Wenn wir all das zusammenführen und den Öltanker EU auf einen anderen Kurs lenken könnten, hätten wir von innen sehr viel mehr Einfluss als von außen.«
Wie genau würde dieser »andere Kurs« aussehen? Einige haben ihren Nationalismus dahingehend umgedeutet, dass eine »europäische Lebensweise« verteidigt werden müsse. Jimmie Åkesson von den Schwedendemokraten warb etwa mit dem Slogan »Mein Europa baut Mauern«. Wilders schlug vor, seine »strengste Migrationspolitik, die die Niederlande je gesehen haben« in Form von härteren EU-Außengrenzen auf die europäische Ebene zu übertragen. Aber geht es den Rechten wirklich nur darum, Mauern um die EU zu bauen (die es ohnehin schon gibt)?
Thinktanks wie die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission entwerfen regelmäßig Szenarien, wie die EU im Jahr 2040 aussehen könnte. In den vergangenen Jahren wurde oft das Risiko eines Auseinanderbrechens der Union diskutiert – nationalistische Regierungen in Griechenland oder Italien könnten aus dem Euro austreten oder Migrantinnen und Migranten einfach an andere Mitgliedstaaten weiterreichen. Heute scheint ein Auseinanderbrechen fern. Stattdessen deuten die EU-Wahlergebnisse auf eine unionsweite politische Wende hin, die die besagte »Verteidigung der europäischen Zivilisation« mit technokratischer Wirtschaftspolitik und Klimawandel-Skepsis verbindet.
Freilich gibt es nach wie vor bedeutende Unterschiede innerhalb der europäischen extremen Rechten, die inzwischen in drei separaten Fraktionen im EU-Parlament vertreten ist. Die Differenzen spiegeln außerdem die Kräfteverhältnisse zwischen den Mitgliedsstaaten wider: Während die meisten rechten Parteien finanzpolitische Entscheidungen wieder auf die nationale Ebene bringen wollen, hält Alice Weidel die italienische Regierung zur Haushaltsstraffung an. Abgesehen von diesen Unterschieden lohnt es sich aber, grundlegende Fragen zu stellen: Was sehen diese Kräfte als die Herausforderungen unserer Zeit an und wie wollen sie den »Öltanker EU« wenden?
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David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).