07. August 2024
Seit Jahren macht die britische Regierung Migranten zum Sündenbock für die grassierende Ungleichheit im Land. Die rechtsextremen und antimuslimischen Gewalttaten der letzten Tage sind eine Konsequenz dieser Politik.
Rechtsextreme Protestierende stoßen mit der Polizei zusammen, Manchester, 03. August 2024.
In Großbritannien verüben Rechtsextreme am helllichten Tag rassistische Gewalttaten. In Rotherham und Tamworth wurden Hotels, in denen Asylbewerber untergebracht sind, in Brand gesteckt, in Burnley wurden muslimische Gräber geschändet. In den sozialen Medien sind Videos zu sehen, in denen junge Leute auf der Straße auf vermeintliche Muslime einprügeln. In einem Beitrag aus Hull wird ein Mann aus seinem Auto gezerrt und von einer Gruppe maskierter Männer attackiert.
Auslöser für diese Vorfälle war die Ermordung von drei Mädchen in einem Tanzkurs. Der Täter wurde in Großbritannien in eine christliche Familie hineingeboren. Dieser Hintergrund hat rechtsextreme Gruppen aber nicht davon abgehalten, den Tod der Mädchen zu instrumentalisieren, um ihre islam- und einwanderungsfeindliche Politik zu pushen und zu mobilisieren.
Die Gewalt in der vergangenen Woche war ungewöhnlich heftig und erschreckend, aber sie kommt nicht aus dem Nichts. In den vierzehn Jahren konservativer Regierungsführung wurden Minderheiten immer wieder als Sündenböcke für die sich verschärfende Ungleichheit im Land missbraucht. Die Geschichte des institutionellen Rassismus in Großbritannien reicht natürlich viel weiter zurück, aber der jüngste Einschnitt war die Einführung der sogenannten Hostile Environment-Politik, einer Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielen, das Land für Migranten möglichst unattraktiv zu machen.
Laut den Schöpfern dieser Politik, den früheren Premiers David Cameron und Theresa May, sollten ausschließlich illegale Einwanderern diese Unattraktivität spüren. Doch die tatsächlichen Auswirkungen reichten viel weiter. Indem die Regierung es für Migrantinnen und Migranten ohne Papiere illegal gemacht hat, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, Arbeit zu finden oder eine Wohnung zu mieten, schuf sie eine regelrechte Misstrauenskultur gegenüber allen eingewanderten Personen – und manchmal auch gegenüber britischen People of Color. Immer mehr Zivilpersonen wie Ärztinnen oder Lehrer wurden mit der Überprüfung des Einwanderungsstatus von Personen beauftragt. So entstand ein Überwachungssystem, das auf der ekelerregenden Einteilung in »gute und schlechte Migranten« beruht. Es folgte ein Skandal nach dem anderen. So wurde über die Misshandlung von Asylbewerbern berichtet, über die Abschiebung vieler Windrush-Bürger, und ein deutlicher Anstieg rassistischer Hassverbrechen war zu verzeichnen.
Parallel dazu wurden nicht-weiße Migrantinnen und Migranten von den Medien gnadenlos dämonisiert, oft mit islamfeindlichen Konnotationen. Noam Chomsky hatte einst beobachtet, wie »die Muslime« nach dem 11. September 2001 »die Kommunisten« als größten »gemeinsamen Feind« des Westens abgelöst haben. Im Nachgang der Terroranschläge wurde ein kollektives Angstgefühl heraufbeschworen und verstärkt, mit dem auch Zustimmung für den sogenannten »Krieg gegen den Terror« erzeugt werden sollte (dessen verheerende Folgen nur noch mehr Menschen aus den betroffenen Ländern in Richtung Europa getrieben haben). Eine Studie aus dem Jahr 2021 über die britische Presse ergab, dass »in 60 Prozent der Artikel über alle Publikationen hinweg eine Verbindung zwischen negativen […] Verhaltensweisen und Muslimen hergestellt wurde«. Darüber hinaus sei in jedem vierten Artikel der Islam mit Terrorismus in Verbindung gesetzt worden.
Die Konservative Partei und die rechte Presse mögen die Basis für das gelegt haben, was wir derzeit auf den britischen Straßen erleben, aber auch der rechte Flügel der Labour Party muss einen Teil der Verantwortung übernehmen. New Labour hat dazu beigetragen, die Islamophobie nach dem 11. September mit neuen, stärkeren Polizei- und Überwachungsbefugnissen und entsprechenden Werbekampagnen zu verankern.
Premierminister Keir Starmer scheint diesen früheren Ansatz nun weiterzuführen: Die Haltung der Partei im Wahlkampf beim Thema Einwanderung war eine Anbiederung an die Rechte und propagierte ebenfalls ein »Othering« von Asylbewerbern. In ihren Wahlkampfbroschüren versprach die Labour Party unter Starmer, sie werde die Einwanderung »kontrollieren« und Menschen »entfernen«, die »kein Recht haben, hier zu sein«. Bei einer Diskussionsrunde mit Sun-Lesern wurde Starmer konkret und lamentierte, dass »Menschen, die aus Ländern wie Bangladesch kommen, nicht abgeschoben werden«. Diese Worte veranlassten Sabina Akhtar, eine Labour-Abgeordnete mit bangladeschischen Wurzeln, zum Rücktritt.
Ja, die neue Labour-Regierung hat den Plan der Konservativen, Migrantinnen und Migranten nach Ruanda abzuschieben, gestrichen. Dies wurde aber eher als eine finanzpolitische und weniger als eine moralische Entscheidung dargestellt: Starmer nannte den Plan eine »teure Spielerei«. Sofort folgte sein erneutes Versprechen, »die kriminellen Banden zu zerschlagen«, die Überfahrten mit Kleinbooten nach Südengland organisieren. Dafür sollen sogar Anti-Terror-Kräfte eingesetzt werden. So wird erneut eine Verbindung zwischen Migration und Terrorismus hergestellt. Die angespannte Lage dürfte das kaum beruhigen. Erst kürzlich bezeichnete Sarah Edwards, die Labour-Abgeordnete für Tamworth, das Holiday Inn der Stadt als »Asyl-Hotel« und sagte, die Einwohnerinnen und Einwohner wollten »ihr Hotel zurückhaben«. Einige Tage später wurde es vom rechtsextremen Mob angezündet.
In den vergangenen zehn Monaten haben wir auf unseren Bildschirmen die Tötung von geschätzt 40.000 Palästinenserinnen und Palästinensern mitverfolgt. Es gibt Zeugenaussagen über »entsetzliche« Folter durch die israelischen Verteidigungskräfte. Diese Gewalt wurde sowohl von den Konservativen als auch von Labour gerechtfertigt, die beide das »Recht Israels auf Selbstverteidigung« betonen und weiterhin gerne Spenden von der sogenannten »Israel-Lobby« entgegennehmen. Nun stehen die Vorgänge in Southport natürlich nicht direkt mit denen in Gaza in Verbindung oder sind zu vergleichen. Doch die apologetischen Aussagen und Taten der britischen Mainstream-Politik vermitteln auch die unterschwellige Botschaft, dass das Leben von muslimischen und arabischen Menschen nicht sonderlich hoch geschätzt wird. Die extreme Rechte nimmt eine solche Botschaft natürlich begierig auf und lässt Taten folgen. Man kann sich kaum vorstellen, wie anders die Reaktionen gewesen wären, wären die Opfer weiß.
Die neue Labour-Regierung hat bisher keine praktikable Lösung für die wirtschaftliche Misere im Vereinigten Königreich angeboten. Extrem hohe Mieten, weit verbreitete Lebensmittelarmut und ein verglühender Planet sind nur drei der Folgen des grundlegenden Problems, über das die Politik inklusive Labour nach wie vor nicht spricht: ein Wirtschaftssystem, das den Interessen der Reichen Priorität einräumt gegenüber dem (und auf Kosten vom) Rest der Gesellschaft.
Die Pläne der Labour-Regierung, die Austeritätspolitik fortzusetzen – die ein UN-Berichterstatter als »Experiment« an den schwächsten Menschen im Land bezeichnet – werden die Ressentiments, von denen die radikale Rechte profitiert, nur noch verstärken. Das ist eine bewusste Entscheidung: Labour hat die Wahl. Und es scheint, als wolle die neue Regierung eine derartige Politik um jeden Preis fortführen – rechtsextreme Ausschreitungen hin oder her.
Daran sollten wir jedes Mal denken, wenn wir Starmer im Fernsehen sehen, wie er den Kopf schüttelt und die Gewaltausbrüche verurteilt. Natürlich ist die rechte Gewalt zu verurteilen! Sie muss von der Polizei eingedämmt werden. Aber was ist mit den Hetzern im Parlament in Westminster?
Amelia Morris ist Dozentin für Soziologie an der University of Law in London sowie Autorin von »The Politics of Weight«.