12. Juli 2022
Dreißig Jahre nach Beginn des Bosnien-Kriegs leugnen serbische Nationalisten den Völkermord von Srebrenica. Hinter diesem Geschichtsrevisionismus steckt eine gefährliche Agenda: Sie wollen das multiethnische Bosnien-Herzegowina zerschlagen und die Idee von »Großserbien« wiederbeleben.
Milorad Dodik bei einem Treffen mit Wladimir Putin, St. Petersburg, 18. Juni 2022.
Diese Wochen häufen sich die Gedenktage in Bosnien-Herzegowina. Dreißig Jahre ist es her, dass reguläre und paramilitärische serbische Verbände die mehrheitlich muslimisch besiedelten Gemeinden im Osten und Norden des Landes einnahmen – Bijeljina, Foĉa, Visegrad, um nur einige zu nennen. Bei den Massakern, die 1992 verübt wurden, verloren Tausende ihr Leben, Hunderte Frauen wurden vergewaltigt. Allein in Prijedor, wo im Juni 2022 ein Marsch der weißen Bänder stattfand, um an die Verhaftungswelle durch die bosnisch-serbischen Behörden 1992 zu erinnern, wurden 3.100 Menschen ermordet. Der Großteil der Bevölkerung der 80.000-Einwohner-Stadt musste vor dreißig Jahren fliehen; viele derer, die es nicht schafften, wurden in den Konzentrationslagern Omarska, Keraterm und Trnopolje interniert.
Drei Jahrzehnte nach der Massenvertreibung der nicht-serbischen Bevölkerung Bosniens, die euphemistisch als »ethnische Säuberungen« bezeichnet wurden, ist der Krieg für viele Überlebende noch nicht vorbei. Im Gegenteil: Milorad Dodik, bosnisch-serbisches Mitglied im dreiköpfigen Staatspräsidium, und seine Gefolgsleute propagieren seit Jahren offen die Sezession der Republik Srpska. Letztere ist neben der muslimisch-kroatischen Föderation eine der beiden Entitäten des Gesamtstaats Bosnien-Herzegowina.
Dodik und seine Anhänger leugnen die Verbrechen, die bosnisch-serbische Einheiten zwischen 1992 und 1995 begangen haben, schon lange. In der Genozidforschung gilt das als letzter Schritt, der auf die Auslöschung verfolgter ethnischer Gemeinschaften oder anderer Minderheiten folgt: Noch Jahre später werden Massengräber ausgehoben, Leichen verbrannt, Zeugen eingeschüchtert und Beweise vertuscht.
Für diese Strategie ist in Bosnien die Leugnung des Völkermords von Srebrenica von zentraler Bedeutung. Die ostbosnische Gemeinde nahe der Grenze zu Serbien wurde am 11. Juli 1995 durch Einheiten des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić eingenommen. Nach heutigem Stand wurden 8.732 Menschen umgebracht, die meisten von ihnen muslimische Männer und Jugendliche, aber auch Frauen und Mädchen – es war das schwerste Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl das UN-Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) als auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag bezeichneten die vom Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee, Mladić, zu verantwortenden Massenerschießungen als Genozid.
Am zwanzigsten Jahrestag des Völkermords 2015 wollte der UN-Sicherheitsrat diesem Schritt folgen, doch die Verabschiedung einer entsprechenden Resolution scheiterte am Veto Russlands. Wie schon während des Bosnien-Krieges zwischen 1992 und 1995 steht Moskau fest an der Seite der nationalistischen Führung in Banja Luka, die seit Jahren von Dodiks Allianz Unabhängiger Sozialdemokraten (SNDS) dominiert wird. Immer wieder hat er den Völkermord von Srebrenica geleugnet – und den Massenmord als »arrangierte Tragödie« oder »fabrizierten Mythos« bezeichnet.
Mit dem Geschichtsrevisionismus geht die Infragestellung der bosnischen Muslime als eigenständige Bevölkerungsgruppe einher: Da sie über keinen Staatsgründungsmythos verfügten, hätten sie »beschlossen, einen um Srebrenica herum zu errichten«, so Dodik. Dort sei es aber »nicht zu einem Genozid gekommen, Serben dürfen das nie akzeptieren«, da es Bosniens Muslimen letztlich um die Errichtung eines muslimischen Staats gehe – eine durch nichts belegte Behauptung, die schon Radovan Karadžić, der frühere Präsident der selbsternannten Republik Srpska, in seiner Propaganda nutzte.
Die Existenz bosnischer Muslime als eigenständige Ethnie wurde zunächst auch in Titos Jugoslawien bestritten, doch ab 1968 erkannte die neue Verfassung sie als sechstes konstituierendes Staatsvolk an. Von nun an konnten sie sich bei Volkszählungen als ethnische Muslime bezeichnen. Viele definierten sich jedoch als Jugoslawinnen und Jugoslawen, ehe im Zuge der Desintegration des Vielvölkerstaats ab 1991 eine Rückbesinnung auf den aus dem Mittelalter stammenden Begriff Bosniak einsetzte. Offiziell gelten sie heute als Bosnierinnen und Bosnier – dieselbe Bezeichnung, die unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit für alle Angehörigen des 3-Millionen-Einwohner-Staats verwendet wird.
Dodik aber bezeichnet das Land, das er neben dem bosnisch-muslimischen und dem bosnisch-kroatischen Repräsentanten persönlich im gemeinsamen Staatspräsidium vertritt, immer wieder als »künstlich«. Diese Perspektive kulminierte in der Forderung, dass Bosnien-Herzegowina »aufgelöst« gehöre. Im Sommer 2021 betitelte er die bosnischen Musliminnen und Muslime als »Konvertiten«. Damit knüpfte er an einen serbisch-nationalistischen Topos an, wonach diese lediglich Nachfahren von christlich-orthodoxen Slawen seien, die unter osmanischer Herrschaft zum Islam gezwungen wurden. Auch Mladić hatte bei der Einnahme Srebrenicas im Juli 1995 verkündet, dass »die Zeit gekommen ist, um Rache an den Türken zu nehmen«.
Der Osteuropaforscher Holm Sundhaussen beschrieb ein »Wahrnehmungsmuster«, das bereits in den 1980er Jahren unter Slobodan Miloŝević zutage trat, und das mit Dodiks antimuslimischem Ressentiment eng verknüpft ist. So beschwor der damalige serbische Präsident Miloŝević in seiner berüchtigten Amselfeld-Rede 1989 einen von Kosovo-Albanern verübten Genozid herauf – »als Fortsetzung der ›Völkermorde‹ an den Serben von 1389 bis zum Zweiten Weltkrieg«. Bald »begann der Märtyrer- und Genozid-Topos die öffentlichen Diskurse in Serbien (ebenso wie in Kroatien) zu beherrschen. ›Genozid‹ wurde zum Topthema«, so Sundhaussen in seiner Geschichte Serbiens: 19.-21. Jahrhundert.
In Belgrad oder Foĉa findet man heute Häuserwände mit dem Konterfei des Kriegsverbrechers Mladić vor, was bezeugt, wie wirkmächtig die Täter-Opfer-Umkehr auch Jahrzehnte später noch ist. Das wiederum erklärt, weshalb geschichtsrevisionistische Positionen drei Jahrzehnte nach Kriegsbeginn auf so fruchtbaren Boden fallen. In chauvinistischen Kreisen gipfelt das in blankem Triumphialismus, der sich etwa in der in Fußballstadien skandierten Parole artikuliert: »Nož, žica, Srebrenica!« (»Messer, Stacheldrahtzaun, Srebrenica!«)
Dodik wird in seinem Vorhaben nicht nur von Russland unterstützt. Wie am Vorabend des Kriegs 1992 machen dieser Tage auch wieder kroatische Nationalisten gemeinsame Sache mit Verfechtern eines Großserbiens – mit dem Ziel, Bosnien zu zerschlagen und die Idee eines Vielvölkerstaats für immer zu begraben. In Titos Jugoslawien war Bosnien die sozialistische Republik mit den meisten Mischehen. Die fluide Identität, die viele der meist nicht-gläubigen Muslime in multikulturellen Städten wie Sarajevo oder Mostar ausleben konnten, wurde spätestens dann zur existenziellen Bedrohung, als der ethnokonfessionell unterlegte Nationalismus von Miloŝević, Karadžić und Kroatiens Präsidenten Franjo Tuđman die liberalen Fundamente der jugoslawischen Föderation untergrub.
Sie konnten sich damit durchsetzen, weil eine wirtschaftliche Krise in den Jahren nach Titos Tod im Mai 1980 den Zusammenhalt des nach Zweitem Weltkrieg und Bürgerkrieg gegründeten Zweiten Jugoslawiens gefährdete. Der von westlichen Sozialdemokraten und Sozialistinnen als dritter Weg gepriesene Selbstverwaltungssozialismus erwies sich als schwer reformierbar. Das Wohlstandsgefälle zwischen den reichen Republiken Kroatien und Slowenien im Norden und Mazedonien, Serbien sowie der autonomen Republik Kosovo im Süden war weitaus schwieriger auszugleichen als noch in den 1970ern.
Diese Situation spitzte sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu, als die kroatische sowie slowenische Führung dem Mitteltransfer in die ärmeren Regionen zunehmend ablehnend gegenüberstanden, während die südlichen Gebiete den Egoismus der nordwestlichen Republiken kritisierten. Der Wohlstand und die Freiheit, die Jugoslawien im Vergleich zu anderen sozialistischen Ländern auszeichnete, gingen zurück, der Lebensstandard sank, die Orientierungslosigkeit wuchs. »Nicht die ›Balkan-Gespenster‹ des ethnischen Hasses kehrten zurück, sondern die Gespenster der Armut, der Verunsicherung und diffuser Angst«, so Sundhaussen.
An dieser Situation hat sich in Bosnien bis heute wenig geändert. Während es Kroatien und Slowenien gelang, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, scheint dieser Zug für die anderen früheren sozialistischen Teilrepubliken – allen Beteuerungen von EU-Vertretern zum Trotz – schon lange abgefahren zu sein.
Serbien hat daraufhin seine Bindungen an Moskau gefestigt, wo bis auf Weiteres mehr Unterstützung versprochen wird als in Brüssel. Für das Kosovo und Bosnien ist das keine Alternative, allenfalls die NATO verspricht mehr Schutz vor neuen Konflikten. Und die Traumata des letzten, nicht verarbeiteten Kriegs, sitzen tief: »Wie die jüdische Identität und die der armenischen Diaspora, wird auch die Identität der Bosniaken durch den Hass, dem sie ausgesetzt waren, und die Verluste, die sie erlitten haben, geboren oder verstärkt«, schreibt die kosovo-albanische Journalistin Una Hajdari. »Vor einem Völkermord kann die Definition der eigenen Identität eine Frage der persönlichen Entscheidung sein … Nach einem Völkermord wird sie zu einer Frage, die eng mit dem Überleben des multiethnischen Staates verbunden ist, den niemand will, von dem aber das eigene Überleben abhängt«, so Hajdari.
Die Folgen reichen inzwischen weit über den Balkan hinaus. So waren sowohl der Rechtsterrorist Andreas Behring Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete, wie Brenton Tarrent, der 2019 im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen in zwei Moscheen umbrachte, von Karadžićs antimuslimischer Propaganda inspiriert. »Bizarrerweise war Breivik ganz besonders davon angetan, wie Karadžić westlichen Medien gegenüber den Bosnienkrieg verkaufte« , so der Politologe Jasmin Mujanovic. »Er stellte Bosnien als eine unhaltbare, unnatürliche Gesellschaft dar, weil sie multikulturell war und in der die Serben angeblich unterdrückt wurden. Sowohl Karadžić als auch Mladić ging es mit ihrer Ideologie um die Rechtfertigung des Krieges und Genozids. Sie sahen sich in einem Kampf der Zivilisationen, zwischen Christentum und Islam. Bosnische Muslime waren für sie Eindringlinge und Fremde in Europa.«
Neben Rechtsterroristen, die sich positiv auf die Kriegsverbrecher Karadžić und Mladić beziehen, wird der Genozidleugner Dodik auch von rechten Politikern wie Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán unterstützt. » Die Herausforderung in Bosnien besteht darin, ein Land mit 2 Millionen Muslimen zu integrieren«, sagte er Anfang des Jahres – und sprach sich offen gegen eine Erweiterung der EU in Südosteuropa aus, wo neben Bosnien-Herzegowina mit dem Kosovo und Albanien weitere EU-Beitrittskandidaten mit mehrheitlich muslimischem Bevölkerungsanteil liegen. Als die EU androhte, Sanktionen gegen Dodik wegen dessen separatistischer Politik zu verhängen, kündigte Orbán an, dass er diese boykottieren und die Republik Srpska stattdessen bilateral mit 100 Millionen Euro unterstützen werde. Dodiks muslimischer Kollege im bosnischen Staatspräsidium, Sefik Daferovic, bezeichnete die »radikalen, xenophoben und rassistischen Ideologien« Orbáns und seiner Gesinnungsgenossen als Gefahr für Europa.
Aber auch in den Reihen der Linken finden sich Verteidiger des serbischen Geschichtsrevisionismus. So bezeichnete Noam Chomsky 2006 das 1992 eingerichtete bosnisch-serbische Konzentrationslager Trnopolje als »Flüchtlingscamp«, das Menschen hätten »verlassen können, wenn sie wollten«. Im Jahr 2011 verfasste Chomsky das Vorwort zu The Politics of Genocide. Darin behaupten die Autoren Edward Herman und David Peterson, dass serbische Einheiten in Srebrenica »unbestritten niemand töteten außer bosnisch-muslimische Männer in wehrfähigem Alter«.
In Deutschland wurde diese Lesart in linken Zeitungen und Zeitschriften wie der Jungen Welt und Konkret vertreten, am prominentesten vielleicht von Jürgen Elsässer, der heute Chefredakteur des rechtsextremen Magazins Compact ist. 2003 bezifferte er die Opferzahl des Genozids auf 1.500 und schon ein Jahr später schrieb er in der Jungen Welt vom »Srebrenica-Mythos«.
Dodik und seine sezessionistischen Gefolgsleute in Banja Luka fühlen sich durch die Unterstützung von Russland und nationalistischen bosnisch-kroatischen Kräften in ihrem Kurs bestärkt, der in vielem der Rhetorik vor dreißig Jahren gleicht. Sorgten die Dekrete des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft, der nach dem Dayton-Friedensschluss von 1995 eingesetzt wurde, zumindest im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende noch für eine gewisse Mäßigung, bleiben diese Positionen nun weitgehend unsanktioniert.
Hinzu kommt, dass sich Dodik heute – im Vergleich zu den 2000er Jahren, als eine EU-Beitrittsperspektive absehbar erschien – auf ein Bündnis rechter Politiker verlassen kann, das seine antimuslimischen Ressentiments teilt. Die wirtschaftlichen Versprechen von Orbán und anderen Vertretern der Visegrad-Gruppe spornen seinen Destabilisierungskurs weiter an.
Die Republik Srpska ist ohne Auslandstransfers ökonomisch kaum überlebensfähig. Ob der Anschluss an Serbien vor diesem Hintergrund also wirklich realistisch erscheint, ist eine andere Frage. Dodiks Fähigkeit, die EU wie vor dreißig Jahren an der Nase herumzuführen, bleibt dennoch brandgefährlich – und sie erklärt, weshalb die nicht-serbischen Eliten Bosniens einer NATO-Mitgliedschaft im Vergleich zu einem EU-Beitritt mittlerweile fast den Vorzug geben würden.
Der mangelnde Wille von EU und USA, dem geschichtsrevisionistischen Vorgehen Einhalt zu gebieten, hat deshalb auch dazu geführt, dass die Republik Srpska bereits erfolgte Schuldeingeständnisse wieder zurücknahm. So beschloss das bosnisch-serbische Parlament in Banja Luka 2018 die Einrichtung einer »Unabhängigen Internationalen Kommission des Leidens aller Nationen in der Region Srebrenica von 1992 bis 1995«. Ziel war es, die Ereignisse von Srebrenica neu zu bewerten, nachdem 2004 eine Kommission der Republik Srpska zu dem Schluss gekommen war, dass dort mindestens 7.800 Menschen ermordet worden waren. Der damalige bosnisch-serbische Präsident Dragan Čavić hatte die Massenerschießungen und Vertreibungen von mehr als 20.000 Frauen und Kindern nach dem Fall Srebrenicas als »dunkles Kapitel« bezeichnet und eine offizielle Entschuldigung ausgesprochen.
Dodik ist schon lange nicht mehr dazu bereit, diesen politischen Kurs weiter zu tragen. Die 2021 veröffentlichten Ergebnisse der von ihm einberufenen Kommission sprechen für sich: Im Abschlussbericht wird behauptet, dass die Mehrzahl der über 8.000 Opfer nicht von serbischen Milizen erschossen wurde. Außerdem wird festgestellt, dass es sich bei 2.500 bis 3.000 Personen um »Kriegsgefangene« handelte und »nur mehrere hundert männliche Zivilisten« unter den Opfern waren. Das »vereinfachende Bild der kaltblütig geplanten Ermordung von bis zu 10.000 muslimischen Männern« sei »nicht haltbar«, heißt es in dem mehr als tausend Seiten langen Abschlussbericht – obwohl diese Zahl nie im Raum stand. Die Schlussfolgerungen der Kommission stehen damit in eklatantem Widerspruch zu mehreren Urteilen des UN-Kriegsverbrechertribunals für das frühere Jugoslawien, in denen die Massaker als Völkermord bezeichnet wurden.
Stattdessen widmete der israelische Leiter der Kommission, Gideon Greif, gleich mehrere Kapitel der Situation in der Region um Srebrenica während der osmanischen Ära. Bevor Greif für die von der Republik Srpska finanzierte »Unabhängige Internationale Kommission« arbeitete, war der Holocoaust-Forscher unter anderem in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem tätig gewesen. Der unter seiner Federführung entstandene Bericht kommt zu dem Schluss, dass Srebrenica bereits zum »bosniakischen Gründungsmythos geworden sei« ehe »solide Informationen überhaupt vorlagen«. Damit knüpft er an die geschichtsrevisionistische Agenda an, die die Politik der Verfechter eines Großserbiens seit Jahrzehnten bestimmt.
In einem Fernsehinterview nach Vorstellung des Berichts im Juni 2021 räumte Greif ein, dass seine Kommission nicht alle verfügbaren Unterlagen zu Srebrenica habe einsehen können. »Wir waren aber der Wahrheit treu«, bekräftigte er und fügte hinzu: »Ich bin jüdisch. Ich weiß, was Genozid bedeutet … Dieses Ereignis war kein Genozid.« Greif ging sogar noch weiter und behauptete: »Diejenigen, die diesen Begriff verwenden, verfolgen schlechte Absichten.«
Der damalige Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Sarajevo, Valentin Inzko, nutzte seine Vollmachten im Juli 2021 und erließ per Dekret ein Gesetz, dass die Verherrlichung und Leugnung von Kriegsverbrechen, Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe stellte. Dodiks Reaktion war eindeutig: »In Srebrenica ist kein Völkermord geschehen«, sagte er nach dem Erlass in Banja Luka. »Und die Tatsache, dass diese Geschichte vom Völkermord jetzt auf diese Weise abgehandelt werden soll, zeigt, dass dieser Völkermord fraglich ist und dass jetzt versucht wird, ihn dem serbischen Volk gewaltsam aufzuzwingen.«
Dass ausgerechnet ein israelischer Historiker von den nationalistischen Behörden in Banja Luka eingesetzt wurde, um die Srebrenica-Kommission zu leiten, hat für den Genozidforscher Menachem Rosensaft einen einfachen Grund: »Indem er sich in den Mantel der jüdischen Opferrolle hüllte«, konnte er Parallelen zwischen jüdischem und serbischem Leiden ziehen – dieses Narrativ verbreiten serbische Revisionisten schon seit Jahrzehnten.
Anfang des Jahres zog übrigens auch die Bundesregierung in Berlin die Konsequenzen aus der unheilvollen Verquickung von Geschichtsrevisionismus und Genozidleugnung der Srebrenica-Kommission. Kurz bevor Greif für seine Arbeit als Holocaust-Historiker und Chronist der jüdischen Migration aus Deutschland nach Israel das Bundesverdienstkreuz verliehen werden sollte, verkündete das Außenministerium im Januar, dass der Vorschlag zurückgezogen werde.
»Die Tatsache, dass ich jüdisch und ein israelischer Wissenschaftler bin, ist der Grund für solch heftige, bösartige persönliche Angriffe«, erwiderte Greif und machte »Muslimbrüder-Organisationen in Bosnien« für die Entscheidung verantwortlich. Auf seine Ankündigung, die Kritik an dem Abschlussbericht mit einer Korrektur zu beantworten, darf man gespannt sein. Der Beginn des Genozids an mehr als 8.000 bosnischen Muslimen jährt sich nun zum 27. Mal.
Der Gedenktag reißt Jahr um Jahr tiefe Wunden bei den Angehörigen der Opfer auf, auch wenn die Verurteilung von Kriegsverbrechern wie Mladić und Karadžić zu lebenslangen Haftstrafen einen Sinn für Gerechtigkeit gestiftet hat. Den Müttern, Brüdern und Schwestern von Srebrenica geht es dabei so wie den meisten ihrer Landsleute in anderen Teilen Bosniens, wo zwischen 1992 und 1995 fast 100.000 Menschen getötet wurden, davon 40.000 Zivilisten: Die Sehnsucht nach einem einfachen Leben in Wohlstand und Sicherheit ist stärker als die von den nationalistischen Eliten propagierten Zerrbilder aus der Vergangenheit. Doch nach über dreißig Jahren ethnisch-politischer Erstarrung und wirtschaftlichem Kollaps fehlt es an Organisationen, die in der Lage wären, gegen diese Eliten zu mobilisieren und allen Menschen in Bosnien eine andere Zukunftsperspektive zu bieten.
Markus Bickel berichtete von 2002 bis 2005 mit Sitz in Sarajevo für deutschsprachige Zeitungen aus den früheren jugoslawischen Teilrepubliken. Zurzeit leitet er das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.
Markus Bickel berichtete von 2002 bis 2005 mit Sitz in Sarajevo für deutschsprachige Zeitungen aus den früheren jugoslawischen Teilrepubliken. Zurzeit leitet er das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.