19. Juli 2023
Vor hundert Jahren gründete sich die Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde: die größte laienreformpädagogische Organisation der Welt.
»Ziel war die Kinderselbstverwaltung im Zeltlager.«
Collage: Andy KingDauerregen plagte die Kinderrepublik Seekamp im Jahr 1927. Einige Zelte waren bereits vollgelaufen, während die Kinder und ihre erwachsenen Helferinnen und Helfer versuchten, das eindringende Wasser mit Eimern und Waschschüsseln aufzufangen. Aus der verzweifelten Lage entwickelte sich jedoch schnell ein praktisches Beispiel gelungener Selbstorganisation:
»[E]he wir uns […] versahen, standen wir in zwei langen Reihen. Die vollen Eimer folgen von Hand zu Hand, die andere Reihe reichte die leeren Eimer zurück. Irgendeiner fing zu singen an, und plötzlich sangen wir Zweitausend unser schönes trotziges Kampflied: ›Kaltes Blut, heißer Mut! Vorwärts, es wird gehen! Wenn wir zusammenstehn!‹ Und es ist gegangen! Im Nu war das Wasser fortgetragen, waren die Gräben erweitert. […] Wer sollte uns auch unterkriegen, solange wir einig und hilfsbereit sind! […] Mittags stand in der Parole: ›Das Lagerparlament dankt allen Genossen, die beim Unwetter so tatkräftig geholfen haben die bedrohten Zelte zu retten und die Unwetterschäden zu beseitigen. So haben wir wieder einmal gezeigt, daß wir gemeinsam mehr leisten können als einzeln. Im Zusammenschluss liegt unsere Kraft.‹«
Als dieser Bericht in der Broschüre Die rote Kinderrepublik: Ein Buch von Arbeiterkindern für Arbeiterkinder erschien, gab es die Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde erst seit wenigen Jahren. Im vielfältigen proletarischen Vereinswesen füllte sie die Leerstelle der sozialistischen Erziehung von Arbeiterkindern. Die Bewegung hatte, so formulierte es ihr Vorsitzender Kurt Löwenstein, ein »Programm, das in der Klassenlage der Arbeiter und ihrer Kinder ihren Ausgangspunkt, im Sozialismus ihr allgemeines Ziel hatte«.
Eingebettet in das Arbeitermilieu und unter dem Schutz einer starken sozialdemokratischen Partei, die sich noch als sozialistische verstand, entwickelten sich die Kinderfreunde zur größten laienreformpädagogischen Organisation weltweit, die in ihren Gruppen hunderttausende Arbeiterkinder versammelte und an deren Kinderrepubliken über die Jahre ebenfalls tausende proletarische Kinder teilnahmen. In bewussten Arbeiterfamilien war klar: Die Kinderfreunde erziehen den Nachwuchs »von der Klasse, für die Klasse« für die sozialistische Zukunft.
Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!
Frederik Schwieger ist Sozialpädagoge und war früher aktiv bei der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken.