24. Mai 2025
Der menschliche Glaube an Fortschritt steht offenbar vor dem Ende. Der Soziologe Göran Therborn zeichnet die Geschichte der Fortschrittsidee nach – und plädiert dafür, sie wiederzubeleben.
Göran Therborn ist einer der weltweit führenden Soziologen. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Die Gesellschaften Europas 1945–2000. Ein soziologischer Vergleich, The Killing Fields of Inequality sowie The World: A Beginner’s Guide. In einem Essay für New Left Review aus dem Jahr 2016 hatte Göran Therborn argumentiert, in der Linken herrsche eine pessimistische Stimmung gegenüber der historischen Idee des Fortschritts, die er für falsch halte: »Gegen, oder vielleicht vorsichtiger gesagt, neben der düsteren Stimmung, die in der Linken, einschließlich der umweltorientierten gemäßigten Linken, vorherrscht, lässt sich sagen, dass die Menschheit heute auf einem historischen Höhepunkt ihrer Möglichkeiten steht – im Sinne ihrer Fähigkeit und ihrer Ressourcen, die Welt und sich selbst zu gestalten.«
Im Interview mit JACOBIN spricht Therborn über seine Überlegungen zur Dynamik der menschlich-sozialen Evolution.
Inwiefern ist die Vorstellung von Fortschritt an sich eine relative historische Neuheit?
Fortschritt ist ein Anliegen der Linken seit ihrer Entstehung vor mehr als zwei Jahrhunderten. Der Begriff tauchte aber bereits vor der Moderne und einer generellen Orientierung hin zu einer offen gestaltbaren Zukunft auf. Vormoderne Interpretationen der Geschichte sahen diese meist zyklisch oder als den Niedergang einer früheren Blütezeit. Für Christen aus dem einfachen Volk gab es den Garten Eden; für Gelehrte, Künstler und Intellektuelle waren derweil das klassische Griechenland und Rom prägend. Aristoteles war mehr als 1.500 Jahre lang die große Autorität in der Wissenschaft, neben anderen alten Meistern in bestimmten Disziplinen, wie dem griechisch-römischen Anatom Galen aus dem zweiten Jahrhundert. Die zeitlichen Maßstäbe in der Wissenschaft waren in vormodernen Zeiten ganz anders.
Dann trug die post-klassische »Entdeckung« und Eroberung Amerikas durch die Europäer dazu bei, das bislang vorherrschende Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem antiken Wissen abzuschwächen. Häufiger wurden nun technische Errungenschaften der jüngeren Vergangenheit als Argumente gegen diese vermeintliche Minderwertigkeit angeführt, sei es die Druckerpresse, der Schiffskompass oder das Teleskop.
Im 17. Jahrhundert setzte sich die kontemporäre Wissenschaft – und ihr Fortschrittsdenken – im Kampf gegen die Antike durch. Der englische Philosoph Francis Bacon war ein Vorreiter; der Franzose René Descartes lieferte die philosophischen Grundlagen für den Bruch mit der Vergangenheit. Isaac Newtons Physik läutete eine neue wissenschaftliche Ära ein, die in der britischen Royal Society und der französischen Académie des Sciences institutionalisiert wurde. In diesem Jahrhundert kam es auch auf ästhetischer Ebene zu einer großen Revolte gegen die Unterwerfung vor der Antike: Es kam zur literarischen Querelle des Anciens et des Modernes in Frankreich, und die modernen Schriftsteller »des Jahrhunderts Ludwigs des Großen« forderten ihre Gleichstellung mit der antiken Literatur.
»In Europa und Nordamerika war das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert epochaler Veränderungen und Umbrüche, sowohl in gesellschaftlicher als auch in technologischer Hinsicht.«
In politischer Hinsicht kam mit der Französischen Revolution ein Blick auf die Zukunft als ein offenes Terrain, das der Mensch selbst gestalten kann, auf. Damals erhielten die Begriffe Revolution und Reform ihre heutige Bedeutung als Prozesse eines sozialen Wandels, die zu einer neuen Gesellschaftsform führen. Zuvor bedeuteten »Reformation« beziehungsweise »réforme« vielmehr Wiederherstellung – im christlichen Protestantismus beispielsweise eine Rückkehr zum Christentum vor den Päpsten.
Revolution bedeutete ursprünglich »zurückrollen«. Der Begriff hat mehrere Bedeutungen angenommen, zunächst astronomische, die sich auf die wiederkehrenden Bewegungen von Himmelskörpern bezogen, wie in Nikolaus Kopernikus’ Werk De revolutionibus orbium coelestium (Deutsch: Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären) von 1543. Mitte des 17. Jahrhunderts umfasste der Begriff »Revolution« auch Ereignisse wie politische Unruhen, Proteste oder Gewalt. In diesem losen Sinne wurde der Begriff als Bezeichnung für die Glorious Revolution von 1688 in England verwendet. Später, im Zuge der Umwälzungen von 1789, behaupteten Konservative wie Edmund Burke, die jüngste »Revolution« in Frankreich beinhalte »keine einzige neue Idee« und diene ausschließlich »zur Erhaltung unserer alten, unbestreitbaren Gesetze und Freiheiten«.
Im wichtigsten intellektuellen Werk der Aufklärung, der französischen Encyclopédie, erschien 1765 der Band mit dem Buchstaben R. Darin sind mehrere Einträge zu »révolution« enthalten, beispielsweise einer, der sich mit der Uhrmacherkunst beschäftigt. Die Französische Revolution selbst legte die heutige Semantik des Begriffs »Revolution« fest; und zusammen mit den darauffolgenden britischen Bestrebungen für parlamentarische Veränderungen popularisierte sie die Verwendung des Begriffs »Reform« als Mittel zum Erreichen von etwas Neuem und Besserem.
Können wir Begriffe wie »Meisterung« oder »Beherrschung« von traditionellen Vorstellungen trennen, dass die Menschheit ein Recht hat, über die Natur zu herrschen?
Ich glaube nicht, dass man diese Frage unter dem Aspekt von »Rechten« stellen sollte. Für die Menschen vor der Moderne war die Natur oft eine überwältigende Kraft, die Dürren, Überschwemmungen, Frost, Vulkanausbrüche und Erdbeben mit sich brachte, ganz zu schweigen von Seuchen und Epidemien.
Es gab auch vormoderne Vorstellungen von der Natur als einer belebten Gesamtheit, zu der die Menschen gehörten und der sie entsprechend Respekt schuldeten. Solche Vorstellungen scheinen jedoch zumindest unter den europäischen Bauern sowie den Stadtbewohnern des Mittelalters – dem Milieu, aus dem die Moderne hervorging – nicht sehr verbreitet gewesen zu sein. Die »Beherrschung« der Natur durch die Moderne begann als Befreiung des Menschen von der Fremdbestimmung durch die Natur, deren Kern die sogenannte Malthusianische Falle bildete, wonach gute Ernten zu Überbevölkerung und einer baldigen, erneuten Hungersnot führten.
Persönlichkeiten wie Bacon, der sowohl ein prominenter Politiker als auch der philosophische Vorläufer eines »neuen Organs der Wissenschaften« mit seinem Buch Novum Organum war, konnten schon 1603 Texte über »die maskuline Geburt der Zeit oder die große Instauration der Herrschaft des Menschen über das Universum« schreiben. Die Menschen wurden aufgerufen, »die Natur zu ihrem Sklaven zu machen«. Er begründete dies tatsächlich als ein Recht, das der Menschheit von Gott verliehen worden sei.
Wir können die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts aber auch als Entdeckung von Naturgesetzen betrachten, die der Mensch zwar nutzen, aber eben nicht beherrschen und verändern kann. Diese Sichtweise übertrug sich auf die Wirtschaftswissenschaften des 19. Jahrhunderts und den Evolutionismus von Spencer. Für Descartes ermöglichten »die Früchte der Erde und alles Gute, das darin zu finden ist« sowie Wissenschaft und Erfindungen der Menschen das Erreichen des höchsten Gutes: »die Erhaltung der Gesundheit«.
Was waren die Grenzen und Einschränkungen des sozialen Evolutionismus des 19. Jahrhunderts?
In Europa und Nordamerika war das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert epochaler Veränderungen und Umbrüche, sowohl in gesellschaftlicher als auch in technologischer Hinsicht. Dies gilt wohl mehr als für jede andere Epoche in der Geschichte. Es war das Zeitalter der Dampfmaschine, des elektrischen Lichts, der Eisenbahn, der Dampfschiffe, des Telegrafen und vieler anderer Erfindungen. Das Ende der Herrschaft der Könige und Aristokraten zeichnete sich ab; und auf der Grundlage von Industrie und Kapitalismus entstand eine neue Wirtschaft.
Sicherlich gab es viele Kontinuitäten und unvollständige Veränderungen. Aber im Allgemeinen wurden mehr Güter produziert als je zuvor, Transport und Reisen wurden schneller, und die einfachen Menschen hatten mehr Rechte und Freiheiten. Kurz gesagt, die Menschheit bewegte sich, entwickelte sich weiter. Die neuen Geisteswissenschaften Soziologie und Anthropologie versuchten, diese Geschehnisse zu verstehen und die entstehende neue Gesellschaft zu kategorisieren.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass das 19. Jahrhundert zum Jahrhundert des Evolutionismus wurde. Neue wissenschaftliche Durchbrüche eröffneten großen Bevölkerungsgruppen neue Perspektiven, die Geologie veränderte den Zeitrahmen der Erde, und Charles Darwin zeigte, wie sich das Leben auf dem Planeten entwickelt hatte.
Der viktorianische Sozialevolutionismus blieb aber insgesamt in sich geschlossen und wurde zu so etwas wie einem säkularisierten Cousin der christlichen Vorsehungslehre: Er war universalistisch und man ging davon aus, dass alle Menschen auf derselben Treppe der soziokulturellen Entwicklung standen, nur eben auf verschiedenen Stufen. Das wurde typischerweise in eurozentrischen und rassistischen Begriffen ausgedrückt. Nach Montesquieu durchlief die Menschheit verschiedene Stadien von »Wildheit, Barbarei und Zivilisation«.
»In Anlehnung an die Arbeiten von Amartya Sen würde ich vorschlagen, dass wir Fortschritt als Verbesserung der Funktionsfähigkeiten der Menschheit definieren.«
Fortschritt und Entwicklung waren in diesem Modell deterministisch, mit einer inhärenten Tendenz zu langsamen, schrittweisen und grundsätzlich ungeplanten Veränderungen. Jeder politische Versuch, diese Tendenz zu beeinflussen, wäre zwecklos gewesen. Das letztliche Ziel, sozusagen das Endstadium dieser Entwicklung war klar: »Die größte Vollkommenheit [des Menschen] und das vollkommenste Glück«, wie Herbert Spencer es formulierte.
Darwins Evolutionstheorie war ursprünglich von dem konservativen Ökonomen Thomas Malthus und seiner düsteren Vision vom »Kampf ums Dasein« inspiriert worden. Im späten 19. Jahrhundert kehrte der Darwinismus dann in Form des Sozialdarwinismus in die menschliche Gesellschaft zurück. Er wurde zur Ideologie der Tycoons der Gilded Age: »Survival of the fittest«, das Überleben der (ökonomisch) Stärksten.
Dennoch gibt es auch positive evolutionäre Tendenzen, im Sinne von modernen Entwicklungen in Wissenschaft, Medizin und Technik. Diese Tendenzen erweitern grundsätzlich die Möglichkeiten der Menschen – auch, wenn das Ausmaß, in dem diese Möglichkeiten dann realisiert werden, von Machtverhältnissen abhängt, die weitgehend festgeschrieben sind. Ich denke, die Linke sollte diese Perspektive auf unsere gegenwärtige Welt nicht vernachlässigen.
Ich bin auch davon überzeugt, dass eine evolutionäre Perspektive, die die »adaptive soziale Dynamik« der Nachahmung – des beobachteten Erfolgs oder Misserfolgs und der entsprechend folgenden Nachahmung oder Abkehr – berücksichtigt, in der politischen Analyse ebenso ernüchternd wie erhellend sein kann. Der Kern des kritischen Denkens besteht meines Erachtens darin, nach Widersprüchen, Ungleichgewichten und Ungleichheiten in der gesellschaftlichen Realität (sowie in den Aussagen über sie) Ausschau zu halten.
Welche Fortschritte hat die Menschheit vollbracht, als Spezies eine Art kollektives Handeln zu entwickeln?
Erdenweites menschliches Handeln ist historisch gesehen erst seit dem späten 19. Jahrhundert zu beobachten, wobei die Versuche, ein planetenweites Zeitsystem zu schaffen, bis weit ins folgende Jahrhundert hinein andauerten. Im Jahr 1899 fand die erste globale Staatenkonferenz statt, eine vom russischen Zaren initiierte Friedenskonferenz in Den Haag. Im Jahr 1900 folgte in Paris der erste große Weltkongress von Wissenschaftlern – in diesem Fall von Philosophen.
Es wurden sicherlich Fortschritte erzielt: Am wichtigsten sind wohl die diversen Organisationen der Vereinten Nationen – die IAO, UNICEF, UNESCO und so weiter – beispielsweise mit den im Jahr 2000 aufgestellten Sustainable Development Goals oder den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung 2015. Die Weltklimakonferenzen, die es seit 1979 gibt, sind valide Versuche, die akute Klimawandelkrise zu bewältigen. Auch wenn diese Konferenzen nicht genug erreicht haben, so haben sie doch globale Wirkung gehabt. Die Interessen des Kapitalismus im Weltmaßstab werden derweil von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds überwacht und zum Teil auch gesteuert.
»Kaum jemand wird bestreiten, dass es in den vergangenen Jahrhunderten irreversible Fortschritte in den Bereichen Wissenschaft, Medizin und Technologie gegeben hat.«
Man muss aber auch feststellen, dass Israels völkermörderischer Krieg gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser, mit Unterstützung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, in Verbindung mit einer regelrecht beleidigenden und demütigenden Missachtung der UN (einschließlich der Erklärung der UNRWA zu einer terroristischen Organisation) den Beginn eines Zusammenbruchs der UN-Welt andeutet. Die israelische Missachtung des Völkerrechts und der internationalen Gerichte – ermöglicht durch die Duldung Joe Bidens und nun Donald Trumps – deutet auf die Entstehung einer anarchischen Welt mit einer imperialistischen Geopolitik hin.
Für einige Menschen dürfte es selbstverständlich sein, dass die Geschichte der Menschheit von positiven Fortschritten in diversen Bereichen gekennzeichnet ist. Sie haben sich mit Ihrer Argumentation aber insbesondere an diejenigen gerichtet, die diese Prämisse anzweifeln. Welche Art von Fortschritt würden Letztere sehen und anerkennen?
Vielleicht sollten wir zunächst präzisieren, was wir unter Fortschritt verstehen wollen. In Anlehnung an die Arbeiten von Amartya Sen würde ich vorschlagen, dass wir Fortschritt als Verbesserung der Funktionsfähigkeiten der Menschheit definieren. Dies muss dann in spezifische Bereiche unterteilt werden, die wiederum in mindestens zwei Kategorien eingeteilt werden können: Wissen und gesellschaftliche Technologie sowie gesellschaftliche Organisierung.
Im ersten Bereich sollten wir in Sachen Fortschritt auf Faktoren wie Lebens- und Gesundheitserwartung, Bildung, wissenschaftliches Fachwissen, Produktivität, Mobilität und Kommunikationsfähigkeiten schauen. Im anderen, zweiten Bereich sollten wir uns auf die soziale Inklusion im weitesten Sinne konzentrieren, die unter anderem Gleichheit und soziale Solidarität (sprich: Hilfe in Notlagen) sowie individuelle Autonomie/Freiheit umfasst.
Idealerweise sollte Fortschritt unter Berücksichtigung der zunehmenden Zerstörung des menschlichen Lebensraums und von Menschen selbst gemessen werden. Einige Daten sind in dieser Hinsicht verfügbar, zum Beispiel über die Zahl der Todesfälle durch Mord, Kriege und Naturkatastrophen. Andere sind hingegen schwer abzuschätzen, wie etwa Auswirkungen von Umweltzerstörung oder der größeren Effizienz der eingesetzten Zerstörungs- und Tötungsmittel.
Kaum jemand wird bestreiten, dass es in den vergangenen Jahrhunderten irreversible Fortschritte in den Bereichen Wissenschaft, Medizin und Technologie gegeben hat. Die industrielle Revolution und die Agrarrevolutionen, die Produktivität und Einkommen steigerten, sind sicherlich ein Beispiel dafür. Das weltweite Pro-Kopf-BIP hat sich zwischen 1820 und 2003 verzehnfacht. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen bei der Geburt ist von geschätzten 26 Jahren im Jahr 1820 auf 73 Jahre 2020 gestiegen.
1820 lag die Alphabetisierungsrate der Weltbevölkerung ab dem Sekundarschulalter bei etwa zwölf Prozent; 2020 waren es 87 Prozent. Natürlich gibt es bei allen diesen Indikatoren große territoriale Ungleichheiten, und die Fortschrittskurve kann lokal und zu gewissen Zeitpunkten sogar nach unten gezeigt haben. Letzteres gilt beispielsweise für die USA und das Vereinigte Königreich, wo die Lebenserwartungsraten in den 2010er Jahren gesunken sind. Dennoch ist kein einziges Land bei irgendeinem der drei Indikatoren unter das Niveau von vor 1950 gefallen.
Die Fortschrittsbilanz in Fragen der gesellschaftlichen Organisierung ist zwiespältiger: Es gab sowohl progressive als auch regressive Tendenzen und deutlich größere Unterschiede über Zeit und geografischen Raum hinweg. Unbestreitbar gab es große Fortschritte in Bezug auf die menschliche Freiheit: Mit dem Ende der Leibeigenschaft und der Sklaverei wurde ein System der freien Arbeit vorherrschend, und die Einzelperson erlangt weitgehend die Möglichkeit, ihre Ausbildung, ihren Beruf, ihre Religion und ihren Partner zu wählen. Wahrscheinlich gibt es auch mehr Freiheit, sich an kollektiven Organisierungsarten und -aktionen zu beteiligen (oder darauf zu verzichten) als etwa vor zwei oder drei Jahrhunderten.
Die absolute Einschränkung der menschlichen Freiheit durch Inhaftierung und Tötung ist aber nicht eindeutig und durchgängig rückläufig: In der Sowjetunion war die Zahl der Inhaftierten unter Joseph Stalin auf einen Höchststand von 1.470 bis 1.760 Personen pro 100.000 Einwohner gestiegen. Von Mitte der 1950er Jahre bis heute ist die Zahl der Inhaftierten zurückgegangen, bleibt aber immer noch auf einem hohen Niveau, das im postsowjetischen Russland im Jahr 2022 bei rund 322 pro 100.000 lag. Die Inhaftierungsraten in den USA stiegen nach dem Bürgerkrieg sowohl in den Nord- als auch den Südstaaten stark an. Ab 1970 gab es dann einen sprunghaften Zuwachs. 2008 wurde mit 755 Gefangenen pro 100.000 ein historischer Höchststand erreicht. Dies entspricht immerhin rund der Hälfte der sowjetischen Höchstquote unter Stalin. Bis 2022 sank die Inhaftierungsquote in den USA wieder auf 541.
Trotz dieses Rückgangs in Russland und den USA zeigt die weltweite Gefangenenpopulation in den zehn Jahren zwischen 2012 und 2022 eine leichte Aufwärtstendenz. Die derzeitige weltweite Gefängnispopulation beträgt etwa 11,5 Millionen Menschen. Im 20. Jahrhundert deuteten die Zahlen auf einen Rückgang der menschlichen Freiheit in der UdSSR, den Vereinigten Staaten und vielen anderen Ländern hin, doch die Zahl der Opfer dieser Entwicklung wurde von den Nutznießern der größeren Freiheit in anderen Bereichen übertroffen.
Die tödliche Gewalt hat mit der Ausbreitung von Handel und Industrialisierung derweil nicht abgenommen, wie die Aufklärer und die Evolutionisten des 19. Jahrhunderts geglaubt hatten. Der Zweite Weltkrieg war die tödlichste Auseinandersetzung in der Geschichte der Menschheit – mit insgesamt 70 bis 85 Millionen Toten, einschließlich der indirekten Todesopfer durch Krankheiten und Hungersnöte. Mehr als die Hälfte aller Opfer waren sowjetisch oder chinesisch.
»Die Zweifel, ob die Menschheit Fortschritte macht, sind verständlich. Ein charakteristisches Merkmal (und eine Stärke) einer marxistischen Bildung ist jedoch die Bereitschaft, den widersprüchlichen Charakter der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu sehen.«
Die Grausamkeit der staatlichen Unterdrückung durch autoritäre Regime erreichte im 20. Jahrhundert ein noch nie dagewesenes Ausmaß. Versuche in der Nachkriegszeit, erneute Massaker zu verhindern, erwiesen sich als weitgehend erfolglos. Die Konventionen über Völkermord, Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren gegen die fortgesetzten kolonialen Praktiken Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der USA in Algerien, Madagaskar, Kenia oder Vietnam sowie gegen den anhaltenden israelischen Genozid an den Palästinensern wirkungslos.
Nach Ende des Kalten Krieges hat sich an der Tendenz nichts geändert: Die von den Vereinigten Staaten nach 9/11 geführten Kriege haben mehr als 900.000 Menschen direkt getötet, darunter 15.000 US-Amerikaner. Die indirekten Todesfälle durch Zerstörung und Krankheit beliefen sich auf fast vier Millionen. Folter und von Menschen verursachte Hungersnöte sind auch im 21. Jahrhundert noch präsent, wie die Beispiele Irak, Palästina, Sudan, Äthiopien und andere Fälle belegen.
Können wir die Tötung der einen mit einem längeren und besseren Leben der anderen in einem Atemzug nennen und gegeneinander aufwiegen? Dies ist eine moralische Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt und über die es wahrscheinlich keinen Konsens geben wird. Ich will nicht so tun, als wüsste ich, wie man sie richtig beantworten kann. Lassen Sie mich nur ein demografisches Argument anführen, das neben den bekannten Horrorgeschichten zu berücksichtigen wäre.
Trotz enormer Kriegsverluste wuchsen die Bevölkerungen der Sowjetunion und Chinas zwischen 1913 und 1950 um 0,38 beziehungsweise 0,61 Prozent pro Jahr (im kolonialen Indien betrug das Bevölkerungswachstum im gleichen Zeitraum 0,45 Prozent pro Jahr). 1950 lebten 2,5 Milliarden Menschen auf der Welt, und dieser Geburtsjahrgang konnte sich im Durchschnitt auf vierzehn zusätzliche Jahre eines wohlhabenderen Lebens freuen als noch der Jahrgang von 1913.
Die soziale Inklusion wurde ausgeweitet – durch den Abbau des expliziten, institutionalisierten Rassismus, die Entkolonialisierung, die Delegitimierung und Schwächung von Kastensystemen und die Gewährung von Bürgerrechten für Frauen sowie für indigene Völker.
Auf der Sollseite hingegen nahm die soziale Ausgrenzung in Form von ökonomischer Ungleichheit auf globaler Ebene seit 1820 zu und erreichte 1910 einen Höhepunkt, gefolgt von einem Hochplateau bis etwa 1950. Danach ging sie bis etwa 1980 zurück, bevor sie 2007 wieder auf das Niveau von 1910 angestiegen war und schließlich im Jahr 2020 das Niveau der 1890er Jahre erreichte. Mit anderen Worten: Bei der ökonomischen Angleichung und Inklusion gab es keine dauerhaften Fortschritte. Die Möglichkeiten, die sich aus der Steigerung der menschlichen Produktivität im 20. und im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts ergeben hatten, wurden nicht genutzt.
Die Zweifel, ob die Menschheit Fortschritte macht, sind somit verständlich. Ein charakteristisches Merkmal (und eine Stärke) einer marxistischen Bildung ist jedoch die Bereitschaft, den widersprüchlichen Charakter der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu sehen. Ja, in einigen Bereichen hat es Fortschritte gegeben. Und ja, in anderen Bereichen hat es Rückschritte gegeben. Manchmal können wir es wagen, beides zu berücksichtigen und anzuerkennen. Aber ebenso müssen wir meiner Meinung nach auch zugeben, dass wir es manchmal schlichtweg mit unvergleichbaren Dingen zu tun haben.
Wie würden sie die wichtigsten Trends in der menschlichen Entwicklung seit den 1970er Jahren beschreiben?
Die Mitte der 1970er Jahre stellte in mehrfacher Hinsicht eine negative Trendwende dar: Auf globaler Ebene begann ein anhaltender ökonomischer Abschwung. Die 1960er Jahre waren das Jahrzehnt mit dem höchsten Weltwirtschaftswachstum in der Geschichte der Menschheit gewesen. Danach blieb die Wachstumsrate stets unter dieser Höchstmarke. Auch die Lebenserwartung der Menschen stieg in den 1960er Jahren am stärksten an, bevor sie Mitte der 70er Jahre zu sinken begann.
Von 1989 bis 2004 ging der Anstieg der Lebenserwartung stark zurück, blieb aber global gesehen auf einem positiven Niveau. Dies war in erster Linie auf eine absolute Verkürzung der Lebenszeit in zwei Katastrophengebieten zurückzuführen: Das südliche Afrika, das von der falsch angegangenen AIDS-Epidemie schwer betroffen war, und die ehemalige Sowjetunion, die von der Einführung des Kapitalismus geprägt wurde. Geringere absolute Lebensverkürzungen gab es in diesem Jahrhundert aber auch im Vereinigten Königreich und in den USA.
»Die Erkenntnis, dass es in der Geschichte der Menschheit Fortschritte gegeben hat, bedeutet nicht unbedingt, dass man optimistisch in die Zukunft blickt.«
In den reichen Ländern wurde ein Trend zur ökonomischen Angleichung ab 1945 gestoppt und in vielen Ländern (vor allem in den Vereinigten Staaten) umgekehrt. Die vorherige Angleichungsrate für postkoloniale Länder wie Indien und Indonesien wurde ebenfalls rückläufig. Nach 1970 nahm das Ausmaß der Unfreiheit in den Vereinigten Staaten erheblich zu; die Zahl der Inhaftierten dort stieg bis 2009 um mehr als 700 Prozent.
In diesem Zeitraum gab es aber nicht nur Rückschritte. Die weltweite – wenn auch ungleiche – Verbreitung von PCs, Smartphones und dem Internet bedeutete für Massen von Menschen Fortschritt. Es gab ein spektakuläres Produktivitäts- und Einkommenswachstum in China und Indien sowie zumindest Phasen ungewöhnlicher wirtschaftlicher Entwicklung in allen Regionen des sogenannten Globalen Südens.
Es kam zu einem beispiellosen Rückgang der absoluten extremen Armut, von etwa 49 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 1975 auf acht Prozent 2020. Die durchschnittliche jährliche Armutsminderungsrate verdoppelte sich von 0,5 Prozent zwischen 1950 und 1990 auf ein Prozent zwischen 1990 und 2020. Die Stellung der Frauen wurde gestärkt; die Anerkennung indigener Völker hat zugenommen; die Apartheid in Südafrika wurde abgeschafft. Die Gleichstellung der Geschlechter ist heute in weiten Teilen der Welt akzeptiert.
In Zeiten des Kalten Krieges war es für viele Menschen schwierig, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Schließlich konnte stets ein Atomkrieg drohen. Heute hat die Klimakrise einen ähnlichen Effekt. Welche Auswirkungen haben ökologische Probleme auf die Art und Weise, wie wir über Fortschritt denken?
Die Erkenntnis, dass es in der Geschichte der Menschheit Fortschritte gegeben hat, bedeutet nicht unbedingt, dass man optimistisch in die Zukunft blickt. Sie kann höchstens bedeuten, dass man anerkennt, dass die Menschheit sich als lern- und entwicklungsfähig erwiesen hat, insbesondere in den Bereichen Wissenschaft und Technologie, und daher in der Lage sein könnte, in der Zukunft Lösungen zu finden, die nicht in der Katastrophe münden.
Die Gefühle Optimismus und Pessimismus sind Blickweisen auf subjektive, imaginäre Zukünfte. Als solche sind sie fragil und oft unbeständig. Dennoch spielen diese imaginären Zukünfte in modernen Gesellschaften eindeutig eine wichtige Rolle. Sie basieren auch auf Einstellungen zur Risikobereitschaft beziehungsweise Risikoscheu. Es gibt wenig beachtete kulturelle Trennlinien zwischen Menschen, die Risiken eingehen, und solchen, die von Sorge im Sinne von Care geleitet sind: Kulturen mit Fokus auf Care – also der Fürsorge für andere Menschen – sind eher risikoscheu als Kulturen des Individualismus und Kapitalismus, die vielmehr von Risikobereitschaft geprägt sind.
Optimistische Risikobereitschaft ist für die kapitalistische Dynamik von zentraler Bedeutung. Das Techno-Optimist Manifesto des bekannten US-amerikanischen Risikokapitalgebers Marc Andreessen ist ein besonders gutes und interessantes Beispiel für eine solche Einstellung. Man sehe sich einfach einige von Andreessens Behauptungen an – und inwiefern sie mit der Realität übereinstimmen:
»Die künftigen Risiken mit Blick auf KI sind heute noch vage und ungewiss, aber es ist durchaus denkbar, dass sie die menschliche Autonomie aushöhlt und damit das Ende des menschlichen Fortschritts bedeutet.«
»Wir glauben, dass es kein materielles Problem gibt […], das nicht durch mehr Technologie gelöst werden kann. Wir hatten ein Hungerproblem, also erfanden wir die Grüne Revolution.« Fakt ist aber: Sechzig Jahre nach der Grünen Revolution litten laut Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2023 rund 733 Millionen Menschen an Hunger oder waren unterernährt – ein Anstieg um 152 Millionen seit 2019.
»Wir hatten ein Problem mit der Dunkelheit, also haben wir das elektrische Licht erfunden.« Fast die Hälfte der Afrikanerinnen und Afrikaner in Gebieten südlich der Sahara – 600 Millionen Menschen – leben ohne Strom.
»Wir hatten ein Problem mit der Kälte, also erfanden wir die Heizung.« Im hochentwickelten Vereinigten Königreich gibt es immer noch eine erhöhte Sterblichkeit in den Wintermonaten.
»Wir hatten ein Problem mit der Isolation, also haben wir das Internet erfunden.« Soziale Isolation ist nach wie vor ein weit verbreitetes menschliches Problem.
»Wir hatten ein Problem mit Pandemien, also haben wir Impfstoffe erfunden.« Es ist festzustellen, dass die durch COVID-19 verursachte Übersterblichkeit stark mit dem Anteil der Menschen in Armut, dem Pro-Kopf-BIP und der Einkommensungleichheit korreliert.
»Wir haben ein Armutsproblem, also erfinden wir Technologien, um Überfluss zu schaffen.« Überfluss ist für die Mehrheit der Menschen ganz sicher nicht gegeben.
Kurz gesagt: Diese Variante des Optimismus konzentriert sich nur auf die Technologie als Sache und überhaupt nicht auf ihren Wert als soziale Ressource und Praxis.
Ein zweiter auffälliger Aspekt des Manifests ist seine Aggressivität: »Techno-Optimisten glauben, dass Gesellschaften wie Haie wachsen oder eben sterben [...] Wir glauben an Ehrgeiz, Aggressivität, Beharrlichkeit, Unerbittlichkeit – Stärke.« Andreessen zitiert sogar aus dem Futuristischen Manifest des italienischen Faschisten Filippo Tommaso Marinetti: »Schönheit existiert nur im Kampf. Es gibt kein Meisterwerk, das nicht einen aggressiven Charakter hat.« Friedrich Nietzsche ist ein weiteres Idol; »technologische Übermenschen zu werden« ist Andreessens großer Traum.
Ein solcher im wahrsten Sinne des Wortes asozialer Technologismus und solche faschistoide Aggressivität stehen in krassem Gegensatz zu einer Care-Kultur mit Werten wie gesellschaftliche Fairness, Gleichheit und Gerechtigkeit, Empathie, Fürsorge und Hilfsbereitschaft.
Es gibt ein elitäres wissenschaftliches Verantwortungsbewusstsein als Teil einer derartigen Care-Einstellung, das sich von den besorgten Atomwissenschaftlern der 1950er Jahre über die Klimaforscher der Jahrzehnte um die Jahrtausendwende bis hin zu Geoffrey Hinton, dem Physik-Nobelpreisträger 2024, erstreckt. Hinzu kommen andere Spitzenwissenschaftler, die uns zum Beispiel vor den Risiken der generativen KI warnen. Ich denke nicht, dass diese Art von wissenschaftlichem Risikobewusstsein als Pessimismus bezeichnet werden sollte. Sie stellt auch nicht den menschlichen Fortschritt in Frage oder leugnet ihn. Im Grunde handelt es sich um eine Form der seriösen Risikobewertung durch die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren jeweiligen Feldern.
Die bereits erwähnten wissenschaftlichen Risikobewertungen haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Frage nach Fortschritt. Die Atomwissenschaftler der 1940er und 1950er Jahre befürchteten, dass Politiker und Generäle aus Dummheit oder Unbedachtheit diese neuen Mittel zur Selbstvernichtung der Menschheit, die sie oder ihre Kollegen entwickelt hatten, einsetzen könnten. Mit anderen Worten, die Wissenschaftler wiesen auf einen Extremfall der unvorhersehbaren Zufälligkeiten der menschlichen Geschichte hin, die den menschlichen Fortschritt immer begrenzt haben. Das duopolistische Machtgleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion erwies sich als fähig, dieses Risiko zu bewältigen – aber nur knapp, siehe Kubakrise.
»Wir stehen derzeit vor einer Periode weitreichender gesellschaftlicher Rückschritte, die noch brutaler und gewalttätiger vonstattengehen dürften, als es seit 1980 der Fall war.«
Die Risiken des Klimawandels und potenziell der KI stellen eine größere Herausforderung für die Idee des Fortschritts an sich dar. Der enorme wirtschaftliche Fortschritt der Menschheit könnte sich als vergeblich erweisen und die Überlebensfähigkeit der Menschen gefährdet werden. Die künftigen Risiken mit Blick auf KI sind heute noch vage und ungewiss, aber es ist durchaus denkbar, dass sie die menschliche Autonomie aushöhlt und damit das Ende des menschlichen Fortschritts bedeutet.
Bislang haben apokalyptische Hypothesen über die Folgen des Klimawandels meines Erachtens hingegen wenig empirische Grundlage. Es hat sich gezeigt, dass die Treibhausgasemissionen reduziert und erneuerbare Energiequellen entwickelt werden können. Es werden auch neue nachhaltige Technologien entwickelt: Kohlenstoffabscheidung oder Möglichkeiten zur Herstellung von Stahl und Zement ohne fossile Brennstoffe zum Beispiel.
Elektroautos, Solarpaneele und Windkraftanlagen gibt es bereits massenhaft, und für andere neue Technologien gibt es zumindest Prototypen. Die Klimakrise ist in erster Linie eine politische Krise und nicht eine Krise des Fortschritts. Die Krise ist vielmehr das Fehlen von globalen politischen Kräften oder Gebilden, die willens, fähig und stark genug sind, die verfügbaren oder in der Entwicklung befindlichen Mittel zur Lösung der Klimakrise einzusetzen.
Die Pandemie scheint diesbezüglich ein gutes Beispiel zu sein. Einerseits gibt es großartigen Fortschritt in der medizinischen Wissenschaft, sodass Impfstoffe in recht kurzer Zeit entwickelt werden konnten. Andererseits gibt es soziale Ungleichheiten und Irrationalitäten, die verhinderten, dass diese Impfstoffe tatsächlich für alle zugänglich waren. Welche Tendenz wird sich Ihrer Meinung nach mittel- oder langfristig eher durchsetzen?
Die Pandemie hat sich als eine sehr komplexe soziale Erfahrung erwiesen, die von politischer Panik, Inkompetenz und Käuflichkeit bis hin zu Momenten überraschender Entschlossenheit und Einfallsreichtum reichte.
Zukünftig wird die Weiterentwicklung von KI die Produktion von Impfstoffen sicherlich beschleunigen. Gleichzeitig besteht ein breiter Konsens darüber, dass die KI unter der gegenwärtigen Kontrolle des Kapitals das ohnehin schon hohe Niveau der Ungleichheit wahrscheinlich noch weiter erhöhen wird.
Wir stehen derzeit vor einer Periode weitreichender gesellschaftlicher Rückschritte, die noch brutaler und gewalttätiger vonstattengehen dürften, als es seit 1980 der Fall war. Gewalt und Kriege entstehen sowohl durch das Ende der kapitalistischen Globalisierung und dem Entstehen einer neuen imperialen Geopolitik als auch durch Konflikte, die ihre Wurzeln in Armut oder sozialer Desintegration haben. Der Triumph des Trumpismus entfesselt die schlimmsten Formen der kapitalistischen politischen Ökonomie.
Es sind dunkle Zeiten, die höchstwahrscheinlich noch dunkler werden. Aber die Zeiten ändern sich – früher oder später – wieder und ich sehe keinen Grund zu glauben, dass die menschliche Fähigkeit zum Fortschritt gänzlich zerstört wird.
Göran Therborn ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Cambridge. Seine Werke wurden in mindestens vierundzwanzig Sprachen veröffentlicht und umfassen unter anderem From Marxism to Post-Marxism, Asia and Europe in Globalization und Between Sex and Power.