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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

02. September 2025

Keine Versöhnung ohne Reparationen

Deutschland weigert sich, jegliche Wiedergutmachung für koloniale Verbrechen zu leisten. Doch die ehemals Kolonisierten fordern Gerechtigkeit ein: Im Oktober wird Deutschland vor den Obersten Gerichtshof Namibias geladen.

Gefangene OvaHerero und Nama, die gegen die deutsche Kolonialherrschaft aufbegehrten.

Gefangene OvaHerero und Nama, die gegen die deutsche Kolonialherrschaft aufbegehrten.

Foto: gemeinfrei

Im Umgang mit der Anerkennung des Völkermordes an den OvaHerero und Nama zwischen 1904 und 1908 zeigt sich der fehlende Wille der jetzigen Bundesregierung, einen neuen Weg auch nur ansatzweise einzuschlagen. In der Antwort auf eine aktuelle Kleine Anfrage der Grünen ist die Sichtweise eindeutig: »Das Konzept der Wiedergutmachung ist […] im Zusammenhang mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands nicht anwendbar.« Es wird außerdem betont, dass Reparationen für deutsche Kolonialverbrechen wie Völkermorde nicht zulässig wären. Damit beruft sich die Bundesregierung weiterhin auf den Grundsatz der »Intertemporalität«, der besagt, dass Verbrechen nach den damaligen rechtlichen Bedingungen zu behandeln sind. Die Bagatellisierung kolonialer Verbrechen wird so rechtlich begnadet und die Ignoranz gegenüber Nachfahren von betroffenen Personen, für die individuelle und kollektive Reparationen ein wichtiger Weg zu Anerkennung und Aussöhnung sind, verfestigt.

Vor zehn Jahren starteten die Verhandlungen über ein gemeinsames Abkommen zwischen Namibia und Deutschland, schließlich wurde im Mai 2021 ein Entwurf der »joint declaration« (»Gemeinsame Erklärung«) paraphiert. Sonderbeauftragte verhandelten seitdem – auch unter der neuen Bundesregierung – hinter verschlossenen Türen über einen Nachtrag. Ein oftmals geforderter neuer inklusiver Prozess unter der Einbeziehung von mandatierten Verbänden aus Namibia bleibt aus, stattdessen bleibt es bei einigen oberflächlichen Konsultationen.

Interessant dürfte daher der kommende 7. Oktober 2025 sein. Dann wird Deutschland wegen der »Gemeinsamen Erklärung« vor den Obersten Gerichtshof in der namibischen Hauptstadt Windhoek geladen. Geklagt hatten die Partei Landless People's Movement und mehrere Verbände traditioneller Autoritäten gegen die namibische Regierung. Sie wollen erreichen, dass die »Gemeinsamen Erklärung« als rechtswidrig und ungültig erklärt wird. Schließlich wurden die Nachfahren der vom Völkermord betroffenen Gemeinschaften nicht ausreichend einbezogen. Diese Klage ist von historischer Relevanz: Erstmals muss eine Kolonialmacht vor einem Gericht in der früheren Kolonie erscheinen. Auch wenn die Bundesregierung – ähnlich wie bei Klagen der OvaHerero gegen Deutschland in den USA – sicherlich nicht erscheinen wird, ist die Aufforderung von hoher symbolischer Bedeutung.

Fülle von Leerstellen

Es ist eine Binsenweisheit, dass zwischen politischen Papieren mit Willensbekundungen und der praktischen Umsetzung oftmals ein meilenweiter Unterschied liegt. An der Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte lässt sich das exemplarisch seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, aufzeigen. Im Koalitionsvertrag wird noch vollmundig verkündet: »Die Aufarbeitung des Kolonialismus werden wir intensivieren.« Die erwähnte Antwort auf die Kleine Anfrage der Grünen zeigt keine Spur von Intensivierung, sondern Widersprüchlichkeit: Mal sieht man sich um die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit »bemüht«, dann wieder »verpflichtet« und manchmal wird ihr »eine große Bedeutung zugemessen«. Wenn das politische Ziel unklar ist, verwundern die fehlenden Konsequenzen nicht.

Immer wieder wird die Bedeutung der Wiedergutmachung betont, um im selben Moment den Ball an die Länder des Globalen Südens zurückzuspielen oder auf die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland zu verweisen. Dabei wäre es ein wichtiges Zeichen, wenn der sehr lange angekündigte »Restitutionsfond« endlich kommt, um Rückführungen von Kulturgütern und menschlichen Überresten finanziell abzusichern. Stattdessen wird offen dargelegt, dass sich die Bundesregierung nicht verpflichtet, Gelder bereitzustellen. Geld ist angesichts der Austerität knapp und Einsparungen dort einfach durchzusetzen, wo politischer Wille fehlt. Wird exemplarisch die Budgetlinie »Globaler Süden, Aufarbeitung des Kolonialismus« beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien herausgegriffen, sinkt die Summe auf 500.000 Euro für 2026, nach 2 Millionen dieses Jahr. Nicht nur die geringe Summe ist beschämend. Der Rückgang ist Widerspruch einer Intensivierung.

»Und um Diskussionen über Reparation den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird beim Maji-Maji-Krieg weiterhin von ›Gräueltaten‹ gesprochen, obwohl sich zunehmend eine Völkermordthese belegen lässt.«

Als vor wenigen Monaten die Fernsehdokumentation »Handel mit Menschenschädeln – unser dunkles Erbe« über den privaten Handel von menschlichen Überresten lief, war unter anderem von der früheren Staatsministerin Katja Keul ein großes Erstaunen über die Tatsache zu vernehmen bis hin zu der Forderung, den Handel zu verbieten. Konkrete Aktion von Seiten der Bundesregierung: Fehlanzeige. Seit Jahren wird ein Lern- und Erinnerungsort zum deutschen Kolonialismus von der Zivilgesellschaft gefordert. Konkrete und verbindliche Aussagen zu dem Ort, der bereits unter Claudia Roth sträflich vernachlässigt wurde: Fehlanzeige.

Wenn die Bundesregierung von einer »Anlaufstelle zum Umgang mit menschlichen Überresten« spricht, den eigentlich überwunden geglaubten Terminus »Entwicklungsländer« platziert oder angesichts einer BMZ-Konferenz zum Anlass »140 Jahre Afrikakonferenz« von der »Bedeutung einer erneuerten Partnerschaft zwischen Europa und Afrika« spricht, als sei der Kolonialismus eine partnerschaftliche Beziehung gewesen, die vielleicht ein wenig zu Lasten der Länder im Globalen Süden kippte, zeigt sich, wie oberflächlich die Bundesregierung das Thema behandelt.

Daher scheint es wenig überraschend, dass die »afrikapolitischen Leitlinien« für die Bundesregierung handlungsanleitend sind. Die Leitlinien sind wegen ihres Inhaltes und ihres vagen Charakters zu kritisieren, doch sie verdeutlichen auch ein weiteres Problem. Für die Bundesregierung beschränkt sich Kolonialgeschichte auf die deutschen Kolonialgebiete in Afrika. Damit werden nicht nur die deutschen Kolonialgebiete im heutigen China und im Pazifik übergangen, auch die weiteren kolonialen und imperialen Bestrebungen oder die Involvierung in den Versklavtenhandel werden ignoriert.

Und um Diskussionen über Reparation gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird beim Maji-Maji-Krieg weiterhin von »Gräueltaten« gesprochen, obwohl sich durch Forschungen zunehmend eine Völkermordthese belegen lässt.

Zivilgesellschaftlicher Druck

Dass Deutschlands Rückstand in der kolonialen Aufarbeitung eine politische Frage ist, zeigt sich auch im Vergleich mit Deutschlands nicht gerade progressiven Nachbarn. Emmanuel Macron setzte mit seiner Rede an der Universität Ouagadougou im Jahr 2017, in der er die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter ankündigte, sowie mit der Beauftragung der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des Historikers Felwine Sarr für ihren einflussreichen Bericht »Zurückgeben« einige Akzente. Und vor kurzem hat Frankreich einen neuen, wenn auch unzureichenden, Gesetzesentwurf zur Erleichterung der Rückgabe kolonialer Vermögenswerte vorgelegt. Deutschland dagegen ist durch seine föderale Struktur auch hier ein Flickenteppich, wo lediglich einzelne Bundesländer wie Bremen vorangehen und zu Restitutionen afrikanischer Kulturgüter bereit sind.

»Die eigentliche Aufarbeitung wird derzeit von den Vertreterinnen und Vertreter aus dem Globalen Süden eingefordert und vorangetrieben.«

Dass Emmanuel Macron beziehungsweise die französische Regierung diese Vorhaben startete, lag weniger an deren Eigeninteressen, sondern ist Ergebnis eines breiten zivilgesellschaftlichen Drucks. Das Gleiche gilt für Deutschland: Die bisherige Aufarbeitung wurde weniger durch die Bundesregierung vorangetrieben, sondern durch den jahrelangen zivilgesellschaftlichen Druck. Die finale Umbenennung der M*-Straße in Berlin in Anton-Wilhelm-Amo-Straße, die trotz aller Widerstände endlich am Wochenende umgesetzt wurde, ist ein wunderbares Beispiel dafür. Mehr Einfluss haben aber die derzeit zunehmenden Forderungen internationaler Akteurinnen und Akteure. Ihnen gelingt es, die Bundesregierung – in Kooperation mit deutschen Verbündeten – zum Reagieren zu bringen.

Zum einen mehren sich die Stimmen aus den Ländern und umfassen nicht nur frühere Akteurinnen und Akteure wie aus Namibia oder Kamerun, sondern vermehrt melden sich auch Stimmen aus den anderen ehemaligen Kolonien wie dem früheren Deutsch-Ostafrika mit Tansania, Ruanda und Burundi oder Papua-Neuguinea zu Wort. Gleichzeitig sind die Bandbreite und die Anzahl der Akteurinnen und Akteure deutlich gewachsen, und zwar nicht nur auf zivilgesellschaftlicher Seite. Auch immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Gebiet der Provenienzforschung oder Geschichtswissenschaften leiten politische Forderungen ab. In Ghana, Tansania oder Kamerun gründeten sich staatliche Strukturen wie Restitutionskomitees zur Rückgabe von Kulturgütern, die offensive Forderungen an die Bundesregierung artikulieren.

Doch parallel zu diesen ermutigenden Entwicklungen ist auch eine gewisse reaktionäre Wendung im deutschen Diskurs spürbar, zu der die Zivilgesellschaft sich bisher vergleichsweise ruhig verhält. Aktuelles Beispiel sind die Angriffe von konservativer Seite durch den Autor Mathias Brodkorb, der Fragen der Restitutionspolitik oder Aufarbeitung in Museen verkürzt kritisiert und dabei die Nähe zu konservativen und neurechten Zeitungen sucht. Auch die wenigen Äußerungen des neuen Beauftragten für Kultur und Medien, Wolfram Weimer, der Aufarbeitung des Kolonialismus weniger Bedeutung beizumessen, werden nicht kritisiert.

Jedoch kompensiert die zivilgesellschaftliche Stärke die Schwäche der parlamentarischen Linken. Über viele Jahre war die Aufarbeitung des Kolonialismus ein wichtiger Bezugspunkt für die Linke im Bundestag: Es wurden Kleine Anfragen und Anträge gestellt sowie Vertreterinnen und Vertreter aus vom Kolonialismus betroffenen Ländern eingeladen. Es wurde versäumt, in den Jahren der Ampelkoalition explizit die SPD und insbesondere die Grünen an ihre früheren Forderungen zu erinnern und deren Umsetzung anzumahnen. Trotz einer neuen starken Fraktion führt das Thema weiterhin ein Nischendasein und die Grünen können sich wieder für eine Aufarbeitung positionieren, obwohl auch sie sich für Reparationen nicht eingesetzt haben.

Auch das ist natürlich verkürzt. Die eigentliche Aufarbeitung wird derzeit von den Vertreterinnen und Vertreter aus dem Globalen Süden eingefordert und vorangetrieben. Die Vorladung am 7. Oktober in Namibia ist Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses – und die Bundesregierung täte gut daran, dem Thema der Reparationen endlich die notwendige Beachtung zu schenken.

Daniel Kruse ist aktiv in der postkolonialen Bildungsarbeit.