15. Mai 2024
In Friedrichshain-Kreuzberg schließt das Bezirksamt zwei Mädchenzentren, offiziell wegen pro-palästinensischem Aktivismus des Personals. Bis vor kurzem war Shokoofeh Montazeri, die Geschäftsführerin des Trägervereins Frieda e.V., für die Konzeptualisierung der Jugendeinrichtungen beauftragt. Ein Gespräch mit ihr zeigt: Der deutsche Staat nutzt ihre Kündigung als Vorwand, um für sie unbequeme Träger loszuwerden.
Protest gegen die Schließung der zwei Mädchenzentren vor dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, 29. April 2024.
Es ist Sonntagabend. Ich treffe Shokoofeh Montazeri. Rote Nelken stehen auf dem Tisch, an dem sie mich herzlich begrüßt. »Willst du mir sagen, was dir wichtig ist im Leben und was dich hierher geführt hat?«, frage ich sie. Sie lächelt: Es sei nie ihre Art gewesen, sich in den Vordergrund zu stellen – »aber die Hetzkampagnen und die Schließung unserer Mädchenzentren zwingen mich dazu«.
Shokoofeh kam mit 21 aus dem Iran nach Deutschland. Das ist inzwischen 20 Jahre her, seither lebt sie hier im Exil. »17 der 20 Jahre habe ich damit gekämpft, meinen Aufenthalt zu bekommen«, lacht sie bitter. Denn der sei ihr erst nicht zugesagt worden, weil sie als Antifaschistin gegen Nazis auf der Straße demonstriert habe. »Ich bin schon immer dafür eingetreten, dass wir die Welt nicht so akzeptieren müssen, wie sie ist, wir haben die Kraft dazu, sie zu verändern. Damit bin ich groß geworden.«Groß geworden ist sie damit, weil ihr Vater 1988 als politischer Gefangener im Iran hingerichtet wurde – weil er Kommunist war. Ihre Eltern waren beide kommunistisch aktiv, sie wurden verhaftet, nachdem das islamistische Regime 1979 die Herrschaft übernommen hatte. »Um die 8.000 politische Gefangene wurden in Massengräbern hingerichtet«, berichtet sie. »Meine Eltern waren Kämpfende.«
Soziale Arbeit hat sie zu ihrer Profession gemacht, um Wissen weiterzugeben. Sie weiß, was es bedeutet, um Papiere zu kämpfen und kennt die Realität von vielen migrantischen Mädchen. Dass sie heute deswegen als Aktivistin diffamiert wird, findet sie beschämend. »Soziale Arbeit ist von Menschen für die Menschen. In dem Sinne ist sie immer politisch. Only People can save the People.«
»In einer rassistischen Gesellschaft reicht es nicht gegen Rassismus zu sein, man muss Antirassistin sein.«
Spezialisiert auf patriarchale Unterdrückungen, war ihr eine Pädagogik von und für migrantische Mädchen wichtig, weil sie weiß, was es bedeutet, abgehängt und ausgegrenzt zu werden. »Ich habe Verantwortung gespürt, sie dort zu unterstützen, wo sie stehen. Wenn man 17 Jahre lang für seinen Pass kämpft, weiß man, dass es Grundrechte auf Papier gibt, aber sie nicht für alle gelten«, sagt sie. Soziale Arbeit ist ein Weg für sie, die Würde des Menschen hochzuhalten, wenn ihre eigenen Umstände es nicht zulassen. »Für Menschenrechte wird eingestanden, sie werden tagtäglich erkämpft und stehen nicht einfach in einer Charta.«
Shokoofeh Montazeri. Foto: Privat
Der Aufbau der zwei Mädchenzentren war jahrelange harte Beziehungsarbeit. »Wir schaffen Verständnis und Austausch«, sagt sie. »Zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, auf Augenhöhe und partizipativ.« Inspiriert war sie von ähnlichen Ansätzen antikolonialer Pädagogik in Guinea, Brasilien oder Grenada. Dann kam die Schließung.
Dass Shokoofeh Antirassistin ist, war nie ein Geheimnis – denn bis heute nutzt die Jugendförderung des Jugendamts die Projekte als Werbung für ihren Online-Auftritt. Dort zeigt sich die Jugendförderung mit einem Banner von Phantalisa, für dessen Projektleitung Shokoofeh verantwortlich war, auf dem ein Angela Davis Zitat steht: »In einer rassistischen Gesellschaft reicht es nicht gegen Rassismus zu sein, man muss Antirassistin sein.«
Es ist spannend, dass gerade jenes Projekt kriminalisiert wird, dass der Bezirk zu seinem Aushängeschild gemacht hat. Ich erinnere mich daran, wie eine Freundin zu mir sagte: Integration und Repression sind zwei Seiten einer Medaille. »Sie wollen dich erst benutzen, um zu zeigen, wie progressiv sie sind, aber wenn du dann tatsächlich den Mund aufmachst, kommt der Schlagstock«, sagt Shokoofeh.
»Interessenskonflikte transparent zu machen, ist das A und O sozialer Arbeit.«
Das zeigt sich auch im Umgang der deutschen Behörden mit den beiden Mädchenzentren. Die Projekte Phantalisa und Alia wurden über Nacht geschlossen. Im Kündigungsschreiben wird aufgezählt, dass Shokoofeh Montazeri pro-palästinensiche Postings auf ihrem privaten Instagramprofil abgesetzt hätte und als Rednerin aufgeführt gewesen sei, bei dem später verbotenen Palästina-Kongress – zu ihrem Reden kam es also nie. Weiter heißt es seitens des Bezirks, dass unter anderem die Demokratiebildung und der »Abbau menschenverachtender Einstellungen junger Menschen« nicht mehr umgesetzt werden könnten. Der Bezirk sprach darin von »antisemitischen und antiisraelischen Aussagen«. Was damit gemeint war, wurde nicht erklärt.
»Kündigen wollten sie uns aber schon einmal vorher«, berichtet Shokoofeh. Seit fast vier Jahren lebe nämlich ein Nazi in unmittelbarer Nachbarschaft des Mädchenzentrums Phantalisa »Er belästigte die Mädchen, ging mit ›Heil-Hitler‹-Grüßen vorbei, trug T-Shirts mit rechtsextremer Symbolik, drohte allen mit Mord, begrapschte sich am Schritt, während er die Mädchen beobachtete und fasste einmal sogar ein Mädchen an den Brüsten und hielt sie fest«, erzählt Shokoofeh. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen versuchte sie, dieses Verhalten zu skandalisieren und Hilfe einzufordern.
Nach den anhaltenden Übergriffen sahen sie sich mehrmals gezwungen, die Polizei einzuschalten und Anzeigen zu erstatten. Diese bot jedoch laut Shokoofeh keine Unterstützung, stattdessen hätten die Beamten den Tatbestand abgewinkt und gesagt, dass ihnen der Mann ohnehin bereits bekannt sei. Bei einer früheren Hausdurchsuchung seien Waffen bei ihm gefunden worden, hieß es. Zum jetzigen Tag hat die Berliner Polizei dazu noch keine Stellungnahme abgegeben, kündigte aber eine zum Freitag, den 17. Mai 2024, an.
»Ich hatte nie die Illusionen, dass der Rechtsstaat einer für alle ist und auch nicht diese Demokratie. Mir war klar, dass es eine Demokratie für die besitzende Minderheit ist, für jene, die bereits Zugang haben«
Das Team war schockiert darüber, dass ihre Hilferufe nicht erhört wurden, sie nicht einmal gewarnt wurden, obwohl die Gefahr der Polizei bekannt war. Sie schlossen das Mädchenzentrum für circa vier Wochen und baten die Jugendförderung um Unterstützung, ein Nähe- und Kontaktverbot in dieser Zeit zu erwirken. Diese Möglichkeit wurde durch die Rechtsabteilung der Jugendförderung geprüft, die zu dem Entschluss kam, dass kein Verbot erteilt werden könnte, wenn der Nazi sich nicht auf dem Gelände der Einrichtung aufhält. Gleichzeitig wurde darauf gedrängt, den Leistungsvertrag einzuhalten und die Einrichtung wieder zu öffnen.
Erst durch die unabhängige Organisation Reach-Out wurden sie schließlich unterstützt. Die Kolleginnen nahmen dies zum Anlass, die Jugendförderung in einer gemeinsamen Sitzung mit unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen des Bezirks zu kritisieren. »Unsere Mitarbeitenden waren extrem traumatisiert und in dauerhafter Angst«, so Shokoofeh. »Ich wollte mein letztes Vertrauen in die Jugendförderung nicht aufgeben. Deswegen wollten wir das organisierte Nicht-Tun zusammen kritisieren – gerade nachdem, was in Hanau passierte.«
Von dem Bezirksstadtrat Max Kindler (CDU) erhielten sie dafür keine Unterstützung, so Shokoofeh: »Max Kindler ist ehemaliger Polizist. Ich kritisierte in der Sitzung, dass bei uns Sorge besteht, dass ein Interessenskonflikt bei ihm vorliegen könnte, gerade weil wir polizeilich keine Unterstützung erfahren haben. Interessenskonflikte transparent zu machen, ist das A und O sozialer Arbeit.« Laut Shokoofeh reagierte Kindler wütend auf die Kritik und unterstellte den Kolleginnen, dass sie ihnen gegenüber feindlich seien.
Danach sei Shokoofehs Team mitgeteilt worden, sie hätten das Vertrauen gebrochen und Kindler habe mit einer Kündigung gedroht. Shokoofeh sieht darin eineTäter-Opfer-Umkehr. »Wir beklagten, dass wir keine Unterstützung bezüglich eines gewaltbereiten Nazis hatten. Sie behaupteten, wir würden sie attackieren«, sagt Shokoofeh: »Auf einmal wurden unsere Verträge nur noch für zwei Monate verlängert, anstatt des üblichen Jahrestaktes.«
Aufgrund der Vorfälle sollte ein Mediationsgespräch am 19. April stattfinden – der Tag, an dem schlussendlich die sofortige Kündigung der Leistungsverträge durch Kindler erwirkt wurde. Die Schließung am Tag der geplanten Mediation zu vollziehen, wirkt nicht zufällig. »Dass uns damals ein Bruch der Vertrauensbasis vorgeworfen wurde, war schon absurd genug. Schließlich haben wir aufgrund unseres Vertrauens diese Kritik geübt, in Hoffnung auf Besserung. Wir hatten es extra damals nicht öffentlich skandalisiert, und auf einmal wurden beide Zentren geschlossen.«
»Ich bin nicht okay damit, dass über 15.000 Kinder zerbombt wurden in Gaza. Und dafür, das zu sagen, lassen sie mich als Staatsfeindin dastehen.«
Nicht nur der Bezirksstadtrat sei aber Akteur der Schließungen gewesen. Dass die sofortige Kündigung der Leistungsverträge durchkam, könnte auch daran gelegen haben, dass eine kleine Gruppe der Antidiskriminierungsstelle des Landes (LADS) E-Mails schrieb, die Shokoofeh als Bedrohung inszenierten. Die Gruppe postete diese online und trägt den Namen Sozialarbeiter*innen gegen Antisemitismus. »Sie fragten öffentlich, wer mich kenne, und setzten abstruse Behauptungen auf«, erzählt Shokoofeh. »Sie schrieben dem LADS, dass ich auf Palästina-Demos gewesen sei, auf denen verfassungsfeindliche Sprüche gefallen sein – wenn auch nicht von mir. Daraufhin stieg die BILD-Zeitung ein.«
Die Begründung der Kündigung der Leistungsverträge für die Mädchenzentren habe die gleiche Auflistung in sich getragen, die sich in der Anklagemail der Gruppe wiederfand. »Nachgeguckt wozu ich geredet hätte, hat natürlich niemand. Mein Panelthema wäre eine Kritik der feministischen Außenpolitik gewesen«, betont Shokoofeh. In ihrem Vortrag hätte es um die Entlarvung des bürgerlichen Moralismus gehen sollen. Sie wollte sich gegen die imperiale Vereinnahmung der Proteste im Iran wehren. Gegen die Grünen, die sich gerne unter »Woman, Life, Freedom« inszenieren. Denn: »Meine Genossen und Genossinnen sind nicht einfach für Menschenrechte auf die Straße gegangen. Sondern für ein neues System.«
»Genauso wenig, wie die Grünen feministisch sind, kann aber eine Gruppe ein Interesse haben, gegen Antisemitismus vorzugehen, die das staatliche Gewaltmonopol auf Kolleginnen hetzt«, erklärt Shokoofeh. Wenn staatliche Repression durch die Übernahme polizeilicher Methoden verstärkt werde, diene das niemals dem Schutz von diskriminierten Gruppen. »Selbst wenn es ein Antisemitismusproblem geben würde – was nicht der Fall ist – würden solche Maßnahmen nicht helfen. Sie verstärken nur den Repressionsapparat.«
Heute läuft ein Ermittlungsverfahren gegen Shookofeh Montazeri – ihr sei mündlich mitgeteilt worden, dass sie das Bezirksamt eigenständig für Volksverhetzung angezeigt habe. »Ich hatte nie die Illusionen, dass der Rechtsstaat einer für alle ist und auch nicht diese Demokratie. Mir war klar, dass es eine Demokratie für die besitzende Minderheit ist, für jene, die bereits Zugang haben«, betont sie. »Aber ich bin nicht okay damit, dass über 15.000 Kinder zerbombt wurden in Gaza. Und dafür, das zu sagen, lassen sie mich als Staatsfeindin dastehen.«
Das Vorgehen der Behörden erinnert sie an ihre Zeit im Iran. Die Verkettung erfolgt nach dem gleichen Muster: Erst in journalistischer Manier als politisch feindlich deklariert werden, dann ein Besuch von den Sicherheitsbehörden. »Danach muss man als Person im TV ein Geständnis machen, wie schlecht man sich doch verhalten hätte«, sagt sie. Sie fühlt sich, als würde ihr in einem Déjà-Vu der Boden weggezogen werden..»Meinen Vater nennt das iranische Regime bis heute Terrorist. Auch ich werde in Deutschland auf einmal in Terrorslogans diffamiert.«
Besonders deutlich zeigte sich das in der Sitzung letzte Woche des Jugendausschusses. Ihr sei vorgeworfen worden, »connected zu sein«, ihre Kolleginnen und sie würden wie eine »organisierte Bande« agieren. »Sie haben das gleiche Vokabular wie bei sogenannter Clan-Kriminalität verwendet. Dabei sind es sie die verbunden sind – und zwar in Macht.«
Die Repression wirkt aber nicht nur ökonomisch, sie isoliert Shokoofeh sozial, wirkt in alle ihre Lebensbereiche und greift auch andere Menschen an. Denn sie zu einem Präzedenzfall zu machen, löst Ängste bei allen aus, die davon mitbekommen. So werden »Einzelfälle« geschaffen, letztendlich aber viele in Geiselnahme gehalten.
Das Vorgehen erinnert sie an ihre eigene Geschichte als Kind: »Ich erzähle dir etwas, Siminjan«, sagt sie mir zugeneigt. »Meine Oma hat mir damals im Iran immer nahegelegt, dass ich in den Formularen in der Schule nicht ausfüllen darf, wer meine Eltern waren, dass ich dafür von der Schule hätte verwiesen werden können.« Heute erzählen ihr palästinensische Kinder aus Neukölln von einer ähnlichen Angst. Sie trauen sich nicht, von ihrem Schmerz zu berichten – viele wollen nicht einmal sagen, dass sie überhaupt palästinensisch sind. »Ich fühle ihren Schmerz.«
»Zählen unsere Geschichten nicht? Wir haben deutsche Komplizenschaft im Dersim-Massaker erlebt, in Rojava, im Iran – wenn sie uns nicht mitmeinen, dann ist klar, was für eine Politik sie betreiben.«
Ich nicke ihr zu. Auch meine Mutter ist Iranerin, mein Vater Palästinenser. Und auch ich habe mich lange nicht getraut an der Universität, in Bewerbungsgesprächen oder vor Kommilitonen zu sagen, dass ich Palästinenserin bin.
»Aber wir müssen reden«, sagt sie. Deswegen sei sie keine einzelnstehende Aktivistin, auch wenn die Berichterstattung das nahelegen will. »Wir haben alle die Macht, etwas zu verändern. Das habe ich vom Refugee Movement gelernt, als ich nach Deutschland gekommen bin und der Marsch von Würzberg nach Berlin stattfand«. Damals wurde die Residenzpflicht gebrochen, indem kollektiv losgelaufen wurde.
Bis heute würde der deutsche Staat immer von deutscher Verantwortung sprechen. »Aber bin ich denn nicht auch deutsch?«, fragt Shokoofeh. »Zählen unsere Geschichten nicht? Wir haben deutsche Komplizenschaft im Dersim-Massaker erlebt, in Rojava, im Iran – wenn sie uns nicht mitmeinen, dann ist klar, was für eine Politik sie betreiben.«
Die aktuellen Repressionen zeigen einen Machtverlust, meint Shokoofeh: »Sie haben ›die Straße‹ verloren, und das sieht man durch diese Formen der verschärften Repression… Und was ich von zu Hause sagen kann: ein Regime, das die Straße verloren hat, wird seine Legitimität nie wiederfinden.«
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Die zwei Mädchenzentren dürfen auf Empfehlung des Jugendhilfeausschusses bis Ende des Jahres 2024 noch geöffnet bleiben – alles Weitere bleibt offen. Es folgen Prüfungen. Um weitere mediale Hetze abzuwenden und den Schaden darüber zu begrenzen, wurde Shookofehs Vertrag mit Frieda e.V. aufgehoben.
Simin Jawabreh (@siminjawa) arbeitet an der Humboldt-Universität zu Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik, in der politischen Bildung und ist Kolumnistin bei JACOBIN.