25. Juni 2020
Das Zauberwort in Krisen lautet »Resilienz«. In der Psychologie steht der Begriff für die Fähigkeit, Unsicherheit zu bewältigen. In der EU dient er dazu, den Ursprung von Krisenfolgen in der fehlerhaften Architektur zu verschleiern.
Der unschuldig-technisch daherkommende Begriff »Resilienz« ist die neuste Kampfvokabel des neoliberalen Angriffs auf die sozialen Rechte von Arbeitenden und Bürgerinnen.
Es ist die Nacht zum 20. März diesen Jahres, die Finanzminister der Eurozone verhandeln bereits seit Stunden über eine angemessene Reaktion auf die wirtschaftlichen Folgen des Corona-Shutdowns. Es braucht eine schnelle und beherzte Reaktion der Eurostaaten, um die Finanzmärkte ruhig zu halten und eine Situation wie die im Frühjahr 2010 zu vermeiden, als Griechenland in das Visier von Spekulanten geriet.
Die Fronten sind klar. Während die südeuropäischen Finanzminister unter der Führung Frankreichs auf die Ausgabe von gemeinsamen Euro-Anleihen, den sogenannten Eurobonds, drängen und damit eine solidarische Verteilung der Krisenkosten einfordern, versuchen die Finanzminister der reicheren nordeuropäischen Staaten diesen Vorstoß mit allen Mitteln zurückzudrängen. Der Konflikt schaukelt sich hoch, bis ein Satz fällt, der das vorläufige Ende der Debatte markiert und zu Empörung auf Seiten der Südeuropäer führt.
Der niederländische Finanzminister Wopke Hoekstra fragt: »Warum waren die nordeuropäischen Länder in der Lage, auf die Krise adäquat zu reagieren, Südeuropa aber nicht?« Wahre europäische Solidarität sei es, Länder wie Italien zu Strukturreformen zu bewegen, statt gemeinschaftliche Euro-Anleihen auszugeben. Nur so könne Südeuropa die nötige »ökonomische Resilienz« ausbilden, um auf zukünftige Krisen zu reagieren.
Hoekstra bemüht ein Konzept, das seit geraumer Zeit erheblichen Aufwind erlebt und in der Europäischen Union zu einem Schlüsselbegriff für Problemlösungen aller Art geworden ist. Der unschuldig-technisch daherkommende Begriff »Resilienz« ist die neuste Kampfvokabel des neoliberalen Angriffs auf die sozialen Rechte von Arbeitenden und Bürgerinnen.
Der Begriff der Resilienz geht von einem in sich geschlossenen, selbstregulierenden System aus, das durch eine unvorhergesehene, externe Erschütterung aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Er beschreibt die Fähigkeit, zum vorherigen Zustand zurückzukehren und die Folgen der Erschütterung in einen funktionierenden Ablauf des Systems zu integrieren.
Seinen Ursprung hat das Konzept in den gesellschaftlichen Entwicklungen seit den 1970er Jahren. Es spiegelt sich darin die Erkenntnis der Sozialwissenschaft wider, dass die soziale Umwelt im Zuge der neoliberalen Durchdringung westeuropäischer Industriegesellschaften immer komplexer und interdependenter zu werden scheint. Diesem – mit den Begriffen der »Risikogesellschaft« oder der »Beschleunigung« beschriebenen – Phänomen werden dann individuelle Lösungsstrategien oder soziales Risikomanagement entgegengesetzt.
Denn die Bedrohungen, die im Zuge einer immer komplexeren und vernetzteren Gesellschaft entstehen, können zumeist weder klar identifiziert oder benannt werden. Deshalb muss eine Gesellschaft einerseits möglichen Risiken vorbeugen und Vorsorge betreiben und sich andererseits so organisieren, dass auf unvorhergesehene Erschütterungen flexibel reagiert werden kann.
Im Kontext der Europäischen Union konnte das Resilienz-Konzept an eine Vielzahl von Diskursen anschließen, die unter dem Stichwort der »Governance« die begrenzte Steuerungsfähigkeit europäischer Politiken diskutierten. Vor dem Hintergrund der geringen Durchsetzungs- und Koordinationsfähigkeit europäischer Institutionen auf die nationalstaatliche Politik wurden neue Formen der Regierungsführung vorgeschlagen, die zum einen abseits der Staatsapparate und zum anderen über verschiedene Politikebenen hinweg Steuerungsfähigkeit entfalten sollten.
Das Resilienz-Konzept passte sich darin gut ein: Es konnte nicht nur die Komplexität eines Politikfeldes unterstreichen, sondern ebenso die Notwendigkeit einer europäischen Steuerung beziehungsweise Koordinierung abseits des Nationalstaates betonen. Seit Anfang der 2000er Jahre erobert das Konzept fast alle Politikbereiche der EU und verankert sich in der dortigen bürokratischen Logik. So findet sich der Resilienz-Begriff heute in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik an ebenso prominenter Stelle wie im Umgang mit dem Klimawandel.
»Das Konzept ökonomischer Resilienz überdeckt die Krisenhaftigkeit kapitalistischer Akkumulation, indem es Krisen als naturgegeben definiert.«
Es war daher nicht verwunderlich, dass der Begriff auch Einzug hielt in den Kernbereich der Europäischen Integration: der Wirtschafts- und Währungsunion. Dabei jedoch ergibt sich eine besondere Brisanz, steht der engen wirtschaftlichen Vernetzung in der EU doch ein Mangel von Ausgleichs- und Transfermechanismen gegenüber. Dieser Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion führt zu einer asymmetrischen Entwicklung ihrer Mitglieder und zu einer wirtschaftlichen Dynamik, welche die nordeuropäischen Wirtschaftszentren von den südeuropäischen Peripherieländern entkoppelt. Die ungleiche Entwicklung wird durch die Unmöglichkeit einer Währungsabwertung einzelner Volkswirtschaften innerhalb der Währungsunion weiter verstärkt, da somit die Unterschiede in der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten vertieft werden.
Unter diesen Bedingungen steht »ökonomische Resilienz« für die Herstellung von Konvergenz zwischen den Staaten durch Austerität und Lohnzurückhaltung. Da Mechanismen der Risikoteilung wie etwa Transferzahlungen von Nord- nach Südeuropa fehlen und in der Architektur der Währungsunion auch nicht vorgesehen sind, müssen die zentralen Pfeiler der einzelnen Volkswirtschaften so gestaltet sein, dass im Fall einer Krise schnell wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sowohl global als auch im Verhältnis zu den anderen EU-Mitgliedern wiederhergestellt werden kann. »Wettbewerbsfähigkeit« heißt dabei in erster Linie, die Profitmargen der Unternehmen zu erhöhen. Resilienz bedeutet daher, preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und auszubauen.
Damit steht das Resilienz-Konzept in einer Wahlverwandtschaft zum neoliberalen Krisenmanagement der EU seit 2010. Um den neoliberalen Gehalt des Konzeptes zu verstehen, lohnt sich ein Rückgriff auf die Verwendung des Konzepts in der Entwicklungspsychologie. Denn dort bedeutet Resilienz nicht weniger, als die Ursache persönlicher Probleme im Individuum selbst und in der es umgebenden Umwelt zu suchen. Demnach liegen die Ursachen für psychische Krankheiten wie etwa einer Angststörung oder einer Depression nicht in der Arbeits- und Konsumgesellschaft mitsamt ihrer systemimmanenten Unsicherheiten und Krisen, sondern im nicht-resilienten Individuum, das sich nicht effektiv genug an die Herausforderung des Lebens anpassen konnte.
Resilienz bedeutet Anpassung an den Rahmen, anstatt den Rahmen selbst infrage zu stellen. Der Soziologe Ulrich Bröckling zieht in seinem Buch Gute Hirten führen sanft daher eine Parallele zur Subjektivierungsfigur des »unternehmerischen Selbst«, das heißt jener Anrufung zur marktförmigen Selbstorganisation, die dem Subjekt unter der Bedingung größter Unsicherheit höchste Flexibilität abverlangt. Die »UnternehmerInnen des eigenen Lebens« handeln ebenso unter den Bedingungen größter Unsicherheit und versuchen sich an Veränderungen ihrer anzupassen. Zudem gleicht beiden ihre Aufgabe einer Sisyphusarbeit, die niemals enden wird: »Weil die Fähigkeit, Störungen zu absorbieren, so flüchtig ist wie wirtschaftlicher Erfolg, darf es mit der Arbeit an Resilienz nie nachlassen«, schreibt Bröckling.
Überträgt man diese Denkfigur auf die Europäische Union, so bedeutet der Fokus auf Resilienz, die Ursache für die Euro-Krisen eben nicht in der krisenhaften kapitalistischen Akkumulation oder in der Architektur der Währungs- und Wirtschaftsunion zu suchen, sondern in der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit ihrer Mitgliedstaaten. Damit jedoch bleibt die Leerstelle einer politischen Union – einer fehlenden europäischen Arbeitsmarkt-, Fiskal- und Sozialpolitik – unerwähnt, während gleichzeitig die nationalstaatliche Ausgabenpolitik, die Steuerpolitik, arbeitsmarktpolitische Regulierungen oder die Lohnentwicklung in den Mittelpunkt rücken. Exemplarisch dafür steht eine Studie des Forschungsinstitut der Europäischen Kommission, die feststellte, dass in der Eurokrise insbesondere jene Volkswirtschaften eine hohe Resilienz aufwiesen, die über reformierte und effektive Sozialsysteme, Kurzarbeiterregelungen und flexible Lohnstrukturen verfügten sowie eine starke Anpassungsfähigkeit aufgrund einer geringen Staatsverschuldung als auch eines hohen Produktivitätsniveaus bei gleichzeitig niedrigem Lohnwachstum aufwiesen.
Die Corona-Pandemie und die aus ihr erwachsene Wirtschaftskrise stellt für das Resilienzkonzept ein neues Paradebeispiel dar. Denn mit der Erzählung von der Pandemie als externem Schock, das einen selbstregulierenden, bis dahin gut funktionierenden Weltmarkt erschütterte, kann es an den Alltagsverstand der Menschen andocken. Ein näherer Blick macht allerdings sichtbar, dass sich der Konjunkturzyklus von 2010 bereits vor dem Ausbruch der Pandemie seinem Ende näherte und die Quarantänemaßnahmen der bereits drohenden Rezession nur zum Ausbruch verhalfen.
Das Konzept ökonomischer Resilienz überdeckt die Krisenhaftigkeit kapitalistischer Akkumulation, indem es Krisen als naturgegeben definiert. So findet eine Naturalisierung wirtschaftlicher Prozesse statt. Krisen werden nicht verhindert, man hat sich auf sie nur vorzubereiten und sich an ihr regelmäßiges Erscheinen anzupassen. Vorgreifende Maßnahmen – wie eine Neuordung der Währungsunion oder eine umverteilende, auf öffentliche Investitionen ausgerichtete Fiskalpolitik – werden von vornherein ausgeschlossen.
»Wir müssen ökonomische Resilienz als das verstehen, was es ist: ein neoliberaler Kampfbegriff.«
Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage des niederländischen Finanzministers, warum sich die südeuropäischen Mitgliedstaaten nicht auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie vorbereitet haben, gar nicht so abwegig. Bereits 2010 haben wir erlebt, wie der unregulierte Finanzmarkt als Krisenursache aus dem öffentlichen Diskurs verschwand und gleichzeitig die im Zuge der Bankenrettung entstandenen hohen Staatsschulden und die »überregulierten« Arbeitsmärkte einiger Mitgliedstaaten zu den Ursachen für die Eurokrise erklärt wurden. Auf dieses Krisennarrativ folgten zehn Jahre Austeritätspolitik in Europa.
Was damals jedoch mit dem Begriff der »ökonomischen Nachhaltigkeit« begründet wurde, wird morgen mit dem Konzept der Resilienz scheinbar wissenschaftlich untermauert. Vieles deutet heute darauf hin, dass es nach dem Höhepunkt der Pandemie zu einer Rückkehr der Austerität kommen wird, mit all ihren problematischen Folgewirkungen.
Diesmal könnte das Zauberwort »ökonomische Resilienz« lauten – um so mit Verweis auf die hohe Staatsschuldenquote und die steigenden Arbeitslosenzahlen Steuerentlastungen für Unternehmen, Deregulierungen von ArbeitnehmerInnenrechten, (Mindest-)Lohnkürzungen sowie Kürzungen im Renten- und Sozialbereich durchzusetzen. All das fordert die Europäische Kommission bereits seit Jahren im Rahmen des Europäischen Semesters. Im Zuge der länderspezifischen Empfehlungen, die die Kommission jedes Jahr allen Mitgliedstaaten formuliert, waren mehrfach Einsparungen im Gesundheitsbereich gefordert worden – insbesondere in jenen Ländern, die nun am stärksten mit der Pandemie zu kämpfen hatten.
Vor dem Hintergrund der kommenden Auseinandersetzungen erscheint es daher ratsam, das Konzept ökonomischer Resilienz nicht zu unterschätzen. Das bis tief in seine verhaltenspsychologischen Wurzeln durch eine marktliberale und herrschaftsförmige Logik geprägte Konzept kann zu einem ideologischen Instrument für erneute Angriffe auf den Sozialstaat und Arbeitnehmerinnenrechte werden. Wir sollten also der Versuchung widerstehen, uns das Konzept anzueignen oder gar mit eigenen Inhalten füllen zu wollen. Dieser Versuch wird scheitern. Wir müssen ökonomische Resilienz als das verstehen, was es ist: ein neoliberaler Kampfbegriff.
Felix Syrovatka ist Politikwissenschaftler und Redakteur der »PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften«.