20. April 2023
Die Meeresschutzorganisation Sea Shepherd wurde von Idealisten gegründet – jetzt erheben Aktivisten schwere Vorwürfe gegen die US-Niederlassung: Unter ihrem neuen Vorsitzenden Pritam Singh soll die Organisation ihre ursprünglichen Ziele verraten haben.
Die Organisation setzte bei ihren Kampagnen in der Vergangenheit vor allem auf direkte Aktionen.
IMAGO / ZUMA WireSea Shepherd wurde von Menschen gegründet, denen Greenpeace nicht radikal genug war – und wir sprechen von Greenpeace in den 1970er Jahren. Der Gründer von Sea Shepherd, Paul Watson, wurde 1977 von Greenpeace ausgeschlossen, weil er die Ausrüstung eines Robbenjägers im Meer versenkt hatte. Watsons eigene Organisation fuhr seither mit Schiffen unter einer Totenkopfflagge, er selbst wurde als »Öko-Pirat« betitelt.
Seit den 2000er Jahren lieferten sich Sea Shepherd Schiffe in der Antarktis regelrechte Seeschlachten mit der japanischen Walfangflotte. Mit Schlauchbooten, Abdrängungsmanövern, versuchten Kaperungen und anderen Taktiken behinderten die Aktivistinnen und Aktivisten über mehrere Jahre die Jagd auf Wale in den antarktischen Gewässern. Den aufsehenerregenden Kampagnen von Sea Shepard wurde mit der Reality-Show »Whale Wars – Krieg den Walfängern!« sogar ein eigenes TV-Format gewidmet, das Animal Planet in den USA die höchsten Einschaltquoten in der Geschichte des Senders einbrachte. Mit ihren radikalen Taktiken hat Sea Shepherd eine weltweit bekannte Marke aufgebaut, die für einen kompromisslosen Schutz der Meere steht und Tausende ehrenamtliche Aktivistinnen und Millionen Spender angezogen hat.
Nicht immer waren die Taktiken von Sea Shepherd derart militant: Oft arbeitete die Organisation in den letzten Jahren mit den Strafverfolgungsbehörden armer Staaten zusammen, die sich keine eigenen Schiffe zur Verfolgung von illegaler Fischerei leisten können.
Doch die NGO, die in mehreren Ländern vertreten ist, befindet sich derzeit offenbar im Prozess der Spaltung. Vor allem die Niederlassung in den USA will die radikalen Taktiken von Sea Shepherd offenbar hinter sich lassen. In einer anonymen Petition wird dem derzeitigen Chef der US-amerikanischen Sea Shepherd Conservation Society vorgeworfen, die Prinzipien der Organisation verraten zu haben. Pritam Singh (Geburtsname Paul LaBombard Jr), ein Immobilienunternehmer aus Florida, soll Verbündete von Watson aus dem Vorstand verdrängt und zahlreiche US-Verbände geschlossen haben. Den niederländischen Ableger der Organisation, Sea Shepherd Global, soll Singh wegen Verstößen gegen das Urheberrecht verklagt haben. Watson nutzt währenddessen seine eigene Bekanntheit, um öffentlich gegen den Richtungswechsel von Sea Shepherd zu wettern und hat eine konkurrierende Organisation gegründet. Zahlreiche bekannte Aktivisten und Landesverbände haben sich bereits zur einen oder anderen Seite bekannt.
»Pritam Singh sieht die Organisation primär als Dienstleister für die Meeresforschung.«
Der vielleicht schwerwiegendste Vorwurf der Petition: Singh führe Spenderinnen der US-Niederlassung in die Irre, da er den Eindruck erwecke, Sea Shepherd stehe immer noch für direkte Aktionen. Tatsächlich habe die Organisation diese Taktiken längst aufgegeben. Singh habe fast die gesamte US-Flotte von Sea Shepherd verschrotten lassen, obwohl ein Großteil der Schiffe sich in seefähigem Zustand befunden hätte. Die Spender seien darüber nicht informiert worden.
Bereits in der Vergangenheit hatte es Kritik an Singh gegeben. Er sei ungeeignet, die Organisation zu führen. 2016 warf ihm ein Aktivist in einem Blogpost vor, seine Tätigkeiten als Immobilieninvestor wie auch seine sonstige Lebensführung stünde nicht im Einklang mit den Prinzipien von Sea Shepherd. Unter anderem soll Singhs Immobilienfirma Hotels verwaltet haben, die Delphine in Gefangenschaft hielten. Singh weist diese Vorwürfe mit dem Einwand zurück, sie basierten auf einer Namensverwechslung.
Tatsächlich scheint die Sea Shepherd Conservation Society unter der Führung von Singh seit 2014 einen fundamentalen Strategiewechsel vollzogen zu haben. Wie das Wissenschaftsmagazin Science im vergangenen Jahr berichtete, sieht Singh die Organisation nach eigener Darstellung inzwischen primär als Dienstleister für die Meeresforschung. »Wir können unsere Ziele nicht erreichen, ohne dass die Wissenschaft uns antreibt«, so Singh gegenüber Science. »Forschung wird unsere Hauptmission werden – kein Nebengeschäft.«
In Singhs Darstellung war der Strategiewechsel überfällig. Und angesichts von Kürzungen bei Forschungsbudgets seien viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr als dankbar für die Möglichkeit, die Schiffe von Sea Shepherd für ihre Arbeit nutzen zu können. »Es gibt viele gute Meeresforscherinnen, die an Land festsitzen«, zitiert Science Douglas McCauley, einen Meeresökologen von der University of California.
»Wer die sensiblen Ökosysteme der Welt schützen will, muss sich mächtigen Profitinteressen in den Weg stellen, mitunter buchstäblich.«
Doch die neue Strategie von Sea Shepherd steht in den Augen von Kritikern im Widerspruch zu den Idealen von Gründer Watson. Das scheint dem neuen Führungsteam der US-Organisation äußert gelegen zu kommen. John Payne, seit Oktober 2021 Wissenschaftsdirektor der Sea Shepherd Conservation Society, macht daraus gegenüber Science keinen Hehl: »Wenn Paul [Watson] mich gefragt hätte, ich hätte abgelehnt«, so Payne. »[Sea Shepherd] hat auf Konfrontation gesetzt, das hätte nicht gut zu meinen Fähigkeiten gepasst.« Auch um seinen Ruf als Wissenschaftler hatte Payne offenbar Bedenken: »Mich stört, wie lax viele Tierrechts- und Umweltschutzorganisation mit Aussagen zur wissenschaftlichen Faktenlage umgehen«, so Payne. »Ich wollte aushelfen, aber es war mir wichtig, dass wir akkurate Informationen verbreiten.«
Bei der deutschen Niederlassung, dem Sea Shepherd Deutschland e.V., will man nicht von einer Spaltung sprechen. »Wie öffentlich bekannt wurde, gibt es einige wenige Landesgruppen, die die aktive Kampagnenarbeit von Sea Shepherd Global nicht weiter unterstützen wollen«, erklärt die dortige Pressestelle auf Nachfrage von JACOBIN. Des Weiteren betont man die Eigenständigkeit von anderen nationalen Verbänden: »Unser Fokus liegt auf den Kampagnen, die wir seit vielen Jahren erfolgreich in der Ostsee durchführen und damit einen aktiven Beitrag zum Meeresschutz in Deutschland leisten.« Für die Arbeit der Sea Shepherd Conservation Society oder die Kampagnen in den USA würden von Sea Shepherd Deutschland e.V. keine finanziellen Mittel oder sonstige Ressourcen bereitgestellt. Auch bekennt man sich in Bremen klar zum bisherigen Erfolgsmodell: »Sea Shepherd Deutschland e.V. steht weiterhin mit voller Leidenschaft hinter dem Direct-Action-Ansatz, der Sea Shepherd erst zu einer der weltweit erfolgreichsten Meeresschutzorganisationen gemacht hat.« Die Pressestelle der Sea Shepherd Conservation Society äußerte sich gegenüber JACOBIN auf Nachfrage nicht zu den Vorwürfen gegen Singh.
Wissenschaft ist ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen und ein hohes Gut. Aber sie ist nicht dasselbe wie Aktivismus. Um die Natur zu schützen, müssen wir sie natürlich verstehen, und es ist Aufgabe von Forscherinnen und Forschern, unser Wissen über sie zu erweitern. Aber Forschung und Aufklärung alleine reichen nicht, um die Umwelt vor Schaden zu bewahren.
Wer die sensiblen Ökosysteme der Welt schützen will, muss sich mächtigen Profitinteressen in den Weg stellen, mitunter buchstäblich. Es war auch diese Einsicht, die Paul Watson zur Gründung von Sea Shepherd motivierte. Doch nun haben Teile der weltweit bekanntesten Öko-NGOs diesen Kampf offenbar aufgegeben.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.