15. März 2022
Robert Habeck fordert, Deutschland müsse »dienend führen«. Damit klingt er wie ein Botschafter zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs.
Robert Habeck beim Sonder-Energieministertreffen zum Krieg in der Ukraine und den russischen Energielieferungen, 8. März 2022.
Deutschland spielt den guten Hegemon – neben Putin und Trump wahrlich keine schwere Angelegenheit. Was jedoch immer wieder suggeriert wird: Deutschland agiere uneigennützig. Ein kurzer Blick in die Geschichte lehrt Anderes. Westdeutschland war bereits in den 1960er Jahren zur größten Wirtschaftsmacht Westeuropas avanciert und baute diese Position bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion sukzessive aus. Seit der Wiedervereinigung hören wir gebetsmühlenartig die Phrasen vom Ende der »Kultur der Zurückhaltung« und der Übernahme von »Verantwortung«.
Der historische Fluchtpunkt der bundesrepublikanischen »Zurückhaltung« ist und bleibt Auschwitz. Im Schatten des Holocausts zu agieren, bedeutet bis heute, die aus der ökonomischen Dominanz resultierende Macht zu kaschieren. So bekräftigte Wirtschaftsminister Robert Habeck in einem Interview mit der FAZ zuletzt, man könne »aus unserer Geschichte heraus« nicht »verkünden: Jetzt sagen wir mal, wo’s langgeht«. Allein das »mal«, das hier eingestreut wird, verdeutlicht die unentwegte sprachliche Verniedlichung deutscher Macht. Sagt Deutschland nicht immer wieder »mal, wo’s langgeht«, gerade in Europa?
Schon am Anfang des bundesrepublikanischen Wiederaufstiegs zur Großmacht unterwies Franz Josef Strauß das interessierte Publikum einem Briefing. In seinem Entwurf für Europa (1966) forderte er, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg als Rahmen für die Restauration deutscher Macht herhalten müsse und so »das ›deutsche Problem‹ europäisiert« wäre, denn man sollte »nicht glauben, dass sich die Deutschen auf die Dauer mit dem Status einer saturierten Verbrauchergemeinschaft abfinden werden«.
Mit dem Argument der Saturiertheit versuchte Bismarck die europäischen Nachbarn nach den Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich zu besänftigen. Lange währte dieser Schachzug nicht, da kam Wilhelm II. an die Macht. Das vielleicht prominenteste Beispiel für vermeintliche Uneigennützigkeit bei unnachgiebiger Interessenverfolgung fällt in seine Amtszeit. Es ist die Außenpolitik des deutschen Kaiserreichs, insbesondere die Orientpolitik. Die Geschichte ist bekannt: Nach der Reichseinheit 1871 versuchte Deutschland ökonomisch in einer Welt Fuß zu fassen, die nahezu vollständig unter den Großmächten England, Frankreich und Russland sowie den USA aufgeteilt war. Die begehrten Länder wurden entweder Kolonie oder Einflussgebiet, das sich zum Protektorat ausweiten ließ. Wer in die Sphäre einer anderen Großmacht zu dringen versuchte, riskierte einen Konflikt.
Während die Sozialdemokratie zuhause für Aufklärung sorgte und Europa den preußisch-deutschen Militarismus mit Misstrauen beäugte, suchte der deutsche Imperialismus nach Wegen, um diese hemmenden Faktoren zu entschärfen. Auch wenn dieser Versuch letztlich scheiterte, wie der Erste Weltkrieg demonstrierte, zeitigte er einige Etappensiege. Er führte überdies auch zu taktischen Überlegungen, die sich noch heute so lesen, als wären sie einem aktuellen Lehrbuch für den diplomatischen Dienst entnommen.
Ein wichtiger Akteur der deutschen Orientpolitik war Adolf Marschall von Bieberstein, ab 1897 Botschafter in Konstantinopel. Dort leistete er dem Kaiser und der Wirtschaft gute Dienste. Im Austausch mit Kaiser, Kanzler und Auswärtigem Amt betonte Marschall wiederholt das Potenzial filigraner und einfühlsamer Diplomatie. Er beschrieb, »was französisches und englisches Spekulantentum an schamloser Ausbeutung der Türkei geleistet« hätten, sprach von einer typischen »Klasse von Finanziers, die hier systematisch die Türkei ausgeraubt, ihre Säckel gefüllt und dann dem Lande den Rücken gewendet haben«. Dies hätte »einem ehrlichen deutschen Unternehmertum die Wege gebahnt. Das deutsche Kapital muss sich von Unternehmen fernhalten, bei denen es sich darum handelt, einen momentanen großen Spekulationsgewinn auf Kosten des Landes zu erzielen«. Es gelte »nur solche Projekte anzuregen und zu unterstützen, bei denen selbstredend unser Kapital in Form steigender Dividenden Geld verdienen will, aber in ernster Arbeit durch Hebung des Wohlstandes des Landes und seiner Bewohner«.
Die etablierten Großmächte hätten sich auf die alte Weise diskreditiert. Der französische Botschafter behandele »die Türken als eine Nation dritten Ranges«. Er lege eine »Superiorität« an den Tag, »wie sie nur der Franzose schwächere Völker fühlen zu lassen versteht. Das soll imponieren, erreicht aber in Wirklichkeit das Gegenteil. Der Türke hat eines feines Gefühl für das, was wohlanständig ist, und empfindet eine natürliche Abneigung gegen das, was wir ›parvenu‹ nennen«.
Marschall schrieb seine Depeschen in dem Wissen, dass auch der Kaiser sie las. Wohl auch aufgrund der impulsiven Natur Kaiser Wilhelms empfahl er zwischen den Zeilen eine ausgeglichenere Außenpolitik. Das Zitierte weist ihn als empathisch und pragmatisch zugleich aus. Dem berühmten französischen Diplomaten und Staatsmann Talleyrand, der sich chamäleonhaft durch die verschiedensten Regierungsformen durchzulavieren wusste, wird der Ausspruch zugeschrieben, man könne mit Bajonetten alles tun, nur nicht auf ihnen sitzen – eine Erkenntnis, die den verstockten Preußen nur allmählich einleuchtete. Ähnlich schrieb nun auch Marschall, dass sich politischer Einfluss »durch eine momentane Konstellation« zwar schnell herstellen lasse, es jedoch schwerer sei, »ihn auf die Dauer zu erhalten«. Daher gelte es, die eigene Machtposition im Umgang mit »einem schwächeren Staate« nur »maßvoll und vorsichtig« zu nutzen. Um den eigenen Einfluss nicht zu verspielen, müsse man »die eigene Superiorität möglichst wenig fühlbar« machen, sofern man keine »starke Gegenströmung« provozieren wolle.
Bemerkenswert ist, dass Marschall selbst im internen Schriftverkehr versuchte, den Schein der Uneigennützigkeit zu wahren: »Die deutsche Politik hat am Goldenen Horn niemals ›Einfluss‹ in dem Sinne gesucht, wie ihn durch Jahrzehnte abwechselnd Frankreich, Russland und England ausgeübt haben. In dieser Enthaltsamkeit beruht die Eigenart und Sicherheit unserer hiesigen Stellung.«
Diese Zeilen fördern eine neue Qualität der Einflussnahme zutage. Sie ging letztlich soweit, dass deutsche Offiziere 1914 die Kontrolle über die osmanische Armee übernahmen. Dies war gelungen, nachdem man über knapp zwei Jahrzehnte bei jeder Gelegenheit beteuert hatte, »dass unsere wirtschaftlichen Unternehmungen nicht der Ausbeutung, sondern der Wohlfahrt des Landes« dienten. Mit dem Verzicht auf »jene drastischen Mittel … mit denen andere Regierungen hier Augenblickserfolge erringen«, wurde versucht, das Vertrauen des Sultans zu gewinnen.
Aus Marschalls psychologischem Einfühlvermögen entsprang die Prämisse, dass die Türkei die deutschen Interessen nicht wahrnehmen durfte und vielmehr dankbar für die selbstlose deutsche Haltung sein sollte. Während er so die »Stärkung des deutschen Geistes in der türkischen Armee« als »in erster Reihe ein türkisches Interesse« darstellen konnte, betonte er, man müsse stets den Eindruck erwecken, »dass die Türkei der empfangende und Deutschland der gewährende Teil ist«.
Hinter der vermeintlichen Uneigennützigkeit Deutschlands verbarg sich letztlich das Ziel, das Fremdinteresse zum Eigeninteresse zu zaubern. Schließlich schmeichelte es Marschall gar, »dass es die deutsche Methode ist, welche andere Großmächte nachahmen, wenn sie sich in ihren Beziehungen zur der Türkei urbaner Formen befleißigen«.
Wenn diese Facette der Machtpolitik auch selbstredend keine »deutsche« Sache ist, so muss doch der Anschein des Verhandelns »auf Augenhöhe« als einer der wesentlichsten Stabilisatoren der jüngeren deutschen Europapolitik gewertet werden. Der Versuch ist, wie wir sehen, nicht neu. Und noch Mitte der 1990er Jahre bekundete der damalige außenpolitische Sprecher der CDU Karl Lamers bei einer Fraktionssitzung: »Wir müssen führen – aber ohne dass es jemand merkt.« Im Gegensatz zu dieser angemahnten Vorsicht hatte sein mit Wolfgang Schäuble 1994 formuliertes, germanozentrisches Kerneuropa-Konzept Entsetzen bei den europäischen Nachbarn ausgelöst. Das Ablegen der »Kultur der Zurückhaltung« will gelernt sein.
Wir haben erlebt, wie Deutschland zur »stärkste[n] Wirtschaftsnation in Europa« wurde. Im Grunde waren die ständigen Einwürfe, die politische Potenz Deutschlands entspräche nicht ihrer ökonomischen, auch keineswegs unbegründet, wenn machtpolitisch gedacht wird. Von unten betrachtet, bleibt die systemische Konkurrenz Ursache der Ungleichheit in Europa. Um dies nicht zum Diskussionsgegenstand zu machen, wurde lange Zeit die Hegemonie Deutschlands medial ausgeblendet. Dies ist nun nicht mehr möglich. Während weiterhin verniedlicht wird, hat die deutsche Hegemonie in der EU nunmehr einen pragmatischen und paternalistischen Beigeschmack. Der Riese streift langsam die Maske ab. Habeck warnt vor »Pathos und Stolz«. Deutschland müsse »ein zuhörendes Ansagen« praktizieren, so wie der Vater mit dem Kinde.
Mehmet Can Dinçer ist Historiker und Lehrer in Berlin.