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07. September 2025

Norwegens radikale Linke ist weiter auf dem Vormarsch

Die norwegische Linkspartei Rødt hat in den letzten Jahren Tausende Mitglieder gewonnen und dürfte ihr Ergebnis bei den Wahlen am Montag noch verbessern. Wir sprachen mit der Abgeordneten Seher Aydar über den Erfolg ihrer Partei und deren Plan für die Zukunft.

Seher Aydar, Rødt-Spitzenkandidatin für Oslo, spricht auf der Sommerpressekonferenz der Partei im norwegischen Parlament, 24. Juni 2025.

Seher Aydar, Rødt-Spitzenkandidatin für Oslo, spricht auf der Sommerpressekonferenz der Partei im norwegischen Parlament, 24. Juni 2025.

IMAGO / NTB

Norwegen ist eines der reichsten Länder der Welt, was zum großen Teil auf seine riesigen Ölreserven zurückzuführen ist. Genauso wichtig wie das Öl war jedoch Norwegens starke Arbeiterbewegung, die seit den 1960er Jahren dafür sorgte, dass die Ölgewinne nicht in die Taschen der Reichen flossen, sondern in die Kassen des Sozialstaates. Im Gegensatz zu anderen ölreichen Staaten wurde Norwegens Reichtum genutzt, um eine bemerkenswert gleichberechtigte Gesellschaft aufzubauen, die das Leben der Arbeiterklasse innerhalb nur einer Generation transformierte.

In den letzten Jahren hat jedoch die soziale Ungleichheit in Norwegen stark zugenommen. Wie auch in ganz Europa machten Wirtschaftskrise und staatliche Austerität die Errungenschaften der Nachkriegszeit zunichte und höhlten die Unterstützung für die traditionellen politischen Parteien zunehmend aus. Von diesen politischen und sozialen Verwerfungen profitieren vor allem rechte Kräfte wie die sogenannte Fortschrittspartei, die in manchen Umfragen nun gleichauf mit der ehemals hegemonialen Arbeiterpartei liegt, die in den letzten Jahrzehnten stark an Unterstützung verlor.

Links von der Arbeiterpartei ist allerdings ein neuer Konkurrent aufgetaucht: Rødt, oder »die Rote Partei«, die 2007 aus einem Zusammenschluss verschiedener kommunistischer und sozialistischer Strömungen hervorgegangen ist. Ihre Unterstützung hat sich seit ihrem ersten Einzug ins Parlament im Jahr 2017 fast verdreifacht, und die Partei hat gute Chancen, bei den kommenden Parlamentswahlen am Montag ihr Ergebnis zu verbessern. Während eines kürzlichen Besuchs in Norwegen sprach Jacobin-Kolumnistin Judith Scheytt mit Rødt-Parlamentsmitglied Seher Aydar, um mehr über die Strategie der Partei zu erfahren, sowohl um die extreme Rechte zu bekämpfen als auch um die führende Partei des Landes zu werden.

Bei den Wahlen 2021 hat Deine Partei, Rødt, ihr Ergebnis fast verdoppelt, und wenn man den aktuellen Umfragen Glauben schenken darf, werdet Ihr dieses Ergebnis bei den kommenden Wahlen noch einmal verbessern. Worauf führst Du den aktuellen Erfolg zurück?

Ich denke, dafür gibt es zwei Hauptgründe. Der erste Grund ist, dass Norwegen, auch wenn viele andere Länder es als eine Art sozialdemokratisches Paradies betrachten, keines ist. Natürlich ist die Situation viel besser als in vielen anderen Ländern, sogar in Europa, aber dennoch gibt es Klassenunterschiede. Die Reichen werden nicht nur immer reicher, sie wollen auch mehr politische Macht und spenden dafür an rechte Parteien. Ich glaube, die Menschen wollen diese Konstellation ändern, und für viele von ihnen bedeutet das, unsere Partei zu unterstützen, die sich seit ihrer Gründung ganz klar auf wirtschaftliche Gleichheit konzentriert.

Die Menschen bemerken auch die steigenden Lebensmittelpreise. In Norwegen kontrollieren zwei Familienunternehmen 70 Prozent aller Lebensmittelgeschäfte. Die Menschen sehen diese Ungleichheiten und denken: Okay, hier ist eine Partei, die sich für die Arbeiterklasse einsetzen will, auch für diejenigen, die nicht mehr arbeiten können. Ich glaube, dass die Norwegerinnen und Norweger sich der Ungleichheit immer bewusster werden und Veränderungen wollen. Deshalb denke ich – und hoffe ich –, dass wir dieses Jahr ein besseres Ergebnis erzielen werden als vor vier Jahren.

»Jeder weiß, dass es in Norwegen genug Geld gibt. Deshalb wollen so viele Menschen hier mit uns sprechen und uns sagen, dass sie vorhaben, für uns zu stimmen.«

Der zweite wichtige Faktor ist meiner Meinung nach der anhaltende Völkermord in Gaza, der in Norwegen ein großes Thema ist. Die Solidarität mit dem palästinensischen Volk war für unsere Partei schon immer wichtig, aber besonders jetzt. Viele Menschen wollen sich hinter die Palästinenser stellen und wollen, dass Norwegen mehr tut, und wählen daher Parteien, die Palästina unterstützen.

Warum glaubst Du, dass die Menschen, wie Du sagst, sich der Ungleichheit stärker bewusst werden?

Ich denke, das liegt an der wirtschaftlichen Lage. Alles ist teurer als früher. Heute fühlen sich sogar durchschnittliche norwegische Familien finanziell unsicher, was vor 20 Jahren nicht der Fall war. Ihre Eltern fühlten sich sicher, sie selbst aber nicht mehr.

Gleichzeitig schreiben die reichsten Norwegerinnen und Norweger Zeitungsartikel, in denen sie sich darüber beklagen, wie schwer es ist, hier reich zu sein.

Genau. Es ist sowohl die wirtschaftliche Unsicherheit, die die Menschen empfinden, als auch die sehr sichtbare Ungerechtigkeit in der Verteilung des Reichtums. Wir hatten noch nie so viele Superreiche in Norwegen wie heute, daher sehen die Menschen den Kontrast deutlicher.

Wir stehen hier vor dem größten Krankenhaus in Oslo. Es ist ein wichtiger Arbeitsplatz und ein großer Arbeitgeber, aber es herrscht Personalmangel, weil, wie die Politik sagt, »wir haben nicht genug Geld für die Krankenhäuser«. Aber jeder weiß, dass es in Norwegen genug Geld gibt. Deshalb wollen so viele Menschen hier mit uns sprechen und uns sagen, dass sie vorhaben, für uns zu stimmen. Das ist nicht nur im öffentlichen Sektor der Fall, sondern auch in der Privatwirtschaft.

Du hast über die steigenden Lebenshaltungskosten gesprochen. Inwieweit hat die russische Invasion in der Ukraine zu den steigenden Preisen beigetragen?

Das ist eine große Debatte in Norwegen. Einige Parteien, insbesondere die Regierungsparteien, behaupten, dass die Strompreise aufgrund der Invasion steigen. Aber das stimmt nicht wirklich.

Das Problem ist, dass Norwegen über reichlich Energie verfügt und diese Energie früher unter demokratischer, öffentlicher Kontrolle stand. Jetzt ist das norwegische Energienetz in den europäischen Markt integriert, und die Preise sind höher. Aber das ist eine politische Entscheidung: Ob man den Markt die Infrastruktur kontrollieren lässt oder sie unter demokratischer Kontrolle hält. Natürlich hat der Krieg einige Preise beeinflusst, aber das ist nicht das ganze Bild.

Wie hat sich die Invasion auf die norwegische Politik im Allgemeinen ausgewirkt, da Norwegen bereits NATO-Mitglied war und vergleichsweise hohe Verteidigungsausgaben hatte? Gerät Deine Partei unter Druck, ihre Haltung zum NATO-Austritt zu revidieren?

Die russische Invasion hat eine neue Debatte über die Rüstungssparte ausgelöst. Heute sind sich alle Parteien weitgehend einig, dass wir unsere eigene Verteidigung stärken müssen. Früher gab es die Erwartung, dass die Vereinigten Staaten uns retten würden, aber die Menschen denken nicht mehr so – vor allem nach Trump.

»Die Regierungsbeteiligung ist für uns kein Ziel an sich. Wir stehen einer Beteiligung skeptisch gegenüber, wenn es darum geht, den Kapitalismus nach den Regeln des Kapitalismus zu verwalten.«

Innerhalb unserer Partei gab es auch eine große Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine. Es war nicht einfach, aber letztendlich haben wir meiner Meinung nach eine gute Position gefunden. Wir sind nach wie vor gegen die NATO, aber wir unterstützen die Ukraine und glauben, dass sie das Recht hat, sich zu verteidigen, auch mit Waffen.

Der Krieg betrifft uns auch stärker, weil Russland Norwegens Nachbar ist und dieser Nachbar nun ein anderes Nachbarland angreift. Wir von Rødt lehnen Imperialismus und Aggression ab, egal woher sie kommen – Russland, USA, Israel, das spielt keine Rolle, wir haben eine prinzipielle Haltung. Leider halten sich die anderen norwegischen Parteien nicht immer konsequent an dieselben Prinzipien. Einige Kriege lehnen sie ab, andere aber nicht.

Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern ist auch in Norwegen der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als könnte die rechtsextreme Fortschrittspartei zur stärksten Kraft im Parlament werden. Auch wenn dies nun nicht mehr der Fall zu sein scheint, wie gefährlich ist dieser Trend Deiner Meinung nach und wie sieht die Strategie von Rødt aus, um dem entgegenzuwirken?

Natürlich ist das beunruhigend, nicht nur für mich, sondern für viele Menschen, denn es ist ein Symptom für tiefere Probleme in der Gesellschaft. Unsere primäre Strategie zur Bekämpfung der rechtsextremen Bedrohung besteht darin, über unsere eigene Politik zu sprechen – darüber, was wir gemeinsam in Norwegen tun können. Die Mitte-Links- und Zentrumsparteien hingegen beschränken sich in der Regel darauf, zu sagen, dass die extreme Rechte gefährlich ist. Das ist zwar richtig, aber es reicht nicht aus. Man muss den Menschen auch eine Alternative bieten.

Deshalb legen wir den Schwerpunkt auf die Wirtschaft. Bei Rødt versuchen wir, den Wählerinnen und Wählern zu zeigen, dass die Arbeiterklasse, Kranke und ältere Menschen von unserer Politik mehr profitieren als von der der extremen Rechten. Würde die Fortschrittspartei ihr Wirtschaftsprogramm umsetzen, würde sich das tägliche Leben der arbeitenden Bevölkerung verschlechtern. Die Fortschrittspartei arbeitet für die Reichsten – wenn man sich ihre Taten ansieht, ist das offensichtlich. Wir versuchen, das zu entlarven.

Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass die Arbeiterpartei erneut den ersten Platz belegen wird, aber ihre Regierungspartner, die Zentrumspartei und die Sozialistische Linke, schneiden in den Umfragen schlechter ab. Das bedeutet, dass die derzeitige Koalition wahrscheinlich nicht überleben wird. Wenn Deiner Partei die Möglichkeit geboten würde, der Regierung beizutreten, würdet Ihr diese annehmen, um die Rechte von der Macht fernzuhalten?

Rødt möchte zu einem politischen Wandel beitragen, um die Ungleichheit zu verringern. Die Regierungsbeteiligung ist für uns kein Ziel an sich. Wir stehen einer Beteiligung skeptisch gegenüber, wenn es darum geht, den Kapitalismus nach den Regeln des Kapitalismus zu verwalten.

Damit eine Regierungsbeteiligung in Zukunft eine realistische Option ist, müssten wir stark genug sein, um das heutige System in Frage zu stellen. Zum Beispiel, indem wir die demokratische Kontrolle über die Energieressourcen zurückgewinnen oder das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum kündigen und ein neues, demokratischeres Handelsabkommen mit der EU aushandeln. Wir sind noch nicht so weit, auch wenn wir wachsen.

»Die reichsten Norweger kämpfen hart für ihre Interessen, und man kann nicht einfach zwischen ihnen und allen anderen einen Ausgleich schaffen – man muss für die Interessen der Arbeiterklasse kämpfen.«

Stattdessen plant Rødt, die Parteien der Mehrheitskonstellation zusammenzubringen, um eine Vereinbarung zu erzielen, in der wir uns auf einige politische Leitlinien für die nächsten vier Jahre einigen. Für uns ist es wichtig, dass sich die Arbeiterpartei zur Linken bekennt und nicht je nach Tageslaune zwischen rechts und links hin und her schwankt. Wir wollen, dass die Reichen und die Unternehmen mehr zur Gesellschaft beitragen, dass die Zahnpflege Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung wird und dass die Leistungen für Kranke, Menschen mit Behinderung und Rentnerinnen und Rentner erhöht werden.

Eine neue Entwicklung in diesem Jahr ist, dass der größte nationale Gewerkschaftsverband Rødt als Teil der breiteren rot-grünen Koalition anerkannt hat und unsere Kampagne finanziell unterstützt.

Obwohl ihre glorreichen Zeiten längst vorbei sind, dominiert die Arbeiterpartei nach wie vor die norwegische Politik. Welche Rolle siehst Du für Rødt angesichts des Rückgangs ihrer Position? Strebt Ihr letztendlich an, die Arbeiterpartei als wichtigste Partei der Arbeiterklasse zu ersetzen?

Wir verstehen uns als die wahre Partei der Arbeiterklasse. Die Arbeiterpartei ist zu einer etablierten Partei geworden, die versucht, einen Ausgleich zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zu schaffen. Aber die reichsten Norweger kämpfen hart für ihre Interessen, und man kann nicht einfach zwischen ihnen und allen anderen einen Ausgleich schaffen – man muss für die Interessen der Arbeiterklasse kämpfen.

Natürlich würden wir es vorziehen, wenn die Arbeiterpartei stärker wäre als die rechten Parteien, aber es ist nicht unsere Aufgabe, sie zu stärken – unsere Aufgabe ist es, die Arbeiterpartei nach links zu drängen und die Gewerkschaften zu unterstützen. Ich denke, diese Aufgabe erfüllen wir bereits heute.

Carola Rackete, die kurzzeitig Europaabgeordnete für die deutsche Linkspartei war, sorgte kürzlich für Schlagzeilen mit einer Protestaktion in Norwegen, bei der sie die fortgesetzten Ölexporte des Landes mit Drogenhändlern verglich, die Europa von fossilen Brennstoffen »süchtig« halten. Wie steht Deine Partei zur riesigen Ölindustrie Norwegens und insbesondere zu den Ölarbeiterinnen und -arbeitern?

Ich bin mit Racketes Äußerungen nicht vertraut, daher ist es schwierig, direkt dazu Stellung zu nehmen. Was die norwegische Ölindustrie angeht, ist Rødt jedoch ebenfalls der Meinung, dass sie schrittweise abgeschafft werden muss. Der norwegische Staat hat mit Öl viel Geld verdient, und wir haben eine große Verantwortung im Klimabereich, die wir noch nicht erfüllt haben.

Einige Politiker und Politikerinnen in Norwegen wollen, dass wir eine Nation sind, die vom Verkauf von Rohstoffen lebt. Wir sind anderer Meinung. Unser Hauptvorschlag ist, alle neuen Ölförderungen einzustellen, damit die Produktion auf natürliche Weise zurückgeht. Aber Rødt ist auch eine Arbeiterpartei, und wir sind der Meinung, dass es einen geeigneten Plan geben muss, um alternative ökologische Arbeitsplätze zu schaffen, bevor die alten verschwinden. Norwegen verfügt über emissionsfreie Wasserkraft, die für eine saubere Industrie genutzt werden kann – ein enormes Potenzial, das wir heute nicht ausschöpfen, weil wir auch zu einem wichtigen Exporteur von Strom auf den Kontinent geworden sind.

»Rødt war nicht nur eine Umbenennung, sondern ist eine wirklich neue, organische Kraft in der norwegischen Arbeiterbewegung.«

Ich möchte noch hinzufügen, dass Norwegen dank einer starken Sozialdemokratie in den 1960er und 1970er Jahren etwas erreicht hat, was andere Rohstoffnationen nicht geschafft haben: die Sicherung des staatlichen Eigentums und der Kontrolle über die natürlichen Ressourcen. Wir sind stolz auf diese Geschichte.

Deine Partei ist noch recht jung, sie wurde erst 2007 als Zusammenschluss verschiedener kleinerer linksradikaler Strömungen gegründet. Wie hat sich die Partei seitdem entwickelt?

Rødt wurde 2007 gegründet, und zu dieser Zeit hatten wir weniger als 2.000 Mitglieder. Heute sind es etwa 14.000. Natürlich hat jede Partei eine Geschichte, und viele Mitglieder bringen ihre eigene Geschichte mit, aber die Partei von heute wird von unseren Mitgliedern und den Kämpfen, an denen sie beteiligt sind, geprägt. Am ermutigendsten finde ich den demografischen Wandel, den wir durchlaufen haben: Während wir als überwiegend urbane, akademische Partei begonnen haben, sind wir in den letzten zehn Jahren vor allem unter Niedriglohnarbeitern und Arbeitslosen gewachsen und ziehen zunehmend Wähler aus dem ganzen Land an, nicht nur aus den Großstädten.

Seit unserer Gründung sind wir auch viel jünger geworden, und unsere derzeitige Führung ist ein Produkt von Rødt selbst, nicht von ihren Vorgängern. Das zeigt auch, dass Rødt nicht nur eine Umbenennung war, sondern eine wirklich neue, organische Kraft in der norwegischen Arbeiterbewegung ist. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, aber ich bin zuversichtlich, dass wir unsere Basis in der Arbeiterklasse weiter ausbauen und nach und nach zu einer führenden Kraft der norwegischen Linken werden.

Seher Aydar ist Mitglied der norwegischen Linkspartei Rødt. Seit 2021 vertritt sie Oslo im norwegischen Parlament.