21. Oktober 2023
Der türkische Staat hat in den vergangenen Wochen fast die gesamte Infrastruktur der autonomen Selbstverwaltung Nord-Ost-Syrien zerstört. Im Schatten der Eskalation in Israel und Palästina spitzt sich ein weiterer Dauerkrieg zu.
Syrische Kurdinnen und Kurden betrauern Verluste nach türkischer Militäroperation
»Jedes Haus in Nord-Ost-Syrien ist betroffen.« Es sind drastische Worte, die Bedran Çiya Kurd, der außenpolitische Sprecher der autonomen Selbstverwaltung Nord-Ost-Syriens, bei einer Pressekonferenz vergangene Woche findet. Zwischen dem 5. und 9. Oktober führte der türkische Staat gemeinsam mit seinen jihadistischen Söldnertruppen insgesamt 580 Luft- und Bodenangriffe in der Region durch und zerstörte rund 80 Prozent der Infrastruktur. Seither gibt es keinen Strom für zwei der fünf Millionen Menschen in Nord-Ost-Syrien, viele haben weder Wasser noch Gas. Kleinere Angriffe, insbesondere durch Artilleriebeschuss aus den von der Türkei besetzten Gebieten, gehen weiter.
Die Angriffe markieren einen weiteren Schritt in der Eskalation des andauernden Krieges, den der türkische Staat gegen die kurdische Bevölkerung inner- und außerhalb der Türkei führt. Während die Aufmerksamkeit der meisten Medien auf die Ereignisse in Israel und Palästina gerichtet ist, schaffte es die Bombardierung Nord-Syriens oft nicht einmal mehr in die Nachrichtenagenturen.
Die internationale Staatengemeinschaft lässt den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gewähren – mit schwerwiegenden Konsequenzen für die gesamte Region.
In Rojava, der autonomen Selbstverwaltung Nord-Ost-Syriens, hat die Bevölkerung inzwischen eine traurige Routine im Umgang mit gezielten Angriffen auf die Infrastruktur. »Schon letztes Jahr gab es massive Angriffe mit Drohnen, aber auch Kampfflugzeugen«, sagt Anita Starosta. Sie ist bei medico international für die Türkei und Nordsyrien zuständig. »Damals wurde ebenfalls eines der zentralen Elektrizitätswerke, Gasstationen und Ölfelder angegriffen.« Während viele der alten Schäden noch nicht behoben seien, würden sich die Kosten für die neuen Reparaturen auf geschätzt 50 Millionen US-Dollar berufen. Um die kaputten Anlagen zu reparieren, bräuchte es eigentlich Hilfe von außerhalb – diese bleibt jedoch aus. Dabei drohen die Angriffe die Region dauerhaft unbewohnbar zu machen. »Die humanitäre Krise ist schon da«, erklärt Starosta.
»Sie versuchen, die Bevölkerung langsam auszudünnen und das politische Projekt zu zerstören.«
Dieses Mal war es ein Attentat der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Ankara, mit dem der türkische Staat seine Angriffe legitimierte. Am 1. Oktober sprengte sich ein Mitglied der PKK vor dem türkischen Innenministerium in die Luft, ein zweiter Mann wurde von der Polizei erschossen, bevor er seine Sprengstoffweste zünden konnte. Die Türkei behauptete später, einer der Angreifer stamme aus Nordsyrien. Dafür gab es keinerlei Beweise, was aber für das Vorgehen Ankaras ohnehin irrelevant ist. Schon die vergangenen Militäraktionen des türkischen Staates hätten gezeigt, dass das Land »kaum einen expliziten Vorwand wie den Anschlag in Ankara braucht, um die Region anzugreifen«, erklärt die Politikwissenschafterin Dilar Dirik, die ein Buch über die kurdische Frauenbewegung geschrieben hat. »Keine Aktion rechtfertigt die Bombardierung ziviler Bevölkerungen und Strukturen durch die zweitstärkste NATO-Armee.«
Inzwischen hat Erdoğan die erste Phase der Militäroperation für beendet erklärt, aber die Angst vor erneuten Angriffen lebt weiter. »Es geht darum, das ganze Gebiet unter türkischen Einfluss zu bekommen«, sagt Bêrîvan Amûdê, die im Informationsbüro der Frauenverteidigungseinheiten YPJ tätig ist. Das betreffe nicht nur den Norden Syriens, sondern auch den Norden des Irak, wo die vorwiegend kurdische Bevölkerung seit 1991 de-facto autonom lebt und ebenfalls Angriffen ausgesetzt ist. Aber in Rojava geht es um noch mehr: »Sie versuchen, die Bevölkerung langsam auszudünnen und das politische Projekt zu zerstören.«
Das politische Projekt Nord-Ost-Syriens ist in den vergangenen Jahren für Linke auf der ganzen Welt eine Inspirationsquelle geworden. »Rojava kann man vielleicht am besten als einen politischen Prozess bezeichnen«, erklärt Dirik. Seit 2012 wurde dort ein anderes politisches und soziales System aufgebaut, das auf der jahrzehntelangen linken Tradition der kurdischen Freiheitsbewegung beruht. Dazu zählen etwa lokale Verwaltungsstrukturen, die autonome Frauenfreiheitsbewegung und die Anerkennung verschiedener religiöser und ethnischer Gruppen. Zahlreiche Internationale kämpften an der Seite der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, die Teil der multiethnischen Militärallianz Demokratische Kräfte Syriens (SDF) ist, gegen den Islamischen Staat. Der bekannteste Fall in Deutschland ist Ivana Hoffmann, die 2015 im Kampf gegen den IS fiel.
Die Zerstörung dieses Projekts hat Erdoğan in den vergangenen Jahren auf unterschiedlichste Weise vorangetrieben. 2016 startete die Türkei die erste Militäroffensive am Boden. Es folgten zwei weitere, erst die Besetzung des kurdischen Afrîns 2018, später Serê Kaniyê und Girê Spî im Jahr 2019. Gerade Afrîn ist exemplarisch für das türkische Vorgehen in der Region: Unter dem Deckmantel eines »Umsiedlungsplans« wurde die kurdische Bevölkerung gewaltsam vertrieben, während bestimmte arabische oder turkmenische Gruppen gezielt angesiedelt wurden. Die Familien, die heute dort leben, stammen oft aus den an die Türkei angebundenen Söldnertruppen, anderen Regionen Syriens oder sogar anderen Ländern. Dabei wurde Afrîn auch kulturell verändert: Auf öffentlichen Gebäuden findet man heute türkische Aufschriften und Fahnen, in den Schulen wird statt auf Kurdisch auf Türkisch oder Arabisch gelehrt. Diese Politik wird auch in den anderen besetzten Gebieten durchgeführt. »Die neu angesiedelten Gruppen handeln unter der Kontrolle des türkischen Staats«, erklärt Amûdê.
Neben diesen Bodenoffensiven setzt die Türkei seit etwa zwei Jahren verstärkt auf einen permanenten Krieg aus der Luft – insbesondere durch Drohnen. »Das ist psychologische Kriegsführung«, betont Starosta. »Für die Menschen vor Ort ist das sehr dramatisch und re-traumatisierend.« Es sind oft kleine, gezielte Angriffe, mit denen versucht wird, die Bevölkerung zu zermürben. »Die Menschen werden langsam, langsam umgebracht oder zu Flüchtlingen gemacht«, sagt auch Amûdê. »Das passiert nicht von einem Tag auf den anderen.«
Hinter den gezielten Drohnenangriffen steckt aber noch eine weitere militärische Strategie: »Sie werden von der internationalen Gemeinde eher toleriert als groß angelegte Invasionen und Besatzungen«, erklärt Dirik. »Die meisten Medien berichten nicht einmal über solche Angriffe. Das ist unter anderem dem Drohnenkriegskonzept des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama zu verdanken.« Wie die USA in Afghanistan, im Jemen und in Pakistan verkaufe auch die Türkei Drohnen als humane Alternative innerhalb sogenannter Antiterroroperationen. Dabei macht die Türkei aber keinen Unterschied zwischen kämpfenden und zivilistischen Personen. »Mit diesem Konzept kann jedes Ziel als legitim charakterisiert werden«, betont Dirik weiter. »Damit wird die Möglichkeit, diese Angriffe auf Kriegsverbrechen zu untersuchen und eventuell anzuklagen, erschwert.«
Wie schützt man sich, wenn der Krieg aus der Luft immer über einem schwebt? »Es ist sehr schwierig, weil wir nicht die Technologie dafür haben«, sagt Amûdê. »Zum Schutz kann man nur seine Bewegung einschränken und so versuchen, ihnen keine Chance für Angriffe zu geben.« Seine Bewegung einzuschränken, heißt im Alltag: Jedes Mal zögern, bevor man in ein Auto steigt und sich vergewissern, versehentlich keine Informationen gegeben zu haben, die einen zum Angriffsziel machen könnten.
»Menschen ziehen sich zurück in die Isolation. Gesellschaftliche Zusammenkünfte – besonders, wenn sie nächtliches Reisen inkludieren – werden vermieden, aus Angst dadurch die Bomben auf sich zu ziehen.«
Dadurch wird die Fortbewegung massiv eingeschränkt. Zwar fanden 2022 nur rund ein Viertel aller Drohnenanschläge auf Autos statt, wie das Rojava Information Center in einem Bericht erklärte, aber dafür sind diese Angriffe besonders tödlich. Bei 31 der 33 Angriffen auf Autos gab es Tote. Zum Vergleich: Nur bei 44 der 97 Angriffen auf andere Ziele kam es zu Verlusten. Die Anschläge treffen immer wieder auch politisch aktive Personen oder Zivilistinnen und Zivilisten. Erst im Juni wurde die Co-Vorsitzende der Selbstverwaltung im Kanton Qamişlo, Yusra Derwêş und ihre Stellvertreterin Lîman Şiwêş bei einem gezielten Drohnenangriff auf ihr Auto getötet. Die psychologischen Folgen dieses permanenten Drohnenterrors sind enorm. »Es ist die Revolution normaler Menschen«, betont Amûdê. »Natürlich beeinflusst sie das stark.«
Die Politikwissenschafterin Alex Edney-Browne hat sich mit den Konsequenzen des US-amerikanischen Drohnenkriegs in Afghanistan auseinandergesetzt. In ihrer Studie fand sie heraus, dass das konstante Leben unter einer möglichen Gefahr durch Drohnen zu Vereinzelung in der Bevölkerung führt. Menschen ziehen sich zurück in die Isolation. Gesellschaftliche Zusammenkünfte – besonders, wenn sie nächtliches Reisen inkludieren – werden vermieden, aus Angst dadurch die Bomben auf sich zu ziehen. Edney-Browne spricht von einer Form psychologischer Kolonisierung: Menschen werden gezwungen, sich in ihre Angreifer hineinzudenken und jeden nächsten Schritt zu antizipieren.
Weil so oft politische Repräsentantinnen und Repräsentanten Opfer von Drohnenangriffen werden, haben sie auch einen weiteren Effekt: Sie halten die zivile Bevölkerung von politischen Aktivitäten fern. »Es wird gezeigt, dass jede Annäherung an die politischen Strukturen vor Ort harte Konsequenzen tragen kann«, betont Dirik.
Noch deutet sich in Nord-Syrien keine weitere Fluchtbewegung an, sagt medico-Expertin Starosta. Aber es sei nicht ausgeschlossen, dass die Leute wieder ihre Häuser verlassen müssen, besonders weil der Winter bevorstehe. »Wenn es im Winter kein Öl und Gas gibt, wie sollen denn die Menschen dann überleben?« In der Region leben knapp eine Million Menschen als Geflüchtete in Zeltlagern. Gerade sie befinden sich in einer prekären Situation.
In eben diesen Lagern befinden sich viele ehemalige IS-Kämpfer und ihre Familienangehörigen. Sie können von den Sicherheitskräften der Selbstverwaltung bereits jetzt kaum kontrolliert werden. Mit den Angriffen der Türkei steigt immer auch die Gefahr, dass der IS die Situation nutzt, um sich dort weiter zu reorganisieren.
Der Westen hat schon nach dem aserbaidschanischen Angriff auf Bergkarabach gezeigt, dass er Diktatoren gewähren lässt. Erdoğan weiß aus seinen bisherigen Aktionen, dass er nicht einmal mit verbalen Verurteilungen aus Europa oder den USA rechnen muss. Diese Situation nutzt er für sich – und versucht, die kurdische Autonomie weiter Schritt für Schritt zu zerstören.
Magdalena Berger ist Assistant Editor bei JACOBIN.