05. März 2021
Die Frage von Reform oder Revolution ist eine Scheindebatte, das meinte schon Rosa Luxemburg, die am 15. Januar 1919 ermordet wurde. Denn für die Mobilisierung sind Sozialreformen unerlässlich. Aber um für eine andere Gesellschaft zu kämpfen, braucht es die Revolution.
Rosa Luxemburg beim Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart von 1907.
Am 15. Januar 1919 wurde Rosa Luxemburg von rechten paramilitärischen Gruppen ermordet: Ihr Kopf wurde zertrümmert und ihr Körper in den Landwehrkanal geworfen, wo er Monate später in Einzelteilen gefunden wurde. Es heißt, Deutschlands erster sozialdemokratischer Kanzler Friedrich Ebert sei in die Ermordung Luxemburgs involviert gewesen.
Rosa Luxemburg war eine der faszinierendsten und originellsten marxistischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts und eine führende Akteurin der sozialistischen Bewegung. Die Umstände, die zu ihrem brutalen Tod führten, markieren das Ende der Sozialdemokratie, die sich als revolutionäres, internationalistisches und antikapitalistisches Projekt verstand.
Ihre Analysen zur Entwicklung der Globalisierung, zur Krise des Finanzkapitalismus, zu den Zwängen der Wahlpolitik, zum Verhältnis zwischen Parteien und sozialen Bewegungen, zur immerwährenden Gefahr des Krieges sowie zur Unabdingbarkeit des Internationalismus sind dieser Tage von wiedererstarkender Relevanz.
Noch bevor Ebert die Unterstützung von Nazi-Freikorps suchte, um die Gruppen von Aufständischen niederzuschlagen, soll er gesagt haben: »Ich hasse Revolutionen wie die Sünde«. Für Luxemburg hingegen waren Revolution und Reform keine Gegensätze.
Schon im Alter von 27 hatte sich Luxemburg als zentrale Stimme in der Zweiten Internationalen etabliert. Ihren rasanten Aufstieg hatte sie nicht zuletzt ihrer vehementen Kritik an Eduard Bernsteins revisionistischer Forderung, den Reformismus der Revolution vorzuziehen, zu verdanken. Als enger Freund und Verbündeter von Engels war Bernstein ein Marxist erster Güte und außerdem ein Pionier im Kampf für die Rechte Homosexueller. Doch mit seiner Schrift Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie – ein Werk, das heute als Gründungstext der Sozialdemokratie gilt –, war er der Erste, der für einen revolutionslosen Weg zum Sozialismus warb: »Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles!« Der Vorschlag zum revolutionslosen Sozialismus wurde ausdrücklich diskutiert und traf schließlich auf der Konferenz der Deutschen Sozialdemokratie in Stuttgart im Jahr 1898 auf Ablehnung.
Für Luxemburg jedoch war die Entscheidung zwischen Reformismus und Revolution ein Scheindilemma: »Kann denn die Sozialdemokratie gegen die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet, der Sozialreform entgegenstellen? Allerdings nicht!« Im Zentrum der Debatte um Bernsteins Vorschlag stand, so Luxemburg, nur vordergründig die Frage der politischen Taktik. Tatsächlich, so argumentierte sie, ging es vielmehr um die Existenz der sozialdemokratischen Bewegung als unverkennbare Kraft im Kampf gegen den Kapitalismus.
Die Debatte um Bernstein drehte sich im Kern darum, ob Demokratie und Kapitalismus kompatibel seien: eine Frage, die wir uns auch heute noch stellen (müssen). Bernstein zufolge lässt sich diese Frage bejahen. Der Einfluss, den diese Einschätzung auf die Entwicklung der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert ausübte, ist kaum zu überschätzen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Bernsteins Argumente für den Reformismus aus der Luft gegriffen waren – sie basierten auf theoretischen und praktischen Annahmen, die sich aus dem marxistischen Materialismus heraus entwickelt hatten.
Bernsteins Kernannahme war, dass die dialektische Methode danach verlangt, die neusten empirischen Erkenntnisse in die eigene Theoriebildung einzubeziehen. Im Kontext des 19. Jahrhunderts war die überraschende Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus eine der zentralsten empirischen Erkenntnisse. In der Wirtschaft gab es eine Reihe neuer Entwicklungen, mit denen sich Marxistinnen und Marxisten konfrontiert sahen: die starke Zunahme des Außenhandels, die Ausbreitungen des Finanzsektors, die Entstehung von Kartellen und Treuhandverhältnissen und die Herausbildung der Mittelschicht. Zusammengenommen implizierten all diese Entwicklungen, dass Wirtschaftskrisen nicht mehr unvermeidlich jenen destruktiven Ausgang nehmen würden, den Marx vorausgesagt hatte.
Unter dem Gesichtspunkt der politischen Praxis setzte Bernstein die repräsentative Demokratie mit dem Ende der Klassenherrschaft gleich. Die Ausweitung des Wahlrechts wie auch das Erstarken der Gewerkschaften und Genossenschaften sowie die Aussicht auf Wahlerfolge sozialdemokratischer Parteien in ganz Westeuropa zeigten, dass die repräsentative Demokratie durchaus in der Lage war, den Kapitalismus dem demokratischen Staat unterzuordnen. Vor diesem Hintergrund betrachtete Bernstein den Kampf für demokratische Bürgerrechte und politische Emanzipation als ein und dasselbe Projekt, das sich aus der sozialdemokratischen Bewegung heraus entwickeln könnte, ganz gleich welches »Endziel« sie verfolgte.
Luxemburg formulierte ihre Antwort auf Bernstein in Sozialreform oder Revolution?. Wenn auch Reformismus und Revolution kompatible seien, so sind es Demokratie und Kapitalismus in keinem Fall, wie Luxemburg in dieser Schrift darlegt. Zentral für dieses Argument waren für sie die Strukturen der Globalisierung und die Rolle der Nationalstaaten im Finanzkapitalismus: Durch die internationale Ausweitung des Kapitals und die Entwicklungen im Kreditsystem wurde die politische Macht des Nationalstaats instrumentalisiert, um wirtschaftliche Macht in die Hände von Monopolisten, transnationalen Unternehmen und Banken zu übergeben.
Entgegen Bernsteins Auffassung, das Kreditsystem könne einen Kollaps des Kapitalismus auffangen, betonte Luxemburg, dass der Finanzkapitalismus und die Verfügbarkeit von Krediten die krisenhafte Tendenz des Kapitalismus eher verschlimmert als abschwächt. Kredite, so argumentierte sie, fördern Spekulationen, was wiederum die Schere zwischen dem, was wir heute »Realwirtschaft« und »Fiktivwirtschaft« nennen, weiter auseinandertreibt. Tatsächlich wird die Entwicklung der Produktivkräfte durch Kredite zunächst angeregt, was jedoch ebenso zu Kalkulationsfehlern und Überproduktion führen kann. Als Gegenmaßnahme in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation erweisen sie sich daher als ungeeignet. Kartelle, Unternehmenszusammenschlüsse und andere Regulationsmechanismen, die auf eine verbesserte Koordination zwischen Kapitalistinnen und Kapitalisten abzielen, können die Profite auf den Binnenmärkten nur durch Expansion erhöhen und Produkte, die sich während der Überproduktion anhäufen, ins Ausland verkaufen. Eine stabile Wirtschaft im Binnenmarkt Europas ist also auf der Prämisse aufgebaut, dass Anarchie auf dem Weltmarkt herrscht – das ist jedoch das Gegenteil von dem, was der Kartellismus zu bezwecken versucht.
Ihre schärfste Kritik am Reformismus entwickelte Luxemburg 1913 in Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Diese Studie zur dynamischen Struktur der Kapitalakkumulation enthielt eine Kritik des zweiten Bandes von Marx’ Kapital und den Versuch zu verdeutlichen, dass der Kapitalismus nur überleben konnte, indem er sich zunehmend auf nicht-kapitalistische Ökonomien ausdehnte. Sie kritisierte Marx dafür, dass er in seiner Analyse der Reproduktion des Kapitals von einem geschlossenes System der Akkumulation ausging und damit die ökonomischen Besonderheiten ganzer Weltregionen vernachlässigte, die von der Expansion des Kapitalismus noch nicht eingeholt worden waren. Luxemburg zeigte auf, dass die Annahme eines geschlossenen Systems jedoch nur schwer erklären könne, wie sich Kapital im Kontext von Lohndumping, wachsender Einkommensungleichheit und der daraus resultierenden Konsumkrise in fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften reproduziert und weiter an Wert gewinnt.
Um die Anreize kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung zu erklären, antizipierte Luxemburg in ihren Theorien zur Entwicklung der Kapitalwirtschaft das Zusammenspiel von »Realinvestition« und »Sparrate«, lange bevor Keynes und Kalecki ihre Theorien zur Stagnation entwickelten. Während Marx die Reproduktion des Kapitals noch mit Verweis auf technologische Entwicklung, den Wettbewerb zwischen Kapitalisten und den Drang nach Profitmaximierung erklärt hatte, zeigte Luxemburg auf, dass dieser Erklärungsversuch den strukturellen Zwängen der Kapitalreproduktion nicht gerecht wurde. Der zentrale Punkt ihrer Kritik an Marx war, dass er nicht berücksichtigte, dass der Kapitalismus notwendigerweise neue Märkte erschließen muss, um jene Konsumgüter ins Ausland zu verkaufen, die sich die verarmte, inländische Arbeiterschaft nicht mehr leisten konnte. Wenn also die Wirtschaftslage angeschlagen ist und die Nachfrage nach Konsumgütern sinkt, gäbe es ohne die Möglichkeit eines ständig expandierenden Marktes keinen Anreiz für Investitionen und keinen Absatzmarkt für die akkumulierten Kapitalbestände.
Die Kernthese Luxemburgs ist, dass durch die Expansion des Kapitals in nicht-kapitalistische Gebiete der Welt – etwa durch Eroberungen, Handel, Gewalt und Betrug – neue Absatzmärkte geschaffen werden. Billige Massenware, die aufgrund von nachlassendem Konsumverhalten nur schwer im Binnenmarkt verkauft werden kann, wird so in anderen Teilen der Welt verfügbar gemacht. Somit werden Investitionsanreize geschaffen. Das geschieht aber auf Kosten lokaler und traditioneller Formen der Wirtschaftsorganisation, und im Besonderen auf Kosten landwirtschaftlicher Produktionsformen. Natürlich trägt die Ausweitung des Marktes auch technologische Innovationen und Modernisierungsprojekte in ehemals nicht-kapitalistische Regionen. Dies wiederum kann eine Umgestaltung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse zur Folge haben und Klassenkonflikte entstehen lassen, die sich von solchen in kapitalistischen Gesellschaften unterscheiden.
Während imperialistische Aneignung und Krieg ganze Teile der Welt der politischen Kontrolle kapitalistischer Nationen unterwerfen, etablieren subtilere Mittel – wie etwa internationale Kredite – politische und wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse, die die Außen- und Wirtschaftspolitik junger, kapitalistischer Staaten dem direkten Einfluss ihrer neokolonialen Ausbeuter unterstellen. Mit den Investitionen kommen auch die Spekulationen und wenn die Hoffnungen auf Gewinnmaximierung enttäuscht werden, dann werden diese anfälligen Volkswirtschaften mit Schulden belastet – und die Verluste werden sozialisiert. Die Expansion des Marktes löst also eine neue, tiefere Krise aus und markiert den Beginn eines neuen Zyklus der Akkumulation.
Ihr Fokus auf die Analyse der Entwicklung nicht-kapitalistischer Regionen verlieh Luxemburg eine Sensibilität für Fragen des Rassismus und der Rechte Indigener Bevölkerungen, die für den Marxismus ihrer Zeit untypisch war. Marx und orthodoxe Marxisten teilten noch die teleologischen Voreingenommenheiten der Aufklärung. Sie gingen von einer Vier-Stufen-Theorie historischer Entwicklung aus, in der nomadische Lebensformen (die mit dem Jagen und Sammeln ihre Subsistenz sicherten) durch vermeintlich fortschrittlichere – erst landwirtschaftliche, später kommerzielle – Lebensformen ersetzt würden. Erst kürzlich gefundene Aufzeichnungen von Luxemburg zeigen, dass sie hingegen glaubte, die Modelle des Kollektiveigentums und die Aufteilung sozialer Rollen seien in vielen Indigenen Gesellschaften um einiges progressiver als in kommerziellen Gesellschaften. Sie war zudem eine Vorreiterin der Analyse von Rassismus und kultureller Aneignung. Diese Perspektive begriff sie als integralen Bestandteil einer umfassenden Kritik des Kapitalismus, da sich im Kapitalismus wirtschaftliche Ausbeutung und identitätsbasierte Diskriminierung gegenseitig verstärken.
Die Grundhaltung Luxemburgs war also internationalistisch geprägt, was wiederum den zweiten Teil von Luxemburgs Argument gegen Bernsteins Verteidigung des Reformismus erklärt: die politische Perspektive. Emanzipation durch Selbstbestimmung betrachtete Luxemburg mit Skepsis, denn das Erringen von einem noch so kleinen Anteil an Entscheidungsgewalt innerhalb liberaler repräsentativer Institutionen bedeutet bedauerlich wenig in einem Staatsgefüge, das von Weltpolitik und Arbeiterbewegungen dominiert ist, wie sie argumentierte. Die gegenseitige Abhängigkeit von wirtschaftlicher und politischer Macht in der Globalisierung, und die damit verbundene Ausbeutung entlegener Gebiete, machten Luxemburg skeptisch gegenüber Theorien von politischer Emanzipation durch Selbstbestimmung. An diesem Punkt unterscheidet sich Luxemburg nicht nur von Bernstein, sondern auch von anderen marxistischen Theoretikerinnen und Theoretikern – einschließlich Lenin –, die sich für nationale Befreiungsbewegungungen aussprachen. Luxemburg erkannte in nationalen Befreiungsbewegungen hingegen die Gefahr, dass diese den liberalen, herrschenden Eliten in die Hände spielten und die internationale Arbeiterbewegung schwächten, selbst dann, wenn sie von Sozialisteninnen und Sozialisten angeführt wurden.
Luxemburg hat ihre Positionierung gegen nationale Selbstbestimmung zeitlebens konsequent vertreten. Schon als sie als Jugendliche in der polnischen Revolutionsbewegung involviert war, argumentierte sie, dass das Streben nach Unabhängigkeit von Russland den Interessen der polnischen Arbeiterklasse entgegenstünde, da sich deren Ausbeutung ohne sozialistische Regierungen in Deutschland, Österreich und Russland nur verschärfen würde. Während sie sich später in der SPD engagierte, kritisierte sie Kautsky und die SPD-Führung dafür, dass sie sich aus Angst vor dem Verlust ihrer Wahlerfolge nicht gegen die imperialistischen Projekte Deutschlands in Marokko gestellt hatten. Als sich die Sozialdemokraten während des Ersten Weltkrieges im Reichstag mit nationalistischen Konservativen zusammenschlossen und dem Krieg gegen Russland zustimmten, brach sie endgültig mit der deutschen Sozialdemokratie. Dazu schrieb sie 1915 in der »Junius«-Broschüre: »Solange kapitalistische Staaten bestehen, namentlich solange die imperialistische Weltpolitik das innere und äußere Leben der Staaten bestimmt und gestaltet, hat das nationale Selbstbestimmungsrecht mit ihrer Praxis im Krieg wie im Frieden nicht das geringste gemein.«
Die Ilusion der Demokratie im Kapitalismus und die Idee, dass politische Emanzipation durch Selbstbestimmung möglich sei, sind letztlich zwei Seiten derselben Medaille. Genauso wie die Sozialdemokraten in Kriegszeiten glaubten, dass Antimilitarismus notwendigerweise als Versagen des Patriotismus betrachtet würde, so irrten sie sich auch in Zeiten des Friedens, wenn sie glaubten, dass Zugewinne bei den Wahlen und sozialdemokratische Reformen alleine ausreichen würden, um das ausbeuterische System der Lohnarbeit zu überwinden.
Dennoch bedeutet das nicht, dass sich Luxemburg per se gegen die politische Repräsentation im Parlament ausgesprach oder dem Kampf für gewerkschaftliche Reformen entgegenstellte. Dies wird mit Blick auf ihre Schriften zum Frauenwahlrecht besonders deutlich – was darüber hinaus auch die unter Feministinnen weit verbreitete Annahme entkräftet, Luxemburg habe sich, anders als ihre Freundin und Mitstreiterin Clara Zetkin, nie für Fragen der Frauenemanzipation interessiert. Vielmehr ging es ihr darum, dass Sozialreformen, die durch parlamentarische Repräsentation erlangt werden, als auch die Forderung nach der weiblicher Emanzipation, in eine radikalere Kritik des Kapitalismus – die Zugang zu politischer Macht und eine grundlegende Transformation der ökonomischen wie auch politischen Strukturen einfordert – eingebettet werden sollte. Genauso wie es im Kapitalismus keine nationale Emanzipation geben könne, so könne es auch keine Emanzipation von Frauen und rassifizierten Minderheiten geben.
Luxemburg betrachtete Reformen als notwendige Lernplattformen, die der Masse der Unterdrückten die Fähigkeiten zur autonomen Entscheidungsfindung vermitteln und von der aus sie sich auf das Erringen politischer Macht vorbereiten würden. Reformen waren also eine Art Testlauf der Befreiung für die tatsächliche Befreiung. Diese Position spiegelt sich auch in ihrer Kritik an zentralisierten Modellen politischer Organisation wider, einschließlich auch ihrer Auseinandersetzung mit Lenin und seinem Ansatz der »Avantgarde des Proletariats«. Luxemburgs Theorie der Partei sieht hingegen vor, dass sich diese in spontanen Initiativen aus der Masse herausbildet. Diese Überzeugungen waren wesentliche Bestandteile ihres Verständnisses von Freiheit und demokratischem Handeln, denen die sozialen Beziehungen des globalen Kapitalismus im Weg standen.
Aus diesem Grund argumentierte Luxemburug, als Antwort auf Bernstein, dass Reformen nicht als »langwierige Revolution« verstanden werden sollten und dass die Revolution keine »verdichtete Reihe an Reformen« darstellte. Historisch betrachtet, so argumentierte sie, dienen Rechtsreformen der Formierung einer aufstrebenden, sozialen Klasse. Als solches sollten sie das Ziel verfolgen, das politische Kräfteverhältnis soweit zu transformieren, dass das bestehende Rechtssystem zugunsten eines neuen umgestaltet werden könne. Das, so sagte sie, sei die eigentliche Bedeutung der Begriffe »Reform« und »Revolution« – sie bezeichnen eine radikale Veränderung der vorherrschenden Rechtsbestände, und nicht aber die Art und Weise, in der diese Transformationen umgesetzt werden.
Rechtsreform und Revolution sind also nach Luxemburg keine unterschiedlichen Methoden historischen Fortschritts, »die man vom Tresen der Geschichte herauspicken kann, wie man etwa heiße oder kalte Würstchen auswählt«. Diejenigen, die die Methode der Rechtsreform dem Ziel der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterschaft entgegensetzen, wählten, so Luxemburg, nicht etwa » einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel«, sondern ein »anderes Ziel«. Sie entschieden sich für oberflächliche Verbesserungen einer alten, bestehenden Ordnung, anstatt sich für die Errichtung einer neuen Ordnung zu verpflichten. Wer also den Reformismus der Revolution entgegensetzt, entkoppelt »Demokratie« vom »Sozialismus« – und verliert schließlich beides.
Rosa Luxemburg war eine der letzten wirklich revolutionären Sozialistinnen. Sie war aber auch eine der letzten wirklichen Sozialdemokratinnen, da sie sich kompromisslos zur Demokratie als auch zum Sozialismus bekannte. Freiheit, so eines ihrer prägnantesten Zitate, ist immer nur die Freiheit des Andersdenkenden. Sie verstand, dass die Überwindung des Kapitalismus nicht nur bedeutet, Steuern zu erhöhen, Chancengleichheit für ein paar wenige zu etablieren oder aber die Arbeitsbedingungen in einigen Ländern zu verbessern. Der Sozialismus implizierte den Einsatz für eine andere Form der Gesellschaft, in welcher die freie Entfaltung der einzelnen mit dem Streben nach Profit, mit technokratischen Hierarchien und der Bürokratisierung der Politik unvereinbar ist. Der Sozialismus war für Luxemburg ein Projekt der wirtschaftlichen wie auch der politischen Emanzipation. Er war ein globales, nicht nationales Projekt.
Angesichts der Tatsache, dass die traditionellen sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa auf dem Abstieg sind, mag man sich wünschen, dass der Geist Rosa Luxemburgs sie heimsucht. Ihr Tod vor über einhundert Jahren symbolisiert auch den Tod einer linken Politik, welche ihre revolutionären und internationalistischen Ideale aufgegeben hat und sich nunmehr mit der Zähmung des Kapitalismus auf nationaler Ebene begnügt. Luxemburgs Leben und Werk, ihre Studien zum globalisierten Kapitalismus, ihre kompromisslose Verteidigung des Internationalismus und ihre scharfe Analyse sozialistischer Strategie, die in der kollektiven politischen Bildung verwurzelt ist, sind heute noch genauso relevant wie damals.
Für uns, die wir eine radikale linke Alternative bilden wollen, die sowohl pragmatisch als auch prinzipientreu ist, die Sozialreformen vorantreibt ohne dabei ihren transformativen, sozialistischen Anspruch zu verlieren, sollte Rosa Luxemburg eine Zeitgenossin sein – keine Märtyrerin.