01. Mai 2020
Rosa Luxemburg über die Geschichte des Ersten Mai, den internationalen Feiertag der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Rosa Luxemburg, 1910.
Der befreiende Gedanke, einen proletarischen Feiertag als Mittel zum Erlangen des achtstündigen Arbeitstages einzuführen, entstand zum erstenmal in Australien. Die dortigen Arbeiter beschlossen schon im Jahre 1856, einen Tag völliger Arbeitsruhe zu veranstalten, verbunden mit Versammlungen und Vergnügungen, als Manifestation zugunsten des achtstündigen Arbeitstages. Für den Tag dieser Feier wurde der 21. April bestimmt. Anfangs dachten die australischen Arbeiter nur an eine einmalige Manifestation im Jahre 1856. Schon diese erste Feier übte jedoch einen so starken Eindruck auf die proletarischen Massen Australiens aus, wirkte so aufmunternd und agitatorisch, daß man beschloß, alljährlich diese Feier zu wiederholen.
In der Tat, was könnte der Arbeitermasse größeren Mut und Glauben an die eigenen Kräfte verleihen, als eine Massenniederlegung der Arbeit aus eigenem Willen. Was könnte den ewigen Sklaven der Fabrik und der Werkstätte besseren Mut verleihen, als die Musterung ihrer eigenen Truppen? So wurde auch der Gedanke der proletarischen Feier sehr schnell angenommen und begann sich aus Australien über andere Länder auszubreiten, bis er die ganze proletarische Welt eroberte.
Als erste folgten dem Beispiele der australischen Arbeiter die Amerikaner. Sie setzten im Jahre 1886 als Tag der allgemeinen Arbeitsruhe den 1. Mai fest. An diesem Tage verließen 200.000 von ihnen die Arbeit und forderten den achtstündigen Arbeitstag. Späterhin verhinderten die Regierungsverfolgungen die Arbeiter mehrere Jahre hindurch, diese Manifestation zu wiederholen. Im Jahre 1888 erneuerten sie jedoch ihren Beschluß und bestimmten für die nächste Feier den 1. Mai des Jahres 1890.
»Solange der Kampf der Arbeiter gegen die Bourgeoisie und die Regierung währen wird, solange noch nicht alle Forderungen erfüllt sein werden, wird die Maifeier der alljährliche Ausdruck dieser Forderungen sein.«
Inzwischen hatte sich die Arbeiterbewegung in Europa mächtig entwickelt und belebt. Ihren gewaltigen Ausdruck fand diese Bewegung durch den internationalen Arbeiterkongreß im Jahre 1889. Auf diesem Kongreß, der 400 Delegierte versammelte, wurde beschlossen, in erster Linie den achtstündigen Arbeitstag zu fordern. Worauf der Delegierte der französischen Gewerkschaften, der Arbeiter Lavigne aus Bordeaux, den Antrag stellte, man möge in allen Ländern diese Forderung durch einen allgemeinen Arbeiterfeiertag zum Ausdruck bringen. Da der Delegierte der amerikanischen Arbeiter die Aufmerksamkeit auf den gleichen Beschluß seiner Genossen in bezug auf den 1. Mai 1890 richtete, so setzte der Kongreß das Datum für den allgemeinen proletarischen Feiertag auf denselben Tag fest.
Die Arbeiter dachten eigentlich auch in diesem Falle, wie vor dreißig Jahren in Australien, lediglich an eine einmalige Manifestation. Der Kongreß beschloß, daß die Arbeiter aller Länder mit der Forderung des achtstündigen Arbeitstages am 1. Mai 1890 gemeinsam demonstrieren. Von einer Wiederholung der Feier in den darauffolgenden Jahren war nicht die Rede. Niemand konnte natürlich voraussehen, wie glänzend die Ausführung dieses Gedankens gelingen werde und wie schnell sich dieser unter der Arbeiterklasse einbürgern werde. Es genügte jedoch, einmal die Maifeier im Jahre 1890 zu begehen, damit jeder sofort begriff und fühlte, die Maifeier müsse eine alljährliche und ständige Einrichtung sein.
Der 1. Mai verkündet die Losung des achtstündigen Arbeitstages. Aber auch nach der Erlangung dieses Zieles wird die Maifeier nicht aufgegeben. Solange der Kampf der Arbeiter gegen die Bourgeoisie und die Regierung währen wird, solange noch nicht alle Forderungen erfüllt sein werden, wird die Maifeier der alljährliche Ausdruck dieser Forderungen sein. Wenn aber bessere Zeiten dämmern werden und die Arbeiterklasse ihre Erlösung in der gesamten Welt erlangt haben wird, auch dann wird wahrscheinlich, zum Gedenken an die ausgefochtenen Kämpfe und an die erlittenen Leiden, die Menschheit den 1. Mai festlich begehen.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich 1894 in der polnischen Zeitschrift Sprawa Robotnicza (»Arbeitersache«) und wurde 1928 abgedruckt im Band 4 von Rosa Luxemburgs Gesammelten Werken, Gewerkschaftskampf und Massenstreik, bearbeitet von Paul Frölich und herausgegeben von Clara Zetkin und Adolf Warski.