08. März 2021
Auf RTL 2 erhalten Obdachlose 10.000 Euro, um sich aus der Straßenexistenz »herauszukämpfen«. Was als Charity daherkommt, ist brutale Ideologie.
Meme: Andy King
Der Moderator Tim Niedernolte hat ein Ziel. In einem humanitären Experiment will er endgültig »beweisen«, dass man es mit 10.000 Euro und einem eisernen Willen aus der Obdachlosigkeit schaffen kann. Im Rahmen des Berlin Projekts hat er daher in sieben Betroffene »investiert« und sie dabei ganz »ernst und echt genommen«. »Gibt es einen Haken?« fragt die 39-jährige Evi, als sie von dem Geld erfährt. »Der einzige Haken bist Du«, antwortet Niedernolte.
Schon das Intro zu dieser neuen Reality-TV-Serie erzeugt mit seiner Fluch-der-Karibik-Melodie eine ganz abenteuerliche Stimmung – RTL 2 bietet seinem warm gebetteten Publikum existenziellen Nervenkitzel: Werden Marcus, Sascha und die anderen es schaffen, die kalte Hölle der Straßen von Berlin hinter sich zu lassen, oder sind sie aufgrund ihrer harten Vergangenheit dazu verdammt, dort zu verrecken? Schwere Schicksalschläge haben sie natürlich alle erlebt – und so suhlt sich die Serie ausgiebig in den Leidensgeschichten ihrer Protagonisten. Uns Chipskauenden geht da schnell ein Licht auf: Klar, Obdachlosigkeit muss eine natürliche Folge von Misshandlung, kaputten Familienverhältnissen und Drogenabhängigkeit sein. Ausbrechen kann nur, wer durch stählerne Selbstdisziplin Sucht und Traumata überwindet.
Genauso sehen das Tim Niedernolte, RTL 2 und der deutsche Staat: Die zahlreichen »Abenteuer«, die die Obdachlosen auf ihrem Weg zu einer eigenen Wohnung vor laufender Kamera bestehen müssen – vom kalten Entzug bis zur Schuldenberatung – entsprechen dem real existierenden Stufenplanmodell, das in vielen deutschen Städten angewendet wird. Betroffene müssen sich dabei einen sozialen Träger suchen, Auflagen von zahlreichen Ämtern erfüllen, Therapien beginnen – und können dabei meist nur in Notunterkünften unterkommen, die alles andere als ein Rückzugsraum sind.
Bevor Obdachlosen in Deutschland durch staatliche Unterstützung ein sicheres Zuhause gewährt wird, müssen sie also erst »wohnfähig« gemacht werden: Wer auf der Straße gelandet ist, muss zunächst einmal beweisen, dass er würdig ist, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. In einer denkwürdigen Szene – Evi steht bei winterlichen Temperaturen vor ihrem Zelt – bringt die Obdachlose die Absurdität des Stufenplanmodells auf den Punkt: »Morgen haben wir Schnee, Bodenfrost – und ich soll irgendwelche Termine mit der Psychotherapeutin einhalten.«
Doch davon will Niedernolte nichts wissen. Er ist schwer enttäuscht, als Evi – die immer wieder andeutet, hoch verschuldet zu sein – aus dem Berlin Projekt aussteigt. Anstatt »sich anzustrengen«, die Termine einzuhalten und einen Alkoholentzug bei einer sektenmäßig anmutenden Selbsthilfegemeinschaft zu machen, sucht sie die Schuld »in der Gesellschaft«, wie der Moderator uns ganz entsetzt mitteilt. Dass sie Recht haben könnte, dass es also eine politische Entscheidung ist, ob man günstige Wohnungen baut und Notleidenden zur Verfügung stellt, damit sie ihr Leben neu ordnen, ist für Niedernolte ausgeschlossen.
»Ich habe mir die Regeln in Deutschland auch nicht ausgesucht«
Die Momente, in denen man im Berlin Projekt tatsächlich etwas über den Wahnsinn der derzeitigen Sozialpolitik erfährt, sind zwar rar, aber es gibt sie: Besonders beeindruckt ist Niedernolte von Ralph. Der ehemalige Matrose ist dem Moderator zufolge »ein echter Macher«, hat einen Job in einer Hilfseinrichtung (ebenfalls für Obdachlose) und geht samstags zum Fußballschauen in seine Stammkneipe. Ein fast normales Leben (keine Suchtprobleme, keine offensichtlichen Traumata) – wenn der 58-Jährige nicht im Park übernachten müsste.
Warum er in dieser Situation steckt, erklärt Ralph dann sehr klar. Als Hartz-4-Empfänger darf er sich nicht besonders viel dazu verdienen. Seinen Job als Koch macht er ehrenamtlich, weil ihm das geringe Gehalt sonst von seinen knapp 400 Euro Hartz abgezogen würde. Die Folge: Ralph arbeitet full-time für eine kleine Aufwandsentschädigung von 100 Euro und hat monatlich dann insgesamt knapp 500 Euro zum Leben. So ist es ihm – mit seiner jetzigen Arbeit – durch die Verrechnungslogik des Jobcenters strukturell unmöglich, eine normale Wohnung zu finden.
Niedernolte macht zwar große Augen, aber auf solche realpolitischen Abgründe geht der Privatsender natürlich nicht weiter ein. »Ich habe mir die Regeln in Deutschland auch nicht ausgesucht«, sagt der Moderator einmal. Dass es aber genau diese Regeln sind, die dafür sorgen, dass Menschen in einer wohlhabenden Gesellschaft auf der Straße leben müssen, verschleiert Das Berlin Projekt vollkommen.
Die Ursachen von Obdachlosigkeit sind weder psychologische Traumata noch Drogensucht, sondern eine verfehlte Sozialpolitik, ein entfesselter Wohnungsmarkt und der daraus resultierende Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Vermeintlich ideologiefrei schaut RTL 2 auf die Einzelschicksale von Betroffenen, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang zu thematisieren, in dem sie stehen. Das ist das Gegenteil von Hilfe. Damit verewigt Das Berlin Projekt die Gewalt der sozialen Verhältnisse.
Matthias Ubl ist Contributing Editor bei Jacobin.