31. Januar 2023
Befürworter der Panzerlieferungen beschwichtigen die Ängste vor einer Ausweitung des Krieges. Was sie verschweigen: Ob Putin seine Eskalationsdominanz ausspielt oder nicht, kann niemand vorhersehen.
Olaf Scholz vor Leopard-Panzer bei einem Bundeswehr-Besuch, Lüneburger Heide, 17. Oktober 2022.
IMAGO / Sven EckelkampWenige Stunden nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz dem Druck aus den USA, den teilweise kampagnenhaften Mainstream-Medien und den bürgerlichen Parteien – Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/CSU – nachgegeben hatte, stellte der Ex-Botschafter und nunmehr stellvertretende Außenminister der Ukraine, Andrij Melnyk, in der Welt fest: »Ein Sieg ohne Luftwaffe ist kaum vorstellbar.« Währenddessen bedankte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij für die Lieferung der Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 aus Deutschland und knüpfte dies sogleich an die Forderungen nach Kampfflugzeugen und Langstreckenraketen.
An die jüngste Entscheidung, Leopard-Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, schließt sich also direkt eine Debatte um die Lieferung von Kampfflugzeugen an – so wie schon die Entscheidung zur Lieferung von 5.000 Militärhelmen im Januar 2022 der Entscheidung zur Lieferung von Gepard-Flugabwehrpanzern (Ende April 2022) und der Lieferung von Panzerhaubitzen 2000 (Anfang Mai) den Weg bereitete, woraufhin wiederum die Entscheidung für die Lieferung von Schützenpanzern des Typs Marder (Januar 2023) folgte, die nach Angaben der Bundeswehr der Bekämpfung »feindlicher Infanterie […] mittels Panzerabwehrwaffen« dienen.
Wenige Stunden, nachdem die Forderung nach Kampfjets und Langstreckenraketen kursierte, wurde diese vom neuen Chef der regierungsnahen Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, aufgriffen und unterstützt. In der ARD-Sendung Europamagazin sagte er: »Ich glaube, dass die Lieferung von Kampfjets adäquat ist, um die Ukraine besser zu schützen gegen die Angriffe der Russen.« Um Einwände kritischer Stimmen, die vor einer zunehmend aktiven Kriegsbeteiligung Deutschlands und einem direkten Krieg zwischen NATO und Russland warnen, auszubremsen, schob Heusgen beschwichtigend hinterher, dass alles vom Völkerrecht gedeckt sei.
Indes sorgte die grüne Außenministerin Annalena Baerbock mit einem neuen Video für Aufsehen, in dem sie im Europarat in Straßburg, dem Russland bis zum Beginn des Ukrainekriegs noch angehörte, den Satz äußerte: »Wir führen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander«. Dies intensivierte Befürchtungen, der Ukrainekrieg könnte von einem Stellvertreterkrieg mit NATO-Beteiligung im Westen und iranischer Beteiligung im Osten nun zu einem direkten Krieg mit Russland ausgeweitet werden – also einem atomar geführten Dritten Weltkrieg.
Der CDU-Sicherheitsexperte Roderich Kiesewetter suchte die Wogen zu glätten, als er auf Twitter betonte: »Wir [Europa, Deutschland]« seien »Kriegsziel, aber nicht Kriegspartei«. Wer Baerbock »eine böse Absicht« unterstelle, nähre nur »das russische Narrativ und die russische Desinformationskampagne«. Man stelle sich »gemeinsam gegen [den] v[ölker]r[echts]widrigen Angriffskrieg Russlands«. Der Politologe Johannes Varwick, der den Westen auf einer »Rutschbahn« in eine direkte Kriegsbeteiligung sieht, fragte zugleich, was eigentlich die »roten Haltelinien« der Waffenlieferungen seien, welche »Tabus« zukünftig noch fallen könnten und was eigentlich die militärischen Ziele der Lieferungen seien.
Tatsächlich werden den ukrainischen Streitkräfte durch den hohen Blutzoll perspektivisch die Soldaten ausgehen, die das westliche Kriegsgerät bedienen können (zusätzlich zu denen, die das dann womöglich auch nicht mehr wollen). Aus militärstrategischer Perspektive könnte das irgendwann die Frage nach NATO-Truppen nach sich ziehen. Schon nach dem russischen Kriegsverbrechen von Butscha, das Anfang April bekannt wurde, rüttelten einige an diesem Tabu, darunter nicht nur gefährlich ahnungslose Journalistinnen und Journalisten wie Anna Schneider von der Welt, sondern auch der polnische Staatschef Andrzej Duda. Der konservative Oppositionsführer Deutschlands, Friedrich Merz, hatte ein Eingreifen der NATO sogar schon wenige Tage nach Kriegsbeginn ins Spiel gebracht und dies nach Butscha wiederholt.
Die allermeisten Befürworterinnen machen es sich leicht, da sie ihre Haltung nicht mit militärstrategischen, sondern moralischen Argumenten rechtfertigen. Auch Bundeskanzler Scholz konnte in seiner Regierungserklärung keine neuen militärstrategischen Gründe für seine Kehrtwende anführen. Ebenso wenig diskutieren die allermeisten Befürworter den Ukrainekrieg in Bezug auf Strategien, die das Blutvergießen beenden und eine weitere Eskalation verhindern könnten. Allzu oft dominiert Moral, nicht Realismus. Putin müsse mit allen Mitteln aus der Ukraine vertrieben werden, damit der Überfall nicht belohnt werde und das Beispiel keine Schule mache.
Wer es aber mit der Solidarität und Verantwortung für die Menschen in der Ukraine und insbesondere für die zivile Bevölkerung an den Hauptkampflinien im Osten des Landes ernst meint, der muss diese Fragen stellen und realistisch beantworten; der muss die Risiken, Dilemmata und auch mögliche unintendierte Konsequenzen des eigenen Handelns benennen, abwägen und vor diesem Hintergrund rechtfertigen. Die ukrainische Zivilbevölkerung darf nicht zum Bauernopfer einer leichtfertig das Wort geredeten Eskalation werden.
Wie weit weg von einer ernsthaften Auseinandersetzung und realistischen Einschätzung des Krieges signifikante Teile der enthusiastischsten Waffenlieferanten entfernt sind, konnte man in den sozialen Medien beobachten, wo die sicherheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, Sara Nanni, in einem mittlerweile gelöschten Tweet forderte: »Free the leopards! Just do it!«, und nach der Entscheidung nachschob: »Endlich!«, »Jetzt geht es los«. Ihre Parteigenossin Katrin Göring-Eckardt kommentierte die Entscheidung mit den Worten: »The #Leopard’s freed! Jetzt kann er hoffentlich schnell der Ukraine bei ihrem Kampf gegen den russischen Angriff und für die Freiheit der Ukraine und Europas helfen.« Krieg als Werbeslogan und Bierzeltschlager, Tötungsmaschinen als Tierparkbewohner.
Eine seltene Ausnahme ist Konrad Schuller, der die Position der Kritiker und Skeptikerinnen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung wenigstens teilweise aufgegriffen hat, um sie zu widerlegen. Viele prominente Stimmen, wie auch der medienaffine Politikwissenschaftler Sönke Neitzel, beschwichtigen, dass die Waffen kein »game changer« seien und nicht den von den USA und der ukrainischen Regierung offen erklärten Kriegszielen dienen würden – also der Eroberung der von Russland unterstützten abtrünnigen »Volksrepubliken« im Donbass und der Krim-Halbinsel, Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte –, sondern bloß der Verteidigung gegen eine bevorstehende russische Frühjahrsoffensive. Schuller räumt hingegen ein, dass die schultergestützten US-amerikanischen Luftabwehrraketen vom Typ Javelin ihren Eigenschaften nach die eigentlichen Verteidigungswaffen seien, mit denen es den ukrainischen Streitkräften effektiv gelungen sei, den russischen Vorstoß auf Kiew zu stoppen. Die unzähligen ausgebrannten Panzerfahrzeuge der russischen Armee würden als Kadaver an den Straßenrändern der Ukraine die Wirksamkeit und Relevanz der Javelins bezeugen.
Schuller weist implizit daraufhin, dass die vom grünen Parteivorsitzenden Omid Nouripour bis zu Roderich Kiesewetter oft zu hörende Beschwichtigung, man könne Offensivwaffen nicht von Defensivwaffen unterscheiden, problematisch sei angesichts der besonderen Fähigkeiten der deutschen Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 als auch der US-amerikanischen vom Typ Abrams (deren Lieferung Scholz zeitweilig zur Bedingung für die deutschen Lieferungen gemacht haben soll). Sie können mit 70 Stundenkilometer vorpreschen und bei voller Fahrt punktgenau Ziele in drei Kilometer Entfernung treffen, lange bevor feindliche Truppen sie überhaupt wahrnehmen können. Entsprechend hatte auch Selenskij vorauseilend betont, die Leopard- oder Abrams-Panzer würden jetzt nicht schon in Kürze »durch die Russische Föderation fahren. Wir verteidigen uns«.
Schuller benennt nun auch das realistische Szenario einer Eskalation des Krieges auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung und über die Grenzen der Ukraine hinaus – auch hier wiederum, um es zu widerlegen. Er schreibt: Die Gegner von Kampfpanzerlieferungen würden kritisieren, dass niemand garantieren könne, dass die Ukraine diese Waffen nur zur Abwehr einsetzt. »Wenn sie zu stark werde, könne sie versuchen, Russland nicht nur von weiteren Eroberungen abzuhalten, sondern den Besatzer auch aus den Städten und Landschaften zu vertreiben, die er schon erobert hat. Von der Krim zum Beispiel oder aus dem Donbass«, meint Schuller.
Da Putins Herrschaft jedoch auf Sieg beruhe und die Angst seiner Kritikerinnen und Kritiker »ohne die Aura der Unüberwindlichkeit« schwinde, müsse er – um seine Macht zu retten – alles daran setzen, um zu verhindern, dass die Ukraine ihm seine Eroberungen wieder streitig machen könne. Vor diesem Hintergrund sei nicht auszuschließen, dass Putin die Schwelle einer atomaren Eskalation überschreite. Diese von Schuller referierte Haltung ist nicht die einzige denkbare Position gegen die Waffenlieferungen, aber eine wichtige. Schuller ist ehrlich, weil er implizit einräumt, dass Putin immer noch die Eskalationsdominanz innehat und es auch von Putin abhängt, ob und ab wann er die zunehmende Involvierung der USA, Deutschlands und der anderen NATO-Staaten in Gestalt der Sanktionen und Waffenlieferungen für eine aktive Kriegsbeteiligung hält, die damit zum Kriegsziel für Vergeltungsschläge werden könnten.
Dass Russland bereit ist, seine Eskalationsdominanz zu nutzen, hat die Zerstörung der Energie- und Wasserversorgung bereits gezeigt. Mitten im ukrainischen Winter ist sie ein fürchterliches Kriegsverbrechen, das allerdings angekündigt wurde und der ukrainischen Regierung und den westlichen Mächte wohl signalisieren sollte, zu was die russischen Streitkräfte fähig sind. Die russische Regierung hat bereits damit gewarnt, im Falle einer drohenden Niederlage auch Atomwaffen einzusetzen, was wiederum auch vom Westen – trotz der Warnungen vor einem »nuklearen Armageddon« – teilweise mit der Drohung, selbst Atomwaffen einsetzen zu können, gekontert wurde.
Gerade die schon längst erfolgte Eskalation seitens der Atommacht Russland führt jedoch im Regelfall zu einem moralischen Argument, das auf den nachvollziehbaren Wunsch einer Bestrafung hinausläuft: Der »Faschist« im Kreml dürfe mit seinem Angriffskrieg nicht durchkommen. Er müsse mit allen Mitteln der militärischen Macht in die Knie gezwungen und dann für seine Verbrechen, wenn schon nicht am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, dann zumindest durch ein internationales Sondergericht verurteilt werden, wie es die Außenministerin Annalena Baerbock Mitte Januar gefordert hat.
Sicherlich wäre dies in einer idealen Welt wünschenswert. Kriegsverbrechen einzelner Soldaten und auch die Kommandeure von mit Kriegslügen völkerrechtswidrig vom Zaun gebrochenen Angriffskriegen sähe man gerne bestraft. Der russische Krieg ist ein solcher Krieg. Wie beim Gang ins Kino wollen wir den Bösewicht und Übeltäter bestraft sehen. Aber die reale Welt ist leider kein Film. Abstrakte Wünsche sind wohlfeil. Sie sind zumeist leider auch unrealistisch und nicht selten sogar kindisch. Emotionale Reaktionen sind nachvollziehbar. Sie sind aber weltgeschichtlich brandgefährlich, und sollten in einer Welt der Atomwaffen und in einem Krieg, der heute schon Zehntausende ukrainische Opfer gefordert hat, nicht das Handeln anleiten.
Die in der Regel ausgeblendete Schwachstelle der – mehr oder weniger moralisch daherkommenden – Argumentationen für die Lieferung von Kampfpanzern ist also nun, dass Russland weiterhin die Eskalationsdominanz besitzt. Keiner der Befürworter von immer neuen Waffenlieferungen kann ausschließen, dass Putin thermobare Waffen, chemische Waffen und taktische Atomwaffen Waffen zum Einsatz bringen wird, wenn er sich in seinem kolportierten »Schicksalskrieg« in die Defensive gedrängt sieht. Wenn diese Waffen zum Einsatz kämen, würden nicht Zehntausende Ukrainerinnen und Ukrainer in diesem Krieg getötet, sondern womöglich Hunderttausende oder Millionen.
Allein die russische Eskalation durch die Infrastrukturzerstörungen werden die Zahl der Zivilopfer in grausame Höhen steigen lassen. Die Beispiele hierfür liefern die Zerstörungen der Infrastruktur für Energie, Wasser und Verkehr im Zweiten Golfkrieg 1990 und im Irakkrieg 2003 durch die USA und – mit deutscher Beteiligung – durch die NATO im Jugoslawienkrieg 1999. Die prioritäre Aufgabe der Politik ist es, alles zu unternehmen, um das fürchterliche Blutvergießen so schnell wie möglich zu beenden und weiteres zu verhindern, alles zu versuchen, um einen Waffenstillstand und dann eine Friedenslösung zu vermitteln. Die Befürworterinnen und Befürworter der Lieferung von Kampfpanzern spielen dagegen nichts Anderes als russisches Roulette mit der Ukraine und ihrer Bevölkerung.
In breiten Teilen der Meinungsproduktion zeigt sich eine bemerkenswerte kognitive Dissonanz: Man hält Putin für einen völkisch argumentierenden, großrussisch-nationalistischen Faschisten, der die Ukraine als »Kleinrussland« erachtet und auslöschen möchte.
Von Schuller bis Sara Nanni ist man sich einig, dass nicht ökonomische und geopolitische oder nach innen gerichtete Erwägungen des Machterhalts, geschweige denn legitime Sicherheitsinteressen den russischen Krieg motivierten, sondern dass irrationale Ideologie den Diktatoren Putin antreibe. Die Kriegsverbrechen von Butscha, Mariupol und Isjum seien nicht das Ergebnis einer allgemeinen militärischen Logik, sondern würden – nach dem Vorbild des Holocausts – durch einen ideologisch getriebenen und staatlich-behördlich orchestrierten, intentionalen Vernichtungswillen angeleitet.
Nun ist es so, dass Krieg nicht ohne Kriegsverbrechen zu denken ist. Wenn man 18- bis 20-Jährige in einen Krieg schickt, wenn man sie der ständigen Todesgefahr und Angst aussetzt, wenn man exklusive männliche Räume schafft, in denen toxische Männlichkeit sich potenziert und auch Vergewaltigungsfantasien unwidersprochen bleiben mögen oder gar beklatscht werden, dann ist es die grausame Realität des Krieges, dass sich diese bewaffneten Männer gewaltsam nehmen, was sie vom Leben erwarten. Es gibt keine sauberen Kriege. Krieg ist nie ohne sexualisierte Gewalt zu denken, zumal wenn die Soldaten glauben, damit davonkommen zu können – sei es, weil ihre Handlungen straffrei bleiben, so wie im Zweiten Weltkrieg bei der Wehrmacht im deutschen Vernichtungskrieg im Osten; sei es, weil sich so viele Soldaten schuldig und ihre Kameraden zu Mitwissern machen; sei es, weil die Verbrechen ungesühnt bleiben, wie in den allermeisten Fällen sexualisierter Gewalt durch die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Hinzu kommt: Wenn man, so wie die USA im Irakkrieg 2003 oder die russische Staatsführung im Ukrainekrieg, den Soldaten erzählt, dass man sie nicht als Invasoren, sondern als Befreier begrüßen werde, die nachrückenden Truppen bei der Errichtung von Besatzungsmacht- und Zivilverwaltungsstrukturen in den eroberten Gebieten sich plötzlich aber in einem (asymmetrischen) Partisanenkrieg wiederfinden, dann gehört es auch zur grausamen Realität des Krieges, dass sie im Umkehrschluss mit äußerster Brutalität gegen Zivilisten vorgehen, die sie für Unterstützer dieser »asymmetrischen Kriegführung« halten. Auch werden die fürchterlichsten Kriegsverbrechen gegen Zivilisten als Maßnahme der Einschüchterung oder Rache für – zwangsläufig – aus dem Hinterhalt getötete Kameraden begangen. Schuller, Nanni und Co. reden jedoch stets – ohne hierfür stichhaltige Belege jenseits der Putin-Rede zu liefern – einer systematischen ideologisch motivierten Vernichtung das Wort. In diesen Argumentationen geht es also nicht um die Funktionalität des Tötens, sondern um die Intentionalität.
Es geht nicht um Herrschaftslogik, sondern um Vernichtungswillen. Alles spreche dafür, schreibt auch Schuller, »dass [Putin] wirklich glaubt, was er schreibt. Wie viele große Diktatoren vor ihm ist er identisch mit seiner Ideologie. Sein Ziel ist nicht, der Ukraine dieses oder jenes Stückchen Land abzunehmen, um durch kleine Siege bis zum Ende seiner Tage herrschen zu können. Er will die Ukraine weghaben«.
Diese Argumentationen folgen dabei bewusst oder unbewusst einem Ziel: Nahegelegt wird damit, dass Putin ein Wiedergänger von Hitler ist. Manchmal ist das Subtext, gerade in den sozialen Medien ist es aber expliziert. Die Insinuierung, dass die Kriegsverbrechen von Butscha einer staatlich organisierten, intentionalen Vernichtungslogik folgten, die sich gegen das gesamte ukrainische Volk richtet und dieses auch physisch auslöschen wolle, läuft am Ende des Tages also auf die Gleichungen hinaus, Putin sei Hitler und Butscha sei Auschwitz, Treblinka, Majdanek. Der Hashtag #Putler wurde hierfür extra erfunden. Berthold Kohler schrieb in der Frankfurter Allgemeine Zeitung sogar schon am 24. März 2022 vom russischen »Vernichtungskrieg«, also sogar schon vor Bekanntwerden des russischen Kriegsverbrechens in Butscha im April.
Sind die Hitler- und Auschwitzassoziationen erst einmal heraufbeschworen, braucht es keine stichhaltigen Argumente mehr. Die Anrufung des barbarischen Grauens von Auschwitz ist das Argument selbst. Mit ihr lässt sich jedes Gegenargument ohne eigene nachvollziehbare Begründung aushebeln. Halfen gegen Hitler schließlich nicht auch nur Waffen?
Gewalt sei die einzige Sprache, die Putin verstehe, tönt es entsprechend landauf, landab. Sogar die für ihre Politik massiv unter Druck geratene Altkanzlerin Angela Merkel sah sich Ende Dezember zu dieser Aussage genötigt. Deshalb sei es, schreibt auch Konrad Schuller, »fahrlässig zu glauben, dass Putin einfach nur deshalb schon Frieden geben« werde, »weil der Westen der Ukraine keine Panzer gibt. Im Gegenteil. Zögerlichkeit« signalisiere »ihm nur, dass er seinen Auslöschungsplan ohne Risiko weiter vorantreiben« könne. Der Focus beschwichtigte: Eigentlich sei die Lieferung von Kampfpanzern ein wesentlicher Beitrag zu einer Verhandlungslösung, weil nun »die Ukraine die Chance« habe, »von den Russen besetzte Gebiete zurückzuerobern«. Eine Kriegsniederlage vor Augen solle Putin nun also so einsichtig sein, einer Verhandlungslösung zuzustimmen, bevor die Kampfpanzerlieferungen tatsächlich in der Ukraine angelangen.
Wer aber Verhandlungen fordere, sei dagegen ein Wiedergänger Neville Chamberlains und der Appeasement-Politik, die im Rahmen des Münchner Abkommens von 1938 »lumpen-« oder »unterwerfungspazifistisch« das Sudetenland und Österreich Nazideutschland überließ und damit nur Hitlers Eroberungswillen gestärkt habe, weil dieser – wie Putin – den damaligen Westen für schwach gehalten und geglaubt habe, nun auch in Polen weitermachen zu können.
Die raunenden Hitler-, Vernichtungskrieg- und Auschwitz-Vergleiche sind indes nicht nur die krassesten, schrillsten und geschichtspolitisch brisantesten Relativierungen des deutschen Vernichtungskriegs und der Singularität des Holocausts, zu der sich vor dem 24. Februar 2022 wohl nur die allerwenigsten geschichtsrevisionistischen Rechtsextremen und Neonazis in Deutschland hätten hinreißen lassen. Sie sind auch von einer bemerkenswerten kognitiven Dissonanz gekennzeichnet.
Der blinde Fleck dieser Argumentationen ist, dass man Putin eine irrationale Ideologiegetriebenheit unterstellt, die an den »verrückten Diktator Hitler« erinnere, aber zugleich auf die Vernunft und den Rationalismus Putins vertraut, sobald das Risiko einer Eskalation des Ukrainekrieges und des Einsatzes von Atomwaffen auch nur erwähnt wird. Der blufft nur! Die neue deutsche Außenpolitik müsse, so etwa Toni Hofreiter, künftig »mit dem Colt auf dem Tisch« agieren, auch gegen China, und den 1,4 Milliarden dort lebenden Menschen den Hungertod androhen, bis sie endlich ihre seltenen Erden rausrücken.
Die mit Verweis auf Putins gefährlich irrationale völkische Ideologie argumentierenden Befürworter der Waffenlieferungen tun dies dabei nicht nur in völliger Ignoranz der Entwicklung der Auschwitz-Forschung in der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der Intentionalismus/Funktionalismus-Debatte über den Holocaust im Besonderen. Sie ignorieren auch, dass die von der Mehrheit der Historikerinnen und Historiker heute abgelehnte idealistische, vor allem auf Ideologie und Diskurs fokussierte Faschismus- und Holocaustinterpretation, auf die sie implizit oder explizit rekurrieren, davon ausgeht, dass Hitler sich in einem »Schicksalskampf« mit dem Bolschewismus wähnte und erklärte, dass das deutsche Volk in diesem entweder siegen oder ansonsten gemeinsam mit ihm und der Nazi-Staatsführung unterzugehen verdiene; dass also Ideologiegetriebenheit Hitler so irrational gemacht habe, dass er einen für Deutschland nach den Niederlagen in Stalingrad und am Kursker Bogen längst verlorenen Krieg fortsetzte, auch wenn dies erkennbar und zwangsläufig das Ende seiner Macht, das Ende seines Lebens und die Zerstörung Deutschlands bei Hunderttausenden weitere toten Deutschen und Deutschlands totalen Souveränitätsverlust zur Folge haben würde. Sie ignorieren, dass Hitler im Angesicht der drohenden militärischen Niederlage seinen Goebbels den »totalen Krieg« erklären ließ, die Forschung an der atomaren Wunderwaffe forcierte und Atomwaffen auch gegen die Alliierten zum Einsatz gebracht hätte, wenn er rechtzeitig, wie heute Putin, über dieses Mittel der Eskalationsdominanz verfügt hätte.
»Unfassbare Nonchalance« im Umgang mit einem atomaren Dritten Weltkrieg nannte dies vor einiger Zeit der Bundeswehr-Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser. Wer sich jetzt für die Waffenlieferungen positioniert und die Sprache der weiteren militärischen Eskalation spricht, der sollte wenigstens konsistent argumentieren und sich entscheiden: Ist Putin nun »der Irre in Moskau« oder doch der militärstrategisch rational abwägende Machtpolitiker? Er sollte klar definieren, welchen militärischen Sinn und Zweck die Lieferung spezifischer Waffensysteme haben, nicht zuletzt, weil Waffenlieferungen ohne eine Friedensperspektive nach Einschätzung von Harald Kujat, Brigadegeneral der Luftwaffe a.D. und Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, auch gegen das strikte Friedensgebot im deutschen Grundgesetz verstoßen. Und schließlich sollte er gezwungen sein, die eigenen roten Haltelinien zu benennen: Sind es Kampfflugzeuge? NATO-Truppen? Wer dies nicht tut, spielt mit der ukrainischen Bevölkerung, ja auch mit der Weltbevölkerung, notgedrungen russisches Roulette, weil niemand eben zu hundert Prozent ausschließen kann, dass Putin seine Eskalationsdominanz nicht auch bis aufs Letzte ausspielt. So wie er es mit dem Kriegsverbrechen der Infrastrukturzerstörung längst bewiesen hat.
Ingar Solty ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.