24. August 2024
Seit dem Überfall auf die Ukraine beschwören russische Propagandisten verstärkt die sowjetische Vergangenheit. Warum diese Glorifizierung nichts mit Kommunismus zu tun hat, erklärt der Oppositionelle Armen Aramyan im Interview.
Ein sowjetischer T-34-85-Panzer fährt über den Roten Platz in Moskau während einer Militärparade am Tag des Sieges, 9. Mai 2024.
Wladimir Putin regiert Russland seit über zwei Jahrzehnten und scheint dies so lange machen zu wollen, wie er körperlich dazu in der Lage ist. Seit Boris Jelzin in der Silvesternacht 1999 von der russischen Präsidentschaft zurücktrat, hat Putin Russland aus der sozialen und wirtschaftlichen Krise der 1990er Jahre herausgeführt und genießt deshalb in breiten Teilen der Gesellschaft nach wie vor Unterstützung. Dabei hat er jedoch einen autoritären Staat gefestigt, der immer weniger Widerspruch duldete und jegliche seriöse Opposition mit allen Mitteln unterdrückte. Unabhängige politische Parteien gab es praktisch nicht mehr, während die Zensur und die Kontrolle über die Medien von Jahr zu Jahr zunahmen.
Seit dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 hat die politische Repression ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht: die letzten unabhängigen Medien wurde geschlossen, unzählige Oppositionelle verhaftet, Tausende weitere Personen sind ausgewandert. Über die von der Regierung ständig erweiterte Liste der »ausländischen Agenten« wurden die letzten öffentlichen Dissidentinnen und Dissidenten zum Schweigen gebracht, ins Exil geschickt oder inhaftiert. Politischer Protest ist unmöglich geworden.
Doch während die russische Öffentlichkeit mit aggressivem Nationalismus überflutet wird, hat der Krieg paradoxerweise auch zu einem Wiederaufleben sowjetischer Symbolik und Beschwörungen des sowjetischen Erbes geführt – was nicht wenige ausländische Beobachter zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass Putins Besetzung und Annexion eines Nachbarlandes Teil eines antiimperialistischen Kreuzzuges sei. Um die Konturen und Widersprüche der Staatsideologie in Putins Russland sowie das intellektuelle Umfeld, aus dem sie entstanden ist, besser zu verstehen, sprach JACOBIN mit Armen Aramyan, einem Mitbegründer des Dissidentenmagazins Doxa, der aus dem Land geflohen ist, nachdem er kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine zu Strafarbeit verurteilt wurde.
Armen, kannst Du Dich zu Beginn kurz vorstellen?
Als Student habe ich Doxa mitgegründet, eine basisdemokratische Online-Studierendenzeitung. Zunächst berichteten wir über Themen an unserer eigenen Universität, doch dann begannen wir, uns auch mit Themen an anderen Universitäten zu befassen, und heute sind wir eines der bekanntesten unabhängigen linken Medien in Russland.
Im April 2021 wurde ich zusammen mit drei weiteren Redakteurinnen und Redakteuren von Doxa verhaftet, weil wir ein Video zur Unterstützung von Studierenden veröffentlicht hatten, die wegen ihrer Teilnahme an pro-Alexei-Nawalny-Protesten Repressionen ausgesetzt waren. Wir unterstützten Nawalny als politischen Gefangenen, nicht unbedingt seine politischen Positionen, wurden aber dennoch verhaftet und unter Hausarrest gestellt.
Wie lange standest Du unter Hausarrest?
Letztendlich verbrachten wir ein Jahr im Hausarrest, währenddessen habe ich mich für ein Promotionsprogramm am University College London eingeschrieben. Die offizielle Anklage war wirklich absurd. Da die Proteste während der Pandemie stattfanden, behauptete der Staat, wir hätten die Studierenden dem Risiko ausgesetzt, sich mit Covid-19 zu infizieren.
»Nach Putins Ansicht werden alle Protestbewegungen in Russland vom Westen angestiftet. Es gibt keinen Platz für irgendeine Art von echter Opposition.«
In der Zwischenzeit begann im Februar 2022 die Invasion der Ukraine, und Doxa wurde nach einer Woche aufgrund unserer entschiedenen Anti-Kriegs-Haltung verboten. Im April 2022 wurden wir zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Wir legten Berufung ein, was uns ein Zeitfenster eröffnete, um aus dem Land zu fliehen. Es war kompliziert, da der Staat unsere Reisedokumente konfisziert hatte. Aber wir schafften es nach Armenien, wo wir deutsche Reisedokumente und humanitäre Visa erhielten. Drei von uns kamen damals nach Deutschland.
Wie war es, in Putins Russland Philosophie zu studieren?
Das Philosophiestudium an russischen Universitäten ist wirklich seltsam. Es gibt nur wenige Fakultäten, in denen Philosophie richtig gelehrt wird, und es gibt große Unterschiede zwischen ihnen. An der Higher School of Economics lag der Schwerpunkt hauptsächlich auf Logik und analytischer Philosophie.
Soziale und politische Philosophie kamen zu kurz. Wir haben zum Beispiel lediglich einmal das Kommunistische Manifest gelesen. Das war das Einzige aus der gesamten marxistischen Tradition, was wir je zu Gesicht bekamen. Es war nicht einmal Teil des Hauptcurriculums, sondern in einem Wahlfach. Ich habe gehört, dass Studierende der Kulturwissenschaften etwas Kritische Theorien lasen, wie Walter Benjamin und Texte der Frankfurter Schule, aber das Philosophieprogramm war völlig von radikalen Denkerinnen und Denkern gesäubert. Kritische Denkschulen wie Postkolonialismus oder Gender Studies sind sehr selten. Es gibt zwei oder drei Gender-Studies-Programme, aber sie stehen unter ständiger Bedrohung.
Ein wichtiger Kontext hier ist, dass die zu Sowjetzeiten bestehenden Universitätsfakultäten für Marxismus-Leninismus in den 1990er Jahren geschlossen und als politikwissenschaftliche oder philosophische Fakultäten neu gegründet wurden. Viele der Lehrkräfte wechselten einfach zu anderen Theorien, sozusagen von Stalin zu Ayn Rand. Das ist verständlich, denn in der Sowjetunion wurde Ideologie lediglich auf die symbolische Wiederholung der immer selben, staatlich genehmigten Thesen reduziert. Der kritische Aspekt des Marxismus wurde sehr marginalisiert. Daher reagierten viele Menschen, die sich in den 1990er und 2000er Jahren intellektuell entwickelten, allergisch auf diese Art von Diskurs und waren offen für alles außer Marxismus. Eine Reihe obskurer, eigenartiger Theorien wurde in den Sozialwissenschaften der 1990er und 2000er Jahren populär, weil es den Menschen einfach egal war.
Während meines Geschichtsstudiums in Deutschland hatte ich an der Universität einige Berührungspunkte mit marxistischen Texten, aber was mich wirklich politisiert hat, waren die Debatten mit anderen Linken in der Studierendenvertretung, wie dem AStA. Gibt es so etwas auch in Russland?
Formal gesehen ja, und es wird tatsächlich »Sowjet« oder »Rat der Studenten« genannt, aber es ist lediglich ein beratendes Organ, das den Studierenden bei administrativen Fragen hilft. An den meisten russischen Universitäten hat es nur eine Alibifunktion für Studierende, die der Verwaltung ohnehin nahe stehen und später eine Karriere im öffentlichen Sektor anstreben. Ich war ein halbes Jahr lang in einer Studierendenvertretung, und es war völliger Unsinn.
Also keine Lenin-Lesezirkel?
Nein, überhaupt keine Politik, nicht einmal das Eintreten für Rechte von Studierenden ist erlaubt – all das wird sofort unterbunden. An einigen Universitäten mit einer größeren Anzahl linker Studierender, insbesondere an der Staatlichen Universität Moskau, gab es Gruppen von Studierenden und Lehrkräften, die sich außerhalb der formalen Institutionen organisierten. Sie waren recht einflussreich, aber starben mit der Zeit aus. Heutzutage werden die meisten jungen Menschen in Russland durch unabhängige Wahlkampagnen wie die von Nawalny, Menschenrechtsorganisationen oder durch Medien politisiert.
»Lenin ist eine sehr problematische Figur für die russische Staatspropaganda.«
Die Universitäten wurden von politischen Diskussionen gesäubert, aber es gibt weiterhin Online-Communities und unabhängige Lesezirkel, sogenannte »Krushki«, die Marx und andere Denker lesen. Viele dieser Gruppen befinden sich in den Provinzen, nicht nur in Moskau oder Sankt Petersburg. Es gibt einige populäre linke Blogger, aber es gibt keine echte linke Partei. Es gab die Russische Sozialistische Bewegung, die einer demokratischen Linkspartei am nächsten kam, aber sie durfte nicht an formaler, institutioneller Politik teilnehmen und wurde im Mai dieses Jahres aufgelöst, nachdem sie in die Liste der »ausländischen Agenten« aufgenommen wurde. Ein weiteres Beispiel ist der Feministische Widerstand gegen den Krieg. Auch diese Gruppen sind wichtige Orte der Politisierung.
Einerseits wurden Marx und Lenin aus den Universitäten entfernt, aber gleichzeitig schwenken russische Institutionen und Führungspersönlichkeiten stolz die sowjetische Fahne und beschwören die sowjetische Vergangenheit. Wie lässt sich dieser scheinbare Widerspruch erklären?
Die Behörden auf allen Ebenen nutzen diese Symbole, aber alles, wofür sie stehen, ist ein starker Staat, nach dem Motto: »Die UdSSR war ein großartiger Staat mit einer glorreichen Geschichte, und wir sind auch ein großartiger Staat mit einer glorreichen Geschichte.« Alles Revolutionäre aus diesen Symbolen wurde ausgelöscht. In Moskau zum Beispiel sind viele U-Bahn-Stationen nach radikalen Denkern wie Peter Kropotkin benannt, aber ihre historische Bedeutung ist völlig verloren gegangen.
Verwendet Putin diese ideologischen Symbole aus Opportunismus oder glaubt er tatsächlich daran? Einige Marxistinnen und Marxisten beschreiben den Stalinismus als eine neue Art der Klassenherrschaft durch Apparatschiks, andere als degenerierten Sozialismus. Kann man den Putinismus als degenerierten Stalinismus betrachten? Er hat zumindest die Narrative der Agenten, Saboteure und Spione und eine konservative, unterdrückende Haltung gegenüber queeren Menschen und ethnischen Minderheiten übernommen und nutzt die starken Repressionsorgane eines autoritären Staates.
Das ist eine gute Frage. Ich denke, er übernimmt sicherlich viel aus Stalins Handbuch. Immerhin ist er ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter. Seine Vision der Welt ist auch sehr geopolitisch: Großmächte teilen die Welt unter sich auf, und Russland kann auch eine Großmacht sein. Um das zu erreichen, müssen wir zeigen, dass wir stark sind.
Nach Putins Ansicht werden alle Protestbewegungen in Russland vom Westen angestiftet. Es gibt keinen Platz für irgendeine Art von echter Opposition. Das war die Idee hinter der Einführung des Gesetzes über ausländische Agenten im Jahr 2012, das 2020 auf Einzelpersonen ausgeweitet wurde. Zuvor galt es nur für NGOs, die Zuschüsse von internationalen Geldgebern erhielten, aber jetzt ist es sehr einfach, als unter internationalem Einfluss stehend erklärt zu werden. So kann beispielsweise ein Professor, der an einer internationalen Konferenz teilnimmt, zum ausländischen Agenten erklärt werden.
Das impliziert auch, dass die »echten« Russen ein vereinter Block seien und jeder Dissens von außen initiiert werde. Es ist ein »Wir-gegen-die-anderen«-Denken.
Ja, definitiv. Besonders seit Beginn des Krieges hat das Narrativ des »ausländischen Agenten« dem politischen Diskurs in Russland erheblich geschadet. Viele Menschen, sogar in meinen eigenen Kreisen, haben angefangen, sich gegenseitig zu überwachen: »Oh, Du bekommst amerikanische Stipendien«, »Du bekommst europäische Stipendien« und so weiter. Das ist wirklich erschreckend. Diese Vorstellung von ausländischen Spionen und Agenten ist in Russland sehr einflussreich, selbst unter Menschen, die sich als Gegner Putins sehen.
»Alles Revolutionäre aus diesen Symbolen wurde ausgelöscht.«
Das ist etwas, das Kriege im Allgemeinen hervorrufen. Es gibt eine tatsächliche Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, und viele Russinnen und Russen empfinden Groll. Sie fühlen, dass sich niemand um sie kümmert, dass der Westen in Wirklichkeit gegen sie ist, wegen all der sinnlosen Sanktionen, die sich eher gegen russische Bürgerinnen und Bürger als gegen den russischen Staat oder seine Elite richten, wie etwa Visasperren. Der Westen hat die russische Bevölkerung wirklich in Putins Arme und in diese ganze Ideologie von Russland gegen den Westen getrieben, sodass selbst Gegnerinnen und Gegner Putins anfingen zu denken: »Okay, der Westen will uns auch nicht. Niemand mag uns, also können wir genauso gut zu Russland stehen.«
In der Sowjetunion genügte es nicht, nur die Flagge zu schwenken; man musste den Anschein erwecken, die marxistischen Klassiker tatsächlich auch auswendig zu kennen – obwohl der Stalinismus die marxistische Idee zu einer bloß positivistischen funktionalistischen Theorie der Staatsapologie verfälschte. Heute hat die Bedeutung der eigentlichen Ideologie abgenommen, selbst wenn Putin viele der Narrative und Techniken des Stalinismus übernommen hat. Es gibt zum Beispiel keine Lehrstühle für Marxismus-Leninismus mehr. Die Russen mögen noch immer die sowjetische Flagge schwenken, aber was hat die sowjetische Ideologie ersetzt? Oder ist die Farce der Bedeutung von Ideologie einfach einen Schritt weitergegangen, sodass man nun nicht einmal mehr eine Ideologie braucht, solange man ihre Symbole schwenkt?
Die russische Staatsideologie ist eine nationalistische Ideologie. Jede solche Ideologie behandelt die Nation als etwas Homogenes, das Zeit und Raum übersteigt, während in Wirklichkeit Nationen von Nationalstaaten selbst geformt werden. Das gilt auch für Russland, wo die Staatsideologie sich auf die glorreiche russische Geschichte konzentriert und Russland als dieses monolithische Gebilde darstellt.
In Russland hat die Geschichte – diese ideologische Idee einer großen russischen Nation – die Theorie ersetzt. Dies wird ergänzt durch sogenannte »traditionelle Werte«, die jedoch nicht wirklich etwas Konkretes darstellen, da unklar ist, welche traditionellen Werte gemeint sind und wessen Tradition überhaupt Wert hat. In gewisser Weise sind diese Ideen von der amerikanischen konservativen Rechten kopiert: Antifeminismus, Anti-LGBT, »Familienwerte«, all das Zeug. Das ist größtenteils künstlich, würde ich sagen. Es gibt Versuche, das mit dem orthodoxen Christentum zu verbinden, aber selbst das wirkt künstlich.
Ist Putin also sozusagen offen für alles, was funktioniert?
Ich denke, er glaubt wahrscheinlich an all das, was er über die russische Geschichte sagt, aber es ergibt keine kohärente Ideologie. Er hat keine Theorie oder Ideen, es ist einfach nur Nationalismus.
Das Problem hier ist die Konstruktion der Nation selbst, denn Russland war historisch gesehen ein Imperium, und es gibt immer noch viele ethnische und religiöse Minderheiten im Land. Russlands nationalistische Staatsideologie balanciert daher zwischen Nationalismus und einer Art Multinationalismus. Es gibt zwei verschiedene Wörter für das russische Volk in der russischen Sprache: »Rossijane«, was die nationale Identität der Russinnen und Russen bezeichnet, und »Russkije«, was sich auf die ethnische Identität bezieht. Es ist ein vages Konstrukt, da es schwierig ist zu sagen, dass Tataren, Tschetschenen oder Jakuten »Russkije« seien, da sie ethnisch nicht russisch oder gar slawisch sind. Daher verwendet der Staat eine andere Art von Nationalismus neben dem Ethnonationalismus, um all diese Menschen zusammenzubinden.
Das erinnert mich an ein Zitat des russischen Revolutionärs Alexander Herzen aus dem 19. Jahrhundert, der über Peter den Großen sagte, als er versuchte, das Land zu verwestlichen, ohne Ideen wie Freiheit und Demokratie zu importieren: »Seitdem ist das einzige Ziel des Zarismus der Zarismus.« Dasselbe könnte man über den Stalinismus sagen. Können wir heute sagen, dass das einzige Ziel des Putinismus Putin ist?
Ich bin mir nicht sicher, ob Putinismus jemals ohne Putin funktionieren könnte. Es gibt keine ideologischen Ziele, die über ihn hinausgehen, und es gibt nichts, was er ideologisch hinterlassen könnte. Er könnte vielleicht zu einer Kultfigur für eine nationalistische Minderheit werden, aber ich weiß nicht, was seine Idee von der Zukunft ist. Er kann politisch nur in der Gegenwart existieren. Er hat ein System aufgebaut, das ohne seine persönliche Herrschaft nicht nachhaltig ist.
»Russlands nationalistische Staatsideologie balanciert zwischen Nationalismus und einer Art Multinationalismus.«
Der russische Soziologe Greg Yudin argumentiert, dass Putins Herrschaft als eine Art bonapartistisches Regime betrachtet werden sollte. Dabei handelt es sich im Grunde um ein bürgerliches Regime, in dem ein Führer die Machtbalance zwischen verschiedenen Segmenten der Bourgeoisie aufrechterhält. Er regiert in ihrem Interesse, jedoch eigenständig. Die ökonomische Macht bleibt in den Händen der Bourgeoisie, während die politische Macht bei ihm liegt. Das Regime kann ohne Putin nicht überleben, da es auf persönlichen Allianzen mit all diesen Akteuren beruht. Jede Art von Veränderung, jede Nachfolge würde bedeuten, dass diese Allianzen neu aufgebaut werden müssten, was zu politischen Konflikten führen würde.
Was ist mit der politischen Opposition in Russland? Aus dem, was Du bisher gesagt hast, klingt es so, als ob viele Menschen in Russland, die anti-Putin und anti-imperialistisch sind, auch anti-Lenin eingestellt sind, weil sie ihn mit dem russischen Imperialismus gleichsetzen. Es scheint, als ob sie mit Putins Propaganda-Narrativ von Lenin und Stalin als heldenhaften großrussischen Führern übereinstimmen, aber nur in ihren Schlussfolgerungen abweichen.
Hier würde ich widersprechen. Ich denke, dass Lenin eine sehr problematische Figur für die russische Staatspropaganda ist, weil er einerseits der Gründer des angeblich großen Staates, der UdSSR, ist, aber andererseits, wie Putin in seiner Rede zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sagte, Lenin der »Schöpfer und Architekt« der Ukraine sei. In diesem Sinne ist es wirklich anders als in der Sowjetunion. In der Sowjetunion hätte man Lenin nicht auf diese Weise kritisieren können.
Also hat Stalin Lenins Platz im Kanon eingenommen?
Das kann man so sagen, aber auch Stalin ist keine heilige Figur. Wirklich sakral in Putins Propaganda sind spezifische Ereignisse wie der Große Vaterländische Krieg und der Sieg über die Nazis. Wenn man dagegen etwas sagt oder kritisiert, wie die Sowjets den Krieg führten, ist man erledigt. Vor zehn Jahren führte der größte Oppositionssender, TV Rain, eine Online-Umfrage darüber durch, ob einige sowjetische Aktionen im Zweiten Weltkrieg ungerechtfertigt waren. Daraufhin wurde der Sender aus dem russischen Kabelfernsehnetz ausgeschlossen.
Ein weiterer Grundpfeiler für Putin ist die Einheit Russlands. Natürlich nimmt kein Staat Separatisten wohlwollend auf, aber in Russland ist der Separatismus heute das Gefährlichste. Selbst die bloße Erwähnung, dass die Provinzen mehr Autonomie haben sollten, ist völlig tabu.
Obwohl Russland ja angeblich dieses große antifaschistische Land sei, koexistiert dies gleichzeitig mit besagtem russischem Nationalismus und starker Fremdenfeindlichkeit gegenüber Muslimen und Menschen aus Zentralasien. Besonders Wanderarbeiter sind davon betroffen. Es ist nicht zu vergleichen mit dem, was Migrantinnen und Migranten in europäischen Städten zu ertragen haben – sie werden wie Untermenschen behandelt. In Russland gibt es einen Witz, der besagt, dass wir die Nazis besiegt haben, nur um selbst zu welchen zu werden.
Wir haben über die Bedeutung sowjetischer Symbolik in der russischen Gesellschaft gesprochen, während gleichzeitig die marxistische Ideologie aus den Universitäten entfernt wurde. Aleksandr Dugin, der staatlich geförderte esoterische Faschist und Möchtegern-Mastermind hinter Putin, hat jedoch kürzlich ein eigenes Forschungszentrum an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau erhalten. Wird der Duginismus gewissermaßen den Platz des Marxismus einnehmen?
Dugins Forschungszentrum heißt die »Iwan Iljin Höhere Politische Schule« und wurde im Juli 2023 gegründet. Iwan Iljin ist ein russischer faschistischer Philosoph, den Putin sehr schätzt.
Es gibt die Vorstellung, dass Dugin dieser große Staatsphilosoph sei – der Schöpfer der russischen Staatsideologie, dem Putin zuhört, aber das stimmt einfach nicht. Dugin wird toleriert, weil er pro-russisch ist, aber seine Theorien werden nirgendwo gelehrt. Er genießt eine gewisse Popularität, aber es ist nicht so, dass seine Ideen in Zeitungen veröffentlicht oder weithin zitiert werden. Er ist immer noch eine Randfigur, die sich im Westen als philosophischer Strippenzieher vermarktet. Es ist auch sehr opportunistisch von ihm, das Zentrum nach Iljin zu benennen, Putins Lieblingsphilosoph, was er dann nutzen kann, um mehr Glaubwürdigkeit zu erlangen.
»Dugin ist immer noch eine Randfigur, die sich im Westen als philosophischer Strippenzieher vermarktet.«
Es ist in der Tat bemerkenswert, dass Dugins Zentrum auf massiven Widerstand seitens der Studierendenschaft und einiger Professoren stieß, was ich im Russland des Jahres 2024 nicht erwartet hätte. Der Protest war sehr öffentlich und relativ erfolgreich und führte zum Rücktritt des Rektors der Universität, obwohl Dugins Zentrum bestehen blieb.
Spielt Dugin also keine bedeutende Rolle?
Ich denke, es wäre schwierig für ihn, eine bedeutende Rolle zu spielen. Sein Ruf wuchs, nachdem seine Tochter fälschlicherweise vom ukrainischen Sicherheitsdienst ermordet wurde, der eigentlich ein Attentat auf ihn verüben wollte. Er hat zwar eine Anhängerschaft, aber seine Theorien sind ziemlich obskur und esoterisch. Die russische Staatsideologie ist pragmatisch, sie benötigt keine komplizierten ideologischen Konstrukte. Daher gibt es keine Verwendung für Dugins Theorien in der russischen politischen Maschinerie. Er ist lediglich ein Opportunist, der versucht, mehr Einfluss zu gewinnen.
Alexei Nawalny war bis zu seinem Tod Anfang dieses Jahres eine wichtige Figur der russischen Opposition. Einige Linke kritisieren ihn für seine früheren neoliberalen und sogar ethnonationalistischen Positionen. Wie würdest Du sein Vermächtnis bewerten?
Nawalny sticht unter den liberalen Oppositionellen Russlands hervor. Seine Enthüllungen zeigten, wie Oligarchen und Regierungsbeamte sich auf Kosten des restlichen Landes bereicherten. Trotz seiner Inhaftierung sprach er sich mutig gegen den Krieg aus und wurde durch seinen Tod im Februar dieses Jahres zu einem Märtyrer. Deshalb wird er von politischen Aktivisten meiner Generation, unabhängig von seinen politischen Ansichten, respektiert.
Gegen Ende seines Lebens hat er etwas sehr Wichtiges vollbracht, indem er das liberale Narrativ dekonstruierte, dass die 1990er Jahre eine großartige Zeit waren, in der die Demokratie erreicht wurde, bevor Putin kam und sie zerstörte. Nawalny begann, alle Liberalen aus den 1990er Jahren zu kritisieren, deren radikale Privatisierungspolitik so vielen Menschen alles genommen und sie völlig von der Politik entfremdet hatte. Er zeigte, dass genau diese Liberalen aus den 1990er Jahren, die heute Krokodilstränen über die gestohlene demokratische Revolution Russlands vergießen, die russische Demokratie selbst zerstörten und den Status quo schufen, der Putins Aufstieg überhaupt erst ermöglichte.
Diese Ideen werden derzeit von seinem Team weiterentwickelt, das kürzlich die Serie »Verräter« veröffentlichte – eine historische Serie über den Aufstieg der Oligarchen in den 1990er Jahren. Diese Kritik war für viele junge Menschen ein Augenöffner und half ihnen zu verstehen, wie die Privatisierung der 1990er Jahre die Klasse der Oligarchen schuf, die Chancen auf Demokratie in Russland ruinierte und warum so viele ältere Russen der demokratischen Politik so misstrauisch gegenüberstehen.
Armen Aramyan ist einer der Gründungsredakteure von DOXA, einem bekannten linken Medienportal in Russland, das wegen seiner Opposition zum Krieg in der Ukraine verboten wurde. Derzeit promoviert er an der UCL School of Slavonic and Eastern European Studies (SSEES).