23. Oktober 2024
Heute vor 70 Jahren unterzeichneten Frankreich und Westdeutschland einen Vertrag, der dem Saarland die Existenz als eigenständiger, demokratischer Staat ermöglichen sollte. Doch ein Jahr später wurde die Unabhängigkeit per Volksabstimmung abgelehnt. Das Gegenmodell zur postfaschistischen Bonner Republik fand damit sein Ende.
Vor der Volksabstimmung zum Saarstatut wurde auf Plakaten für und gegen eine Eingliederung des Saarlandes geworben, Saarbrücken, Oktober 1955.
Vor siebzig Jahren unterzeichneten Vertreter der 1949 etablierten Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik ein Abkommen, welches letztendlich den Weg für die Beendigung der Eigenständigkeit des Saarlandes eröffnete. Die kleine Republik an der Saar hatte als bürgerlich-antifaschistischer Staat einen anderen Weg als der Rest Westdeutschlands eingeschlagen. Während in Westdeutschland zahllose ehemalige Nazis nach kurzer Zeit politisch rehabilitiert und in das neue politische Establishment integriert wurden, wurde die Regierung in Saarbrücken hauptsächlich von ehemaligen Résistance-Kämpfern gestellt, also von Juden und Antifaschisten, die im Widerstand aktiv gewesen waren und den Zweiten Weltkrieg in faschistischen Gefängnissen, Zuchthäusern, Konzentrationslagern oder im Exil verbracht hatten. In Bonn hatte das Saarland dementsprechend so gut wie keine Freunde.
Die Geschichte des eigenständigen Saarlands begann schon während des Zweiten Weltkriegs. Bereits von 1920 bis 1935 gab es ein Saarterritorium als Protektorat des Völkerbundes. In diesem Gebiet dominierte politisch die Zentrumspartei, es gab jedoch auch eine relativ starke Sozialdemokratie und kommunistische Partei. Bei der letzten Wahl zum weitgehend machtlosen Regionalrat 1932 wurde die KPD zweitstärkste Kraft – nach dem Zentrum. An diese Geschichte einer separaten Saar wollte die französische Regierung zum Ende des Zweiten Weltkrieges anschließen.
Schon im November 1944 erzählten französische Regierungsvertreter dem damaligen britischen Premier Winston Churchill, dass das Saarland vom Rest Deutschlands abgespalten werden sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte das sogenannte Saargebiet (mit etwas anderen Grenzen als das spätere Saarland) als Mandatsgebiet des Völkerbundes unabhängig von der Weimarer Republik existiert. In der politischen Elite in Paris war man sich zum Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch nicht einig, ob Frankreich das Saarland direkt annektieren sollte oder eher zu einer Reihe von Kleinststaaten hinzufügen würde, die Frankreich politisch und wirtschaftlich dominierte – so wie Monaco und Andorra. Druck aus London und Washington sorgte dann jedoch dafür, dass Paris von einer Annexion abrückte. Kurz darauf begann nach Kriegsende die Geschichte der eigenständigen Saar erneut.
Nach der Zulassung von Parteien etablierten sich im Saarland die konservative Christliche Volkspartei (CVP), die Sozialdemokratische Partei (SPS), die Kommunistische Partei Saar (KPS) und etwas verspätet die liberale Demokratische Partei Saar (DPS). Alle Parteien besaßen ihre eigenen Zeitungen und prägten somit auch das Mediensystem. Die französischen Besatzungsbehörden untersagten den Parteien, Beziehungen zu deutschen Parteien jenseits der Saar zu unterhalten. Abgesehen von dieser Einschränkung florierte das politische Leben des Saarlands. Im März 1947 waren rund 100.000 Saarländerinnen und Saarländer in Gewerkschaften organisiert. Als größte Oppositionspartei nach der CVP zog die SPS sowohl 1947 als auch 1952 in den Landtag. Daneben war auch die kommunistische KPS für die gesamte Zeit der selbstständigen Saar im Parlament vertreten. Der Großteil der KPS-Führung hatte den Faschismus im Gefängnis oder in der französischen Résistance erlebt. Im Jahr der ersten Landtagswahl arbeitete eine vom französischen Militärgouverneur ernannte Kommission eine Verfassung aus, die dann im Dezember 1947 in Kraft trat. Somit begann die kurze Geschichte des Saarlandes als eigenständiger Staat neben der postfaschistischen Geschichtsvergessenheit der Bonner Republik und der sich formierenden Einparteienherrschaft in Ost-Berlin.
Johannes Hoffmann, Gründungsmitglied der CVP und der erste Ministerpräsident des eigenständigen Staates, entwickelte sich zu einer prägenden Figur des Saarlands. In der Weimarer Republik war der im Volksmund »Joho« genannte Politiker Teil des sozialen Flügels der katholischen Zentrumspartei und arbeitete für deren Zentralorgan in Berlin. Hatte er sich zunächst für die Angliederung des Saargebiets an Deutschland eingesetzt, änderte er seine Haltung mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und agitierte dagegen. Letztendlich ohne Erfolg: Anfang 1935 stimmten über 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler für den Anschluss an Nazideutschland.
Zunächst floh Hoffmann nach Luxemburg und später nach Frankreich. Im Exil arbeitete er für mehrere antifaschistische Medien. Als die Wehrmacht 1940 in beiden Ländern einmarschierte, entkam der im saarländischen Schiffweiler geborene katholische Antifaschist über Spanien und Portugal nach Brasilien, wo er die »Freie Deutsche Bewegung« leitete. Nach der Befreiung durch alliierte Truppen kehrte er ins Saarland zurück, wo er die CVP mitgründete und schnell an die Spitze der saarländischen Politik aufstieg.
»Sowohl der Polizeichef als auch der Kultusminister des Saarlandes waren Juden – in der frühen Bundesrepublik undenkbar. Im Gegensatz zu Bonn dominierten nicht vormalige Nazis und Erzreaktionäre die frühen Jahre der Selbstständigkeit.«
Mit Hoffmann am Ruder etablierte die konservative CVP mit der sozialdemokratischen SPS eine große Koalition. Der Unterschied zwischen der ersten saarländischen Regierung und der ersten Adenauer-Regierung der Bonner Republik könnte kaum größer gewesen sein: Von der ersten Regierung in Saarbrücken hatte die Mehrheit der Kabinettsmitglieder den Zweiten Weltkrieg im Exil oder im Zuchthaus verbracht. Justizminister Heinz Braun beispielsweise hatte den Krieg in London verbracht und Arbeitsminister Richard Kirn zuletzt im Zuchthaus in Brandenburg. Sowohl der Polizeichef als auch der Kultusminister des Saarlandes waren Juden – in der frühen Bundesrepublik undenkbar. Im Gegensatz zu Bonn dominierten nicht vormalige Nazis und Erzreaktionäre die frühen Jahre der Selbstständigkeit.
Den größten Schwerpunkt legte die erste saarländische Regierung auf die Bereiche Wirtschaft und Soziales. Im April 1948 vollendete die Regierung an der Saar mit der in Paris die französisch-saarländische Wirtschaftsunion. Die französische Wirtschaftsgesetzgebung wurde kurzerhand auf das Saarland übertragen und der französische Franc bildete die gemeinsame Währung. Als überzeugter Anhänger der katholischen Soziallehre arbeitete Hoffmann kontinuierlich daran, den saarländischen Sozialstaat auszubauen. So hatte die kleine Republik an der Saar eine relativ fortschrittliche Arbeitslosenversicherung, üppige Hinterbliebenenrenten sowie ein allgemeines Rentensystem, welches als soziales Netz für die Älteren in der Gesellschaft diente.
Bei allen Unterschieden zu Bonn gab es auch Gemeinsamkeiten: Sowohl das Saarland als auch die Bundesrepublik genossen anfangs nur eine beschränkte Souveränität und ihre Regierungen mussten schrittweise die Unabhängigkeit ausbauen. So unterzeichneten im Frühjahr 1950 Vertreter aus Paris und Saarbrücken eine Reihe von Konventionen und Abkommen, die dafür sorgten, dass das Verhältnis von einem klassischen Protektorat mehr zu einer Wirtschafts-, Zoll- und Währungsunion wurde. Ähnlich wie die junge Bundesrepublik konnte das Saarland seine Selbstständigkeit immer mehr gegenüber den Besatzungsmächten behaupten.
Die größere Eigenständigkeit von Frankreich ging im Falle des Saarlandes aber nicht mit einer größeren internationalen Anerkennung einher. Zwar hatte das Saarland eine diplomatische Vertretung in Paris, jedoch erkannte kein anderer Staat die kleine Republik an. Lediglich im Fußball der Herren konnte der Saarländische Fußballbund der internationalen Vereinigung FIFA beitreten. Als bedeutendster Sieg der saarländischen Fußballnationalmannschaft kann das 3:2 in Oslo gegen den Gastgeber Norwegen in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1954 in Bern gelten.
Die mangelnde internationale Anerkennung spielte der Bonner Regierung in die Hände. So sprach Bundeskanzler Konrad Adenauer von der CDU stets von der »Rückkehr der Saar zu Deutschland«, womit er selbstverständlich die eigene Bundesrepublik meinte. Der erste Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, der CDU-Politiker Jakob Kaiser, bezeichnete Hoffmann sogar als »Vaterlandsverräter«.
Auch in der damals oppositionellen westdeutschen Sozialdemokratie hatte das eigenständige Saarland keine Freunde: Der SPD-Parteivorsitzende Erich Ollenhauer sagte im Bundestag: »Herr Hoffmann ist der Grotewohl des Saarlandes.« Vergleiche mit der DDR waren dabei nicht unüblich: In den westdeutschen Medien hieß die saarländische Regierung einfach nur das »Hoffmann-Regime«. In Bonn kursierte außerdem die Bezeichnung »kleine Wiedervereinigung« als Begriff für den angedachten Anschluss des Saarlands. Im Januar 1955 kritisierte der SPD-Pressedienst Verhandlungen der Bonner Regierung mit Vertretern des Saarlandes. Wenn die Bundesregierung Gespräche mit der DDR-Regierung ablehne, müsse sie das auch mit der Regierung in Saarbrücken ausschließen.
»Um die politische Bewegung für den Beitritt zur BRD zu befördern, setzte die Adenauer-Regierung sogar den offiziell gar nicht existierenden Auslandsgeheimdienst ein.«
Im Saarland gab es immer wieder Bewegungen für den Beitritt zur Bundesrepublik: Rechte unterwanderten beispielsweise die liberale DPS und wählten 1950 den vormaligen NSDAP-Funktionär Richard Becker zum neuen Parteivorsitzenden. Der französische Inlandsgeheimdienst überwachte die DPS deswegen und die Berichte des polizeilichen Nachrichtendienstes landeten auch bei Hoffmann persönlich auf dem Schreibtisch. Aufgrund der deutschnationalen Ausrichtung der Partei verboten die saarländische Behörden in Absprache mit der französischen Militärverwaltung die DPS im Jahr 1951. Ein Jahr später wurde der Ex-Nazi Becker aus dem Saarland ausgewiesen – bis 1952 eine gängige Praxis der saarländischen Behörden gegen Unabhängigkeitsgegner.
Um die politische Bewegung für den Beitritt zur BRD zu befördern, setzte die Adenauer-Regierung sogar den offiziell gar nicht existierenden Auslandsgeheimdienst ein. Die Organisation Gehlen, die aus der Abteilung Fremde Heere Ost der Wehrmacht hervorgegangen war, unterstand eigentlich dem US-Geheimdienst CIA. Doch nach der Gründung der Bundesrepublik übernahm die Bundesregierung immer mehr die Führung der Organisation. Die Organisation Gehlen entsandte mit Richard Christmann einen sagenumwobenen Agenten an die Saar. Dort spähte er anderthalb Jahre Politiker aus, die sich für die saarländische Unabhängigkeit einsetzten, schulte Untergrundgruppen in Sabotageaktionen und sorgte für die Verbreitung von verbotenem Propagandamaterial, das für den Beitritt in die BRD warb. Nachdem ein Unbekannter sein Auto im August 1955 mit einem Lastwagen rammte, landete Christmann mit einer Gehirnerschütterung, Rippenbrüchen und Verletzungen an der Wirbelsäule im Krankenhaus. Sein Einsatz fand somit ein jähes Ende.
Doch auch ohne weitere Geheimdienstmaßnahmen erlebte die Bewegung für einen BRD-Beitritt im Saarland einen Aufschwung. Nach dem Abkommen über das Saarstatut im Oktober 1954 kam es im Oktober 1955 zu einer Volksabstimmung. In jenem Referendum stimmten über zwei Drittel der Wahlberechtigten gegen das sogenannte Saarstatut, welches ein eigenständiges Saarland als Protektorat des Militärblocks der Westeuropäischen Union vorgesehen hatte. Hoffmann trat daraufhin als Ministerpräsident zurück. In Ostberlin deutete der Ministerrat der DDR die Ablehnung des Saarstatuts als eine Ablehnung der gesamten Pariser Verträge, der Aufrüstung der BRD und dem Beitritt deutscher Gebiete in die NATO. Eine Debatte über eine sogenannte »Wiederbewaffnung« wie in der jungen Bonner Republik gab es nicht, da Frankreich die Verteidigung des Saarlandes vertraglich abgesichert übernahm. Die Haltung der von Saarbrücken weit entfernten Regierung Ostberlins blieb vor Ort aber ohne Konsequenzen.
Innenpolitisch sorgte die Abstimmung über das Saarstatut für ein Erdbeben. Nach dem Rücktritt Hoffmanns vom Posten des Ministerpräsidenten zog der Landtag die nächsten Wahlen vor. Diese gewann dann die erstmals zugelassene Pro-BRD-Partei CDU unter dem katholischen Reaktionären Hubert Ney. Die CVP landete nur noch auf dem dritten Platz und die CDU unter Ney schmiedete eine Dreierkoalition aus den Parteien, die für einen Beitritt zur Bundesrepublik warben.
»Die Bonner und die Pariser Regierungen einigten sich über die Köpfe der Saarländerinnen und Saarländer hinweg auf die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik.«
In Bonn nutzte die Adenauer-Regierung die Gunst der Stunde und forcierte die »kleine Wiedervereinigung«. Im sogenannten Saarvertrag einigten sich die Bonner und die Pariser Regierungen über die Köpfe der Saarländerinnen und Saarländer hinweg auf die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik. Im Dezember 1956 stimmte der Landtag in Saarbrücken dann dementsprechend für den Beitritt nach Artikel 23 des bundesrepublikanischen Grundgesetzes. Am 1. Januar 1957 trat das Saarland der BRD bei und wurde somit deren zehntes Bundesland.
Die CVP schloss sich zunächst der damals links-katholischen Zentrumspartei der BRD an, die bis zur Bundestagswahl im September 1957 noch im Bundestag saß. Diese Union endete aber rasch. Nach dieser kurzen Zweckgemeinschaft verhandelte Hoffmann, der weiter eine prominente Rolle in der CVP spielte, noch eine Annäherung an die CSU. Ab August 1957 saßen die CVP-Abgeordneten dann als CSU im Saarländischen Landtag bevor sich die Partei zwei Jahre später der CDU anschloss. Hoffmann selbst ging in den Ruhestand und schrieb ein Buch, in dem er seine bis ins Jahr 1955 verfolgte Politik rechtfertigte.
Auch wenn das eigenständige Saarland am Ende nur kurz existierte, so zeigt es doch, wie ein bürgerlicher deutscher Staat nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus auch aussehen konnte: Ein politisches System geprägt von vormaligen Exilanten, Résistance-Kämpfern und anderen aufrechten Antifaschisten, ein ausgebauter Sozialstaat und keine Debatte über die Aufstellung einer eigenen Armee. Im post-faschistischen Bonn traf das dementsprechend auf wenig Gegenliebe. Heute ist die Zeit der eigenständigen Saarrepublik weitgehend vergessen.
David X. Noack lehrt Geschichte an der Universität Bremen. Er ist Historiker und Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Osteuropa, Zentralasien und britisches Empire.